Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.223/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_223/2017

Urteil vom 10. Mai 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Fürsprecher Gerhard Lanz,
Beschwerdeführer,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (Leistungskürzung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 16.
Februar 2017.

Sachverhalt:

A. 
Der 1989 geborene A.________ war seit 1. August 2010 bei der B.________ AG als
Gipser angestellt und dadurch bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (Suva) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs-
und Nichtberufsunfällen versichert. Am 12. September 2010 geriet er mit
C.________ und D.________ in eine vorerst verbale und anschliessend tätliche
Auseinandersetzung. A.________ erlitt dabei eine Commotio/Contusio cerebri mit
Rissquetschwunde occipital und leicht dislozierter Nasenbeinfraktur. Im
weiteren Verlauf kam es zu einem posttraumatischen Syndrom mit permanenten
Kopfschmerzen, Müdigkeit und Geräuschempfindlichkeit. Mit Verfügung vom 10.
August 2015 kürzte die Suva die Geldleistungen um 50 % wegen Beteiligung an
einer Schlägerei, woran sie mit Einspracheentscheid vom 20. November 2015
festhielt.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 16. Februar 2017 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________
die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.
Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2. 
Das Ereignis vom 12. September 2010 ist unstreitig als Nichtberufsunfall zu
qualifizieren und begründet als solcher grundsätzlich einen Anspruch auf
Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung (Art. 6 Abs. 1 und Art. 8
Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 4 ATSG). Streitig und zu prüfen ist, ob die
Vorinstanz die Kürzung der Geldleistungen um die Hälfte zu Recht bestätigt hat.

2.1. Nach Art. 49 Abs. 2 UVV in Verbindung mit Art. 39 UVG werden die
Geldleistungen mindestens um die Hälfte gekürzt für Nichtberufsunfälle, die
sich ereignen u.a. bei: a. Beteiligung an Raufereien und Schlägereien, es sei
denn, der Versicherte sei als Unbeteiligter oder bei Hilfeleistung für einen
Wehrlosen durch die Streitenden verletzt worden; b. Gefahren, denen sich der
Versicherte dadurch aussetzt, dass er andere stark provoziert.

2.2. Der Tatbestand der Beteiligung an Raufereien oder Schlägereien im Sinne
von Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV ist grundsätzlich verschuldens-unabhängig
konzipiert und weiter gefasst als der Straftatbestand der Beteiligung an einem
Raufhandel gemäss Art. 133 StGB. Es genügt, dass das zu sanktionierende
Verhalten objektiv gesehen die Gefahr einschliesst, in Tätlichkeiten
überzugehen oder solche nach sich zu ziehen, und die versicherte Person dies
erkannt hat oder erkennen musste (BGE 134 V 315 E. 4.5.1.2 S. 320; Urteil U 325
/05 vom 5. Januar 2006 E. 1.1 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 132 V 27, aber
in: SVR 2006 UV Nr. 13 S. 45). Der Tatbestand des Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV ist
daher nicht nur bei der Teilnahme an einer eigentlichen tätlichen
Auseinandersetzung gegeben. Es ist auch nicht notwendig, dass der Versicherte
selbst tätlich geworden ist. Unerheblich ist zudem, aus welchen Motiven er sich
beteiligt hat, wer mit einem Wortwechsel oder Tätlichkeiten begonnen hat und
welche Wendung die Ereignisse in der Folge genommen haben. Entscheidend ist
allein, ob die versicherte Person die Gefahr einer tätlichen Auseinandersetzung
erkannt hat oder erkennen musste (SVR 2013 UV Nr. 21 S. 78, 8C_932/2012 E. 2.2
mit Hinweisen). Eine Leistungskürzung nach Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV setzt
sodann voraus, dass zwischen dem als Beteiligung an einer Rauferei oder
Schlägerei zu qualifizierenden Verhalten und dem Unfall ein natürlicher und
adäquater Kausalzusammenhang besteht. Dabei ist auch ein gewisser zeitlicher
Konnex notwendig (SVR 2013 UV Nr. 21 S. 78, 8C_932/2012 E. 2.2 mit Hinweisen).

3.

