Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.192/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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8C_192/2017            

 
 
 
Urteil vom 25. August 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine, 
Gerichtsschreiberin Schüpfer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle Luzern, 
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Näpflin, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Luzern 
vom 30. Januar 2017. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1967 geborene A.________ erlitt im Zeitraum vom April 1998 bis Februar 2001
insgesamt drei Autounfälle. Er meldete sich am 30. August 2001 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Beizug der Akten der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva), darunter ein psychiatrisches
Gutachten des Dr. med. dipl. psych. B.________, Leitender Arzt des
forensisch-psychiatrischen Dienstes, vom 29. Dezember 2004, sprach ihm die
IV-Stelle Luzern mit Verfügung vom 22. Februar 2006 rückwirkend ab dem 1.
Februar 2002 eine ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 %
zu. 
Im Dezember 2012 leitete die IV-Stelle ein ordentliches Revisionsverfahren ein.
In dessen Verlaufe orientierte die für die berufliche Vorsorge zuständige
Personalvorsorgestiftung der ehemaligen Arbeitgeberin des Versicherten, die
Personalvorsorgestiftung C.________, die IV-Stelle, sie habe A.________
observieren lassen. Die Verwaltung traf in der Folge weitere Abklärungen,
insbesondere liess sie den Versicherten durch die Medizinische Abklärungsstelle
Bern (MEDAS) polydisziplinär begutachten (Expertise vom 11. August 2014). Nach
Vorbescheid vom 4. Dezember 2014 hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 2. März
2015 den Rentenanspruch mittels prozessualer Revision rückwirkend per 22.
Februar 2006 auf. Mit einer weiteren Verfügung vom 1. April 2015 forderte sie
zu Unrecht bezogene Rentenleistungen für die Zeit vom Februar 2013 bis März
2015 im Betrage von Fr. 59'414.- zurück. 
 
B.   
Mit Entscheid vom 30. Januar 2017 hiess das Kantonsgericht Luzern eine gegen
die Verfügung vom 2. März 2015 gerichtete Beschwerde in dem Sinne gut, als es
die Sache zu weiteren Abklärungen gemäss den Erwägungen und neuer Verfügung an
die IV-Stelle zurückwies. 
 
C.   
Die IV-Stelle Luzern führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
und stellt den Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die
Verfügung vom 2. März 2015 zu bestätigen. 
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen und um die
unentgeltliche Rechtspflege im letztinstanzlichen Verfahren ersuchen. Das
Kantonsgericht Luzern verzichtet auf eine Vernehmlassung, während das Bundesamt
für Sozialversicherungen (BSV) um deren Gutheissung ersucht. Am 14. Juli 2017
hat A.________ dazu Stellung genommen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren)
Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (BGE 139 V
42 E. 1 S. 44 mit Hinweisen). 
 
1.1. Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen Endentscheide, das
heisst gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), und
gegen Teilentscheide, die nur einen Teil der gestellten Begehren behandeln,
wenn diese unabhängig von den anderen beurteilt werden können, oder die das
Verfahren nur für einen Teil der Streitgenossen und Streitgenossinnen
abschliessen (Art. 91 BGG). Gegen selbstständig eröffnete Vor- und
Zwischenentscheide ist hingegen die Beschwerde nur zulässig, wenn sie die
Zuständigkeit oder den Ausstand betreffen (Art. 92 BGG), einen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil bewirken können (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) oder wenn
die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG). Ist die Beschwerde
nicht zulässig oder wurde von ihr kein Gebrauch gemacht, bleibt ein
Zwischenentscheid im Rahmen einer Beschwerde gegen den Endentscheid anfechtbar,
sofern er sich auf dessen Inhalt auswirkt (Art. 93 Abs. 3 BGG).
Rückweisungsentscheide, mit denen eine Sache zur neuen Entscheidung an die
Vorinstanz zurückgewiesen wird, sind grundsätzlich Zwischenentscheide, die nur
unter den genannten Voraussetzungen beim Bundesgericht angefochten werden
können (BGE 140 V 282 E. 2 S. 283 mit Hinweisen).  
 
