Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.235/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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8C_235/2017            

 
 
 
Urteil vom 23. November 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiberin Polla. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Eugen Koller, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Invalidenrente; Rückerstattung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St.
Gallen 
vom 16. Februar 2017 (UV 2015/52). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1964 geborene A.________ erlitt bei einem Autounfall am 9. Dezember 2002
eine offene Trümmerfraktur des Epicondylus medialis humeri und eine
sensomotorische Ulnarisläsion rechts sowie eine Rissquetschwunde an der rechten
Hand mit einer Strecksehnenläsion. Die Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt (Suva) sprach ihm für die Folgen des Unfalls mit
Wirkung ab 1. April 2006 eine 50%ige Invalidenrente zu (Verfügung vom 12. April
2006). Am 16., 20., 21. und 23. August 2013 sowie vom 13. bis 16. Dezember 2013
liess ihn die IV-Stelle des Kantons St. Gallen observieren (Berichte vom 8.
September und 18. Dezember 2013). Nach Kenntnisnahme dieser Ergebnisse und
nachdem sie A.________ daraufhin durch die Kreisärztin Frau Dr. med. pract.
B.________, Fachärztin für Chirurgie FMH, untersuchen hatte lassen (Bericht vom
8. Mai 2014), reduzierte die Suva die Invalidenrente rückwirkend per 1.
September 2013 auf 16 %. Für den Zeitraum vom 1. September 2013 bis 30. Juni
2014 forderte sie zu Unrecht ausgerichtete Leistungen im Umfang von Fr.
16'125.- zurück (Verfügung vom 11. Juni 2014). Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 29. Juli 2015 fest. 
 
B.   
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die dagegen eingereichte
Beschwerde dahingehend gut, dass es den Einspracheentscheid vom 29. Juli 2015
aufhob und die Sache zu weiteren Abklärungen im Sinne der Erwägungen an die
Suva zurückwies (Entscheid vom 16. Februar 2017. 
 
C.   
Die Suva führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. 
Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei. A.________ lässt Beschwerdeabweisung beantragen. In einer
weiteren Eingabe ersucht er um Vereinigung des vorliegenden Verfahrens mit dem
Verfahren 8C_386/2017, das die IV-Stelle gegen A.________ führt. Das Bundesamt
für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich, da das Verfahren
noch nicht abgeschlossen wird und die Rückweisung auch nicht einzig der
Umsetzung des oberinstanzlich Angeordneten dient (vgl. Urteil 9C_684/2007 vom
27. Dezember 2007 E. 1.1 mit Hinweisen in: SVR 2008 IV Nr. 39 S. 131), um einen
- selbstständig eröffneten - Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93
BGG (BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481 f. mit Hinweisen).  
 
1.2. Mit der vorinstanzlichen Ausschliessung der Verwertung des
Observationsmaterials ist die Eintretensvoraussetzung von Art. 93 Abs. 1 lit. a
BGG erfüllt. Denn die Suva wäre damit gezwungen, das von ihr als
entscheidwesentlich angesehene Beweismaterial ausser Acht zu lassen und eine
ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen. Darin liegt ein nicht
wieder gutzumachender Nachteil (Urteil 8C_272/2011 vom 11. November 2011 E. 1,
nicht publ. in: BGE 137 I 327, aber in: SVR 2012 IV Nr. 26 S. 107; Urteil
8C_192/2017 vom 25. August 2017 E. 1.2).  
 
2.  
 
2.1. Mit der beantragten Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids verbindet
sich unmissverständlich der Antrag auf Bestätigung des Einspracheentscheids vom
29. Juli 2015, weshalb das rein reformatorisch gestellte Rechtsbegehren der
Suva (Art. 107 Abs. 2 BGG; BGE 137 II 313 E. 1.3 S. 317), entgegen der Annahme
der Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung, ohne Weiteres zulässig ist.  
 