3.1. Die Vorinstanz erwog im Wesentlichen, gestützt auf die Ausführungen zum
Sachverhalt im Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern vom 4. Dezember 2015
stehe fest, dass dem tätlichen Angriff von C.________ und D.________ auf den
Beschwerdeführer eine verbale Auseinandersetzung vorausgegangen sei. Spätestens
als C.________ beim Parkplatz gefragt habe, wer ihn "agfigget" habe, hätte der
Beschwerdeführer merken müssen, dass es um eine Provokation ging. Es entspreche
der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Reaktionen auf eine solche Provokation in
aller Regel zu einer Eskalation der Situation führten, da es die provozierende
Person geradezu auf Streit abgesehen habe. Wer sich unter diesen Umständen
nicht entferne, sondern sich in eine verbale Auseinandersetzung einlasse bzw.
mit der provozierenden Person einen Streit beginne, der müsse damit rechnen,
dass es in der Folge zu einer tätlichen Auseinandersetzung kommen könnte. Dies
gelte umso mehr, als C.________ eine aggressive Grundstimmung verbreitet habe
und alkoholisiert gewesen sei. Es sei nicht erstellt, dass es dem
Beschwerdeführer nicht möglich gewesen sei, der Konfrontation mit C.________
bzw. der Gruppe, welcher dieser angehörte, aus dem Weg zu gehen.

3.2. Der Beschwerdeführer macht insbesondere geltend, den Akten könnten keine
Aussagen zum konkreten Inhalt der Gespräche entnommen werden. Es sei unklar,
worüber die Beteiligten gestritten bzw. diskutiert hätten, ob in einem
aggressiven Ton gesprochen worden sei und ob irgendwelche drohenden oder
provozierenden Worte gefallen seien. Die Vorinstanz übersehe, dass das
Ignorieren der Frage von C.________ viel eher als Provokation angesehen worden
wäre. Es könne sehr provozierend sein, auf eine derartige Frage überhaupt nicht
zu reagieren. Da die weitere Entwicklung des Gesprächs zwischen C.________ und
ihm nicht ansatzweise habe rekonstruiert werden können, könne nicht einfach
davon ausgegangen werden, er hätte sich in ein gefährliches Streitgespräch
eingelassen. Die Vorinstanz stelle zutreffend fest, dass C.________ geradezu
auf Streit aus gewesen sei. Die von den Strafverfolgungsbehörden festgestellte
Gewaltbereitschaft von C.________ belege, dass eine tätliche Auseinandersetzung
unausweichlich gewesen sei. Nichts spreche dafür, dass dieser von ihm
abgelassen hätte, wenn er sich gleich zu Beginn umgedreht hätte, um in den Wald
zurückzugehen.

3.3. Die Vorinstanz stützte ihre sachverhaltlichen Feststellungen zum
Geschehensablauf auf den Entscheid der 2. Strafkammer des Obergerichts des
Kantons Bern vom 4. Dezember 2015, was vom Beschwerdeführer nicht beanstandet
wird. Danach steht fest, dass dem tätlichen Angriff von C.________ und
D.________ auf den Beschwerdeführer eine verbale Auseinandersetzung vorausging.
Dies ergibt sich auch aus dessen eigenen Angaben in der Schadensmeldung sowie
aus den im Polizeirapport vom 9. September 2011 festgehaltenen Aussagen der
befragten Auskunftspersonen. Aus dem erwähnten Strafentscheid ergibt sich
zudem, dass C.________ unter Alkoholeinfluss stand und aggressiv war. Unter den
gegebenen Umständen durfte sich der Versicherte auf die Frage von C.________,
wer ihn "agfigget" habe, nicht auf eine verbale Auseinandersetzung mit diesem
und D.________ einlassen. Der Beschwerdeführer musste erkennen, dass sein
Einlassen auf die verbale Auseinandersetzung objektiv gesehen die Gefahr
einschloss, in Tätlichkeiten überzugehen. Dies gilt umso mehr, als es gemäss
Aussagen von E.________ (einer der beiden Begleiter des Versicherten) bereits
zuvor auf dem Weg zum Fahrzeug zwischen C.________ und dem Versicherten zu
einem Wortgefecht gekommen sei, wobei sich Letzterer wortstark geäussert habe.
Entgegen der Auffassung des Versicherten ist allgemein bekannt, dass auch eine
relativ banale verbale Auseinandersetzung schnell in Tätlichkeiten münden kann.
Im Übrigen kann dazu auf die zutreffenden vorinstanzlichen Ausführungen
verwiesen werden.