1.2. Grundsätzlich ist nur das Dispositiv, nicht aber die Begründung eines
Entscheides anfechtbar. Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheides weist
die Sache an die Beschwerde führende IV-Stelle zurück, damit sie nach weiteren
Abklärungen gemäss den Erwägungen neu verfüge. Mit diesem Verweis bezieht sich
der Entscheid auch auf die in den Erwägungen angeordnete Entfernung der
Observationsergebnisse aus den Akten. Das kantonale Gericht erachtete diese
ebenso wie das in der Folge erstellte Gutachten der MEDAS vom 11. August 2014
(sowie alle weiteren Akten, die einen Bezug zur Observation oder zu den darin
enthaltenen Daten haben) als unrechtmässig erlangtes Beweismaterial. Da die
verbleibende Aktenlage Anhaltspunkte für eine mögliche Verbesserung des
Gesundheitszustandes des (damaligen) Beschwerdeführers enthalte, welche aber
für eine abschliessende Beurteilung ungenügend sei, habe eine weitere
polydisziplinäre Begutachtung - ohne die aus den Akten zu entfernenden Daten -
stattzufinden.  
Mit der vorinstanzlichen Ausschliessung der Verwertung des
Observationsmaterials ist die Eintretensvoraussetzung von Art. 93 Abs. 1 lit. a
BGG erfüllt, denn die IV-Stelle wäre damit gezwungen, das von ihr als
entscheidwesentlich angesehene Beweismaterial ausser Acht zu lassen und damit
eine ihres Erachtens rechtswidrige Verfügung zu erlassen. Darin liegt ein nicht
wieder gutzumachender Nachteil (Urteile 8C_69/2017 vom 18. August 2017 E. 1,
8C_272/2011 vom 11. November 2011 E. 1, nicht publ. in: BGE 137 I 327, aber in:
SVR 2012 IV Nr. 26 S. 107). 
 
2.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung
des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist
oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die
Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (
Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann
die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
3.   
Streitig ist vorerst, ob die vom kantonalen Gericht angeordnete Rückweisung zur
weiteren Abklärung mit der Auflage, die Observationsberichte, das dazugehörige
Bildmaterial und die danach erfolgten medizinischen Berichte und Abklärungen
aus den Akten zu entfernen, vor Bundesrecht standhält. In diesem Zusammenhang
stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse der Observation des Beschwerdegegners
sowie das danach in Kenntnis davon erstellte MEDAS-Gutachten verwertbar sind. 
 
4.   
Die Vorinstanz hat die für die Beurteilung des Rentenanspruchs massgeblichen
Bestimmungen und Grundsätze zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen. 
 
5.  
 
5.1. Die Rentenaufhebung basiert hauptsächlich auf dem polydisziplinären
Gutachten der MEDAS vom 11. August 2014. Das kantonale Gericht erkannte, die
MEDAS habe sich anlässlich der Begutachtung auch eingehend mit den Ergebnissen
der von der Personalvorsorgestiftung C.________ durchgeführten Observation
auseinandergesetzt, sodass diese insbesondere in die abschliessende
psychiatrische Beurteilung eingeflossen sei. Die Observation sei unzulässig
gewesen, weshalb die entsprechende Dokumentation aus dem Recht zu weisen sei.
Es beruft sich dabei auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR; dritte Kammer) vom 18. Oktober 2016 in Sachen
Vukota-Bojic gegen die Schweiz (61838/10).  
 