2.2. Es trifft zwar zu, dass sich hier in Zusammenhang mit der von der
IV-Stelle durchgeführten Observation die gleichen Rechtsfragen stellen wie im
durch die IV-Stelle eingeleiteten Verfahren 8C_386/2017 gegen den
Beschwerdegegner. Da aber die Beschwerdeführerinnen nicht die gleichen sind,
ist von einer Vereinigung der beiden Verfahren abzusehen.  
 
3.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280; vgl. auch BGE 141 V 234 E. 1 S. 236; 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.). 
Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die
vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art.
97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). 
 
4.   
Streitig und zu beurteilen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem
sie die Observation als unzulässig erachtete und die Verwertung des
Observationsmaterials und der sich darauf beziehenden Dokumente verbot. Die
Beschwerdeführerin erachtet sowohl die von der IV-Stelle veranlasste
Observation als auch die Verwertung des Observationsmaterials und sämtlicher
dazu in Bezug stehender Dokumente als zulässig. 
 
4.1. Unter Hinweis auf das EGMR-Urteil vom 18. Oktober 2016 in Sachen
Vukota-Bojic gegen die Schweiz (61838/10) erwog die Vorinstanz, die heimliche
und zielgerichtete Überwachung des Versicherten im öffentlichen und privaten
Raum, die auch Dritte miterfasst habe, sei verfassungs- und gesetzeswidrig. Das
auf dieser Basis beschaffte Datenmaterial sei aus den Akten zu entfernen, da
dessen Verwendung einer neuerlichen Grundrechtsverletzung gleich käme. Dies
gelte auch für sämtliche weitere Akten, die Inhalte des Obersvationsmaterials
einschliessen oder die sich zur Beurteilung hierauf stützen würden. Dies
betreffe etwa den Untersuchungsbericht der Suva-Kreisärztin Frau Dr. med.
B.________ vom 8. Mai 2014. Da die übrige medizinische Aktenlage weder eine
umfassende Würdigung des Gesundheitsverlaufs des Versicherten noch eine
kritische Prüfung von dessen Leidenangaben enthalte, sei die Sache an die
Beschwerdeführerin zwecks weiterer medizinischer Abklärungen zurückzuweisen.  
 
4.2. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) befand in seinem
Urteil vom 18. Oktober 2016 in Sachen Vukota-Bojic gegen die Schweiz (61838/10)
über die EMRK-Konformität einer Observation, die im Auftrag eines (sozialen)
Unfallversicherers durch einen Privatdetektiv erfolgt war. Er erkannte, dass
eine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine Observation nicht bestehe,
weshalb er auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des
Privatlebens) schloss. Hingegen verneinte er eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1
EMRK (Gebot eines fairen Verfahrens) durch die erfolgte Verwendung der
Observationsergebnisse.  
 
4.3. Das Bundesgericht hat unter Berücksichtigung dieser Erwägungen des EGMR
entschieden, dass es trotz Art. 59 Abs. 5 IVG auch im Bereich der
Invalidenversicherung an einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage fehle, die
die Observation umfassend klar und detailliert regle. Folglich verletzen solche
Handlungen, seien sie durch den Unfallversicherer oder durch eine IV-Stelle
veranlasst, Art. 8 EMRK bzw. den einen im Wesentlichen gleichen Gehalt
aufweisenden Art. 13 BV (zur Publikation vorgesehenes Urteil 9C_806/2016 vom
14. Juli 2017 E. 4; seither auch: Urteil 9C_328/2017 vom 9. November 2017).  
 