3.4. Die Vorbringen des Beschwerdeführers vermögen daran nichts zu ändern.
Entgegen den Ausführungen des Versicherten ist irrelevant, worüber er mit
C.________ und D.________ stritt bzw. diskutierte und ob dabei drohende oder
provozierende Worte fielen. Massgebend ist, dass der tätlichen eine verbale
Auseinandersetzung vorausging, an welcher sich der Versicherte beteiligte.
Unbegründet erweist sich auch die Rüge des Beschwerdeführers, wonach die
Vorinstanz aus den Aussagen von E.________ geschlossen habe, dass er ein
Schlägertyp sei und die Gefahr gesucht habe. Die Vorinstanz gelangte aufgrund
der betreffenden Aussagen lediglich zum Schluss, dass E.________ etwas abseits
stand, weil er mit der Gefahr einer Eskalation der Auseinandersetzung rechnete,
was auch der Beschwerdeführer hätte merken müssen.
Ob der Angriff durch C.________ auch erfolgt wäre, wenn der Versicherte sich
nicht auf eine verbale Auseinandersetzung mit diesem und mit D.________
eingelassen hätte, lässt sich nachträglich nicht feststellen. Jedenfalls ist
nicht erstellt und wird vom Beschwerdeführer auch nicht geltend gemacht, dass
es ihm in keiner Art und Weise möglich gewesen wäre, der Auseinandersetzung aus
dem Weg zu gehen. Insbesondere wurde er nicht von der gegnerischen Gruppe
umzingelt. Zudem war es seinen beiden Begleitern ohne Weiteres möglich, sich zu
entfernen und der Konfrontation zu entziehen. Mit der Vorinstanz ist daher dem
Versicherten vorzuwerfen, sich auf eine verbale Auseinandersetzung eingelassen
zu haben, die das Risiko in sich barg, in Tätlichkeiten auszuarten.

3.5. Der Beschwerdeführer kann entgegen seiner Auffassung aus dem Urteil U 336/
05 nichts zu seinen Gunsten ableiten. In jenem Fall waren der Versicherte und
sein Begleiter im Begriff, mit dem Fahrzeug wegzufahren, als sie von zwei
Fussgängern grundlos zum Anhalten veranlasst und an der Wegfahrt gehindert
wurden, indem sich einer der beiden auf die Motorhaube legte und der andere die
Türe der Beifahrerseite öffnete. Es wurde argumentiert, es sei eine natürliche
und legitime Reaktion gewesen, dass der Fahrer und Beifahrer ausgestiegen
seien, zumal die Aufforderung des Fahrers, von der Motorhaube zu steigen, nicht
befolgt worden sei. Ein Wegfahren mit der Person auf der Motorhaube und mit
offener Beifahrertüre wäre nicht möglich gewesen. Dem Versicherten und dem
Fahrzeugfahrer könne kein unerzwungenes Verhalten vorgeworfen werden, welches
das Risiko eines Raufhandels in sich geborgen habe (vgl. Urteil U 336/05 vom
17. August 2006 E. 2.1 und 2.2). Demgegenüber wäre es dem Beschwerdeführer wie
dargelegt möglich gewesen, sich von der gegnerischen Gruppe zu entfernen und
der Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen.

3.6. Schliesslich rügt der Versicherte, dass es an der adäquaten Kausalität
fehle. Selbst wenn er hätte merken müssen, dass eine tätliche
Auseinandersetzung drohe, sei ausser Frage gestanden, dass eine derart massive
Körperverletzung (wuchtiger Schlag mit einem Baseballschläger auf den Kopf)
bevorgestanden habe. Tätliche Auseinandersetzungen zwischen jungen Erwachsenen
endeten in aller Regel mit relativ harmlosen Verletzungen, die keine lange
Arbeitsunfähigkeit zur Folge hätten.
Dem ist entgegenzuhalten, dass die Handlungsweise von C.________ bei all seiner
Verwerflichkeit nicht als derart aussergewöhnlich oder ausserhalb der
allgemeinen Lebenserfahrung zu betrachten ist, als dass mit einer
entsprechenden Reaktion objektiv nicht zu rechnen war. Im Gegenteil kommt es
nicht selten vor, dass bei tätlichen Auseinandersetzungen (gefährliche)
Gegenstände wie Holzstöcke oder Messer zum Einsatz kommen, die dementsprechend
auch zu schweren Verletzungen führen können. Der Einsatz solcher Gegenstände
schliesst daher nicht aus, den adäquaten Kausalzusammenhang zur Beteiligung an
einer Rauferei oder Schlägerei zu bejahen (Urteil 8C_579/2010 vom 10. März 2011
E. 5.2.3 mit Bezug auf den Einsatz eines Messers mit Hinweis auf RKUV 2005 Nr.
U 553 S. 311, U 360/04 Sachverhalt A und E. 2; SVR 1995 UV Nr. 29 S. 85, U 106/
92 E. 3 und 6).

3.7. Demnach ist es nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz das Verhalten des
Beschwerdeführers als Beteiligung an einer Schlägerei im Sinne von Art. 49 Abs.
2 lit. a UVV qualifiziert und die Voraussetzungen für eine Kürzung der
Geldleistungen bejaht hat. Die Beschwerde ist daher abzuweisen.

4. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten dem
unterliegenden Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 10. Mai 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Durizzo

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