5.2. Darin befand der EGMR über die EMRK-Konformität einer Observation, die im
Auftrag eines (sozialen) Unfallversicherers durch einen Privatdetektiv erfolgt
war. Er erkannte, dass mit Art. 28 und Art. 43 ATSG sowie mit Art. 96 UVG,
trotz des durch Art. 28 ZGB und Art. 179quater StGB vermittelten Schutzes von
Persönlichkeit und Privatbereich, eine ausreichende gesetzliche Grundlage für
eine Observation nicht besteht, weshalb er auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK
(Recht auf Achtung des Privatlebens) schloss (Rz. 72 ff. des EGMR-Urteils 61838
/10 vom 18. Oktober 2016). Hingegen verneinte er eine Verletzung von Art. 6
Ziff. 1 EMRK (Gebot eines fairen Verfahrens) durch die erfolgte Verwendung der
Observationsergebnisse. Dafür war ausschlaggebend, dass bei der Beurteilung des
Leistungsanspruchs im Rahmen des streitigen sozialversicherungsrechtlichen
Verfahrens nicht allein auf sie abgestellt wurde und seitens der versicherten
Person Einwände möglich waren, namentlich gegen ihre Echtheit und Verwendung
sowie bezüglich der Beweiseignung und -qualität. Als bedeutsam galten zudem die
Umstände, unter denen der Beweis gewonnen wurde und welchen Einfluss dieser auf
den Verfahrensausgang hatte (Rz. 91 ff. des EGMR-Urteils 61838/10 vom 18.
Oktober 2016).  
 
5.3. Das Bundesgericht seinerseits hat nunmehr unter Berücksichtigung der
betreffenden Erwägungen des EGMR entschieden, dass es trotz Art. 59 Abs. 5 IVG
("Zur Bekämpfung des ungerechtfertigten Leistungsbezugs können die IV-Stellen
Spezialisten beiziehen") auch im Bereich der Invalidenversicherung an einer
ausreichenden gesetzlichen Grundlage fehlt, die die Observation umfassend klar
und detailliert regelt. Folglich verletzen solche Handlungen, seien sie durch
den Unfallversicherer oder durch eine IV-Stelle veranlasst, Art. 8 EMRK bzw.
den einen im Wesentlichen gleichen Gehalt aufweisenden Art. 13 BV. Insofern
kann insbesondere auch an BGE 137 I 327 nicht weiter festgehalten werden (vgl.
zum Ganzen: Urteil 9C_806/2016 vom 14. Juli 2017, zur Publikation vorgesehen).
 
 
5.4. Vorliegend hat die Personalvorsorgestiftung C.________ als Organ der
beruflichen Vorsorge die Observation in Auftrag gegeben und die darauf
beruhenden Berichte und Bilddokumentationen in der Folge der IV-Stelle zur
Verfügung gestellt. Ob das in Erwägung 5.3 Dargelegte auch bezüglich der
Verwendung von Observationsmaterial gilt, welches von interessierten Dritten -
wie beispielsweise Pensionskassen oder Haftpflichtversicherungen - beschafft
wurde, kann hier indessen offengelassen werden. Wie nachfolgend ausgeführt, ist
auch bei einer rechtswidrig durchgeführten Observation nicht zwingend auf eine
gänzliche Unverwertbarkeit der unmittelbaren Observationsergebnisse und der
darauf gründenden Beweise zu schliessen.  
 