4.4. Was die Verwendung des im Rahmen einer widerrechtlichen Observation
gewonnenen Materials anbelangt, richtet sich diese allein nach schweizerischem
Recht. Das Bundesgericht erkannte im erwähnten Urteil 9C_806/2016 in E. 5.1.1
im Wesentlichen, die Verwertbarkeit der Observationsergebnisse (und damit auch
der gestützt darauf ergangenen weiteren Beweise) sei grundsätzlich zulässig, es
sei denn, bei einer Abwägung der tangierten öffentlichen und privaten
Interessen würden diese überwiegen. Mit Blick auf die gebotene
Verfahrensfairness präzisierte es sodann in derselben Erwägung, eine gegen Art.
8 EMRK verstossende Videoaufnahme sei verwertbar, solange aus eigenem Antrieb
und ohne äussere Beeinflussung erfolgte Handlungen des Versicherten
aufgezeichnet würden, und ihm keine Falle gestellt worden sei. Von einem
absoluten Verwertungsverbot sei wohl immerhin insoweit auszugehen, als es um
Beweismaterial gehe, das im nicht öffentlich frei einsehbaren Raum
zusammengetragen worden sei (E. 5.1.3; Urteil 8C_192/2017 vom 25. August 2017
E. 5.4.1 mit Hinweisen; zum öffentlich einsehbaren Raum: BGE 137 I 327).  
 
4.5. In Bezug auf die vorzunehmende Interessenabwägung steht fest, dass ein
hinreichender Grund zur Veranlassung der Observation bestand, nachdem konkrete
Hinweise bei der IV-Stelle eingingen, dass der Versicherte nebst seiner 50%igen
Tätigkeit als Lagerist ein Café betreibe Es lagen damit ausgewiesene Zweifel
über die bisher angenommene Leistungsfähigkeit des Versicherten im Umfang von
bloss 50 % vor. Dokumentiert sind (unbeeinflusste) im öffentlichen Raum
aufgenommene Handlungen, wobei unbestritten ist, dass es sich bei der
überwachten Person um den Beschwerdegegner handelt. Er legt nicht substanziiert
dar, inwiefern die Überwachung auch im nicht öffentlich frei einsehbaren Raum
stattgefunden haben soll. Er wurde an acht Tagen über mehrere Stunden bei
alltäglichen Verrichtungen überwacht. Im Wesentlichen wurde beobachtet, wie er
wiederholt einen handgeschalteten Personenwagen fuhr und vier bis sieben
Stunden im Café Gäste bediente, betriebsleitende Arbeiten ausführte, Botengänge
vornahm, Personal instruierte und Bierfässer installierte. Der Beschwerdegegner
war somit weder einer systematischen noch ständigen Überwachung ausgesetzt und
erlitt in dieser Hinsicht einen relativ bescheidenen Eingriff in seine
grundrechtliche Position. Eine schwere Verletzung der Persönlichkeit liegt
daher nicht vor. Stellt man diesen Aspekten das erhebliche und gewichtige
öffentliche Interesse an der Verhinderung des Versicherungsmissbrauchs
entgegen, ergibt sich, dass die vorliegenden Observationsergebnisse (inklusive
Fotodokumentation und Videoaufnahmen) und die diese berücksichtigenden weiteren
Unterlagen, wie die medizinischen Stellungnahmen und Berichte, namentlich der
Bericht der Suva-Kreisärztin Frau Dr. med. pract. B.________ vom 8. Mai 2014,
beweisrechtlich verwertet werden können. Indem die Vorinstanz diese Dokumente
bei der Beweiswürdigung von vornherein unberücksichtigt liess und ihre
Entfernung aus den Akten anordnete, hat sie Bundesrecht verletzt. Die Sache ist
daher an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es auf der Basis einer
unzensierten Aktenlage über die Rechtmässigkeit der Reduktion der
Invalidenrente auf 16 % per 1. September 2013 und die damit einhergehende
Rückforderung bereits ausgerichteter Rentenbetreffnisse im Umfang von Fr.
16'125.- neu entscheide.  
 
5.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Rückweisung der Sache an
das kantonale Gericht oder an den Versicherungsträger zur erneuten Abklärung
(mit noch offenem Ausgang) gilt praxisgemäss für die Frage der Auferlegung der
Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als volles Obsiegen im Sinne
von Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235;
Urteil 8C_715/2016 vom 6. März 2017 E. 6). Die Gerichtskosten werden dem
unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 16. Februar 2017 wird
aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3.   
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 23. November 2017 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Polla 

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