5.4.1. Was die Verwendung des im Rahmen einer widerrechtlichen Observation
gewonnenen Materials anbelangt, richtet sich diese allein nach schweizerischem
Recht. Der EGMR prüft dabei nur, ob ein Verfahren insgesamt fair im Sinne von 
Art. 6 Abs. 1 EMRK gewesen ist. In diesem Zusammenhang hat das Bundesgericht im
Urteil 9C_806/2016 im Wesentlichen erkannt, dass die Verwertbarkeit der
Observationsergebnisse (und damit auch der gestützt darauf ergangenen weiteren
Beweise) grundsätzlich zulässig ist, es sei denn, bei einer Abwägung der
tangierten öffentlichen und privaten Interessen würden diese überwiegen (vgl.
E. 5.1.1 des Urteils 9C_806/2016). Mit Blick auf die gebotene
Verfahrensfairness hat es sodann in derselben Erwägung eine weitere
Präzisierung angebracht: Unter Hinweis auf das Urteil 8C_239/2008 vom 17.
Dezember 2009 E. 6.4.2 Abs. 2 und die darin enthaltene Anlehnung an die
strafprozessuale Rechtsprechung (vgl. BGE 131 I 272 E. 4.2 S. 279) hat es daran
erinnert, dass eine gegen Art. 8 EMRK verstossende Videoaufnahme verwertbar
ist, solange Handlungen des "Beschuldigten" aufgezeichnet werden, die er aus
eigenem Antrieb und ohne äussere Beeinflussung machte, und ihm keine Falle
gestellt worden war. Ferner hat es erwogen, dass von einem absoluten
Verwertungsverbot wohl immerhin insoweit auszugehen ist, als es um
Beweismaterial geht, das im nicht öffentlich frei einsehbaren Raum
zusammengetragen wurde, was im konkreten Fall jedoch nicht zu beurteilen war
(vgl. E. 5.1.3 des Urteils 9C_806/2016 mit Hinweis auf Urteil 8C_830/2011 vom
9. März 2012 E. 6.4).  
 
5.4.2. Bei seinem Entscheid, die Verwertbarkeit des rechtswidrig erlangten
Observationsmaterials hauptsächlich von einer Interessenabwägung zwischen
privaten und öffentlichen Interessen abhängen zu lassen, war für das
Bundesgericht nebst anderem die Annahme ausschlaggebend, dass das Manko
hinsichtlich einer in allen Belangen genügenden gesetzlichen Grundlage rasch
behoben werden soll (vgl. E. 5.1.1 des Urteils 9C_806/2016 mit Hinweis auf den
erläuternden Bericht des BSV vom 22. Februar 2017 zur Eröffnung des
Vernehmlassungsverfahrens über die Revision des ATSG, S. 5 f. unten). In
rechtlicher Hinsicht hat es zudem auf Art. 152 Abs. 2 der am 1. Januar 2011 in
Kraft getretenen schweizerischen Zivilprozessordnung verwiesen (vgl. dazu BGE
140 III 6 E. 3.1 S. 8 f. mit Hinweisen), mit der nebst dem Strafprozessrecht
ein weiterer Teil des Verfahrensrechts aktualisiert wurde.  
Die so für den Bereich des sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahrens
gewonnene Lösung mit einer Abwägung der infrage stehenden Interessen entspricht
inhaltlich dem Konzept, das der Gesetzgeber für den Bereich des Zivilrechts
gemäss Art. 28 Abs. 2 ZGB verfolgt. Es verträgt sich zudem mit Stimmen im
öffentlich-rechtlichen Schrifttum, die in diesem Zusammenhang - nebst der
Interessenabwägung - folgerichtig auch die Unverletzlichkeit des Kerngehalts
der Grundrechte vorbehalten (vgl. KÖLZ/HÄNER/BERTSCHI, Verwaltungsverfahren und
Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 3. Aufl. 2013, S. 169 Rz. 481). 
 
5.4.3. In diesem Lichte ist zur Verwertbarkeit für den vorliegenden Fall
Folgendes zu erwägen:  
 
5.4.3.1. Auch der Beschwerdegegner geht davon aus, dass er anlässlich der
Observationen nicht in seinen Handlungen beeinflusst wurde und somit kein Fall
einer absoluten Unverwertbarkeit der rechtswidrigen Observationsergebnisse
vorliegt.  
 
5.4.3.2. Die Observation wurde von der leistungserbringenden
Personalvorsorgestiftung in Auftrag gegeben, nachdem sie erfahren hatte, dass
eine Organisation mit dem Namen D.________ mit dem Hinweis auf die
Telefonnummer ihres Versicherten öffentliche Anlässe organisiert. Damit
bestanden ausgewiesene Zweifel über die Leistungs (un) fähigkeit des
Versicherten. Während der ersten Ermittlungsphase vom 2. Februar bis 23. März
2013 wurde der Beschwerdegegner nur ein einziges Mal angetroffen, am 23. März,
im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung des Serbischen Vereins. Auch während
der zweiten Ermittlungsphase im Juli/August 2013 wurde an drei Tagen lediglich
überprüft, ob er sich in seinem Domizil oder für kürzere oder längere Zeit
ausser Haus aufhält. Lediglich an einem Tag wurde er ausser Haus beobachtet.
Der Beschwerdegegner war somit weder einer systematischen noch ständigen
Überwachung ausgesetzt. Die Überwachung erfolgte zwar gezielt und nicht bloss
zufällig, dafür aber weder andauernd noch systematisch über einen längeren
Zeitraum hinweg. Damit und vor allem mit Blick auf die aufgezeichneten (sehr)
alltäglichen Verrichtungen und Handlungen kann insgesamt bei bloss
geringfügiger Tangierung der Privatsphäre, jedenfalls nicht von einer schweren
Verletzung der Persönlichkeit ausgegangen werden (vgl. BGE 137 I 327 E. 5.6 S.
334). Das gilt auch bezüglich der Beobachtung bei der Veranstaltung des
Serbischen Vereins. Da hiezu - nach Bezahlung eines Eintrittsgeldes - jedermann
Zutritt hatte, ist die Vereinsveranstaltung als öffentlicher Raum zu
qualifizieren. Das gilt auch bezüglich der durchgeführten Internetrecherche.
Insbesondere kann die Auswertung von öffentlich zugänglichen Einträgen in
"facebook" nicht als Verletzung der Privatsphäre qualifiziert werden.  
 
5.4.3.3. Dem gegenüberzustellen gilt es das Interesse des Versicherungsträgers
und der Versichertengemeinschaft, unrechtmässige Leistungsbezüge abzuwenden.
Dieses ist unter den hier gegebenen Umständen höher zu gewichten als das
Interesse des Beschwerdegegners an einer unbehelligten Privatsphäre (vgl. BGE
137 I 327 E. 5.6 S. 335). Damit können im vorliegenden Fall die ohne
ausreichende gesetzliche Grundlage erhobenen Observationsergebnisse in Form des
entsprechenden Berichts sowie der Foto- und Videoaufnahmen verwertet werden,
zumal der Kerngehalt von Art. 13 BV bei der hier gegebenen Überwachung und der
damit verbundenen geringen Eingriffsschwere ebenfalls unangetastet blieb (vgl.
BGE 137 I 327 E. 5.6 S. 335).  
 
5.4.3.4. Damit ist auch das MEDAS-Gutachten vom 11. August 2014 verwertbar.  
 
6.   
Mit Verfügung vom 2. März 2015 hob die IV-Stelle die Rente des Versicherten im
Rahmen einer prozessualen Revision nach Art. 53 Abs. 1 ATSG auf. 
 
6.1.  
 
6.1.1. Gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG müssen formell rechtskräftige Verfügungen und
Einspracheentscheide in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person
oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen
entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war
(vgl. SVR 2010 IV Nr. 55 S. 169, 9C_764/2009 E. 3.1 mit Hinweisen). Solche neue
Tatsachen oder Beweismittel sind innert 90 Tagen nach deren Entdeckung geltend
zu machen; zudem gilt eine absolute zehnjährige Frist, die mit der Eröffnung
der Verfügung zu laufen beginnt (Art. 67 Abs. 1 VwVG in Verbindung mit Art. 55
Abs. 1 ATSG; Urteil 8C_434/2011 vom 8. Dezember 2011 E. 3 mit Hinweisen; UELI
KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Rz. 38 ff. zu Art. 53 ATSG).  
 
6.1.2. Ergeben sich aus den neu entdeckten Tatsachen und Beweismitteln
(lediglich) gewichtige Indizien für das Vorliegen eines prozessualen
Revisionsgrundes, sind innert angemessener Frist zusätzliche Abklärungen
vorzunehmen, um diesbezüglich hinreichende Sicherheit zu erhalten. In solchen
Fällen beginnt die relative 90-tägige Revisionsfrist erst zu laufen, wenn die
Unterlagen die Prüfung der Erheblichkeit des geltend gemachten Revisionsgrundes
erlauben oder bei Säumnis in dem Zeitpunkt, in welchem der Versicherungsträger
den unvollständigen Sachverhalt mit dem erforderlichen und zumutbaren Einsatz
hätte hinreichend ergänzen können. Ein Observationsbericht bildet für sich
allein keine sichere Basis für Sachverhaltsfeststellungen betreffend den
Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person. Er kann
diesbezüglich höchstens Anhaltspunkte liefern oder Anlass zu Vermutungen geben.
Sichere Kenntnis des Sachverhalts kann in dieser Hinsicht erst die ärztliche
Beurteilung des Observationsmaterials liefern (vgl. BGE 137 I 327 E. 7.1 S. 337
mit Hinweisen). Die relative 90-tägige Revisionsfrist beginnt somit
grundsätzlich zu laufen, wenn diese ärztliche Beurteilung vorliegt (SVR 2012 UV
17 S. 63, 8C_434/2011 vom 8. Dezember 2011 E. 4.2).  
 
6.2. Die Vorinstanz stellte fest, aufgrund des Schreibens der
Personalvorsorgestiftung C.________ vom 3. Oktober 2013 habe die Beschwerde
führende IV-Stelle Kenntnis von der Observation und damit von möglichen neuen
Tatsachen im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG erhalten. In der Folge habe sie
weitere Abklärungen, insbesondere den Auftrag für eine polydisziplinäre
Begutachtung an die Hand genommen. Mit Vorliegen des MEDAS-Gutachtens vom 11.
August 2014 (Posteingang: 13. August 2014), spätestens aber mit der internen
Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes RAD vom 19. August 2014 sei der
medizinische Sachverhalt geklärt gewesen. Ab diesem Zeitpunkt habe die relative
Revisionsfrist von 90 Tagen im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG zu laufen
begonnen. Der Vorbescheid vom 4. Dezember 2014 sei damit verspätet erfolgt,
weshalb eine prozessuale Revision nicht mehr möglich war.  
 
6.3. Was die IV-Stelle dagegen vorbringt vermag nicht zu überzeugen. Entgegen
deren Darstellung in der Beschwerde ergibt sich auch nichts Gegenteiliges aus
dem von der Beschwerdeführerin zitierten Urteil 9C_896/2011 vom 31. Januar
2012. In jenem Fall nahmen der Rechtsdienst und der ärztliche Dienst der
IV-Stelle abschliessend am 13. August 2009 Stellung, worauf die Verwaltung am
25. September 2009 - und mithin innert 90 Tagen - den Vorbescheid erliess (vgl.
E. 4.3 des genannten Urteils). Wie dargelegt, beginnt die 90-tägige gesetzliche
Frist sobald der (medizinische) Sachverhalt feststeht. Vorliegend erging die
abschliessende medizinische Beurteilung durch den RAD am 19. August 2014. Damit
verblieb für die interne juristische Meinungsbildung noch die gesetzliche
Frist. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Verwaltung - im Gegensatz zu den
Versicherten - nach Entdeckung neuer Tatsachen und den damit eventuell
notwendigen innert angemessener Frist durchzuführenden weiteren
Sachverhaltsabklärungen noch eine über den gesetzlichen Rahmen von immerhin 90
Tagen hinaus wirkende "Zusatzfrist" zur Meinungsbildung zuzubilligen sein soll.
Wie das kantonale Gericht zu Recht feststellte, erfolgte die geltend gemachte
prozessuale Revision mit Vorbescheid vom 4. Dezember 2014 verspätet.  
 
7.   
Es bleibt zu prüfen, ob die Aufhebung der Rente allenfalls mit der subsidiären
Begründung einer Anpassung (Revision) nach Art. 17 ATSG zu schützen ist. 
 
7.1. Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines
Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin
für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs.
1 ATSG; vgl. auch Art. 87 Abs. 2 und 3, Art. 88a und Art. 88bis IVV). Anlass
zur Revision von Invalidenrenten gibt jede Änderung in den tatsächlichen
Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den
Rentenanspruch zu beeinflussen. Die Invalidenrente ist daher nicht nur bei
einer wesentlichen Veränderung des Gesundheitszustandes, sondern auch dann etwa
revidierbar, wenn sich die erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich
gebliebenen Gesundheitszustandes erheblich verändert haben oder eine andere Art
der Bemessung der Invalidität zur Anwendung gelangt (BGE 130 V 343 E. 3.5 S.
349). Als Vergleichsbasis für die Beurteilung der Frage, ob bis zum Abschluss
des aktuellen Verwaltungsverfahrens eine anspruchserhebliche Änderung des
Invaliditätsgrades eingetreten ist, dient die letzte rechtskräftige Verfügung,
welche auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit rechtskonformer
Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Durchführung eines
Einkommensvergleichs beruht (BGE 133 V 108; vgl. auch SVR 2010 IV Nr. 54 S. 167
E. 2.1, 9C_899/2009).  
 
7.2. Nach Feststellungen des kantonalen Gerichts bildet die Verfügung vom 19.
Dezember 2005 (recte vom 22. Januar 2006) den relevanten Vergleichszeitpunkt.
Diese stützte sich auf die medizinische Beurteilung des Dr. med. B.________ vom
29. Dezember 2004. Der Arzt stellte die Diagnosen einer andauernden
Persönlichkeitsveränderung, die nicht als Folge einer Schädigung oder Krankheit
des Gehirns entstanden sei. Psychopathologisch entspreche die Symptomaitk einem
chronifizierten, mindestens mittelgradig ausgeprägten depressiven Syndrom mit
Somatisierungstendenz und rezidivierenden ängstlich-agitierten Zuständen,
vegetativen (Schlafstörungen) und kognitiven Beeinträchtigungen
(Vergesslichkeit, Aufmerksamkeitsstörung), Antriebsminderung, Schuldgefühlen
und formalgedanklichen Störungen (Grübelzwang, Einengung, Verlangsamung). Die
Verfügung vom 2. März 2015 beruhte hauptsächlich auf dem MEDAS-Gutachten vom
11. August 2014. Laut angefochtenem Entscheid war diese Expertise indessen
unbeachtlich. Die Vorinstanz stellte weiter fest, die vorliegende Aktenlage
enthalte zwar Anhaltspunkte für eine mögliche Verbesserung des
Gesundheitszustandes, erlaube jedoch weder eine umfassende Würdigung des
Gesundheitsverlaufs bis zum massgebenden Verfügungszeitpunkt, noch eine
genügende Überprüfung der Leidensangaben des Versicherten. Sie traf
entsprechend keine Feststellungen über den massgebenden Sachverhalt. Das wird
sie nachzuholen haben. Die Sache ist an das kantonale Gericht zurückzuweisen,
damit dieses die angefochtene Verfügung unter Einbezug aller Akten umfassend
würdige und neu über die Beschwerde entscheide.  
 
8.  
 
8.1. Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung oder an die Vorinstanz zu
erneuter Abklärung (mit noch offenem Ausgang) oder Entscheidung gilt für die
Frage der Auferlegung der Gerichtskosten wie auch der Parteientschädigung als
vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 Satz 1 sowie Art. 68 Abs. 1
und 2 BGG, unabhängig davon, ob sie beantragt oder ob das entsprechende
Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 132 V 215 E. 6.1
S. 235; u.a. Urteil 8C_279/2015 vom 27. August 2015 E. 4.1 mit Hinweisen).  
 
8.2. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat grundsätzlich der Beschwerdegegner
die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE
125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG
hingewiesen, wonach er der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später
dazu in der Lage ist.  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des
Kantonsgerichts Luzern, 3. Abteilung, vom 30. Januar 2017 aufgehoben. Die Sache
wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird
die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Christian Näpflin wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 25. August 2017 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Schüpfer 

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