Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.144/2017
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_144/2017        

Urteil vom 23. Juni 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichterinnen Heine, Viscione,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Dr. Kathrin Hässig,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Arbeitsunfähigkeit; Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 6. Januar 2017.

Sachverhalt:

A. 
Die 1952 geborene A.________ meldete sich am 24. März 2010 (Posteingang) zum
Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons St.
Gallen klärte den Sachverhalt in erwerblicher und medizinischer Hinsicht ab,
wobei sie unter anderem das auf rheumatologisch/internistischen sowie
psychiatrischen Untersuchungen beruhende Gutachten der Medizinischen
Abklärungsstelle Ostschweiz (im Folgenden: MEDAS), St. Gallen, vom 2. September
2013 einholte. Die Sachverständigen diagnostizierten eine rezidivierende
depressive Störung (aktuell unter adäquater Medikation remittiert; ICD-10:
F33.4), einen Status nach Knie-Totalprothese rechts wegen Gonarthrose und
Osteonekrose, belastungsabhängige Lumbalgien mit/bei thorakolumbaler Skoliose
und diskreten degenerativen Veränderungen, Fingerpolyarthrosen, Senk- und
Spreizfüsse sowie einen Status nach Operation wegen Hallux valgus beidseits.
Aus somatischer Sicht war die Versicherte eingeschränkt für Tätigkeiten, die
dauerndes Stehen, häufiges Bücken, Heben schwerer Lasten und häufiges Steigen
auf Treppen und Leitern erforderten. In einer diesem Belastungsprofil
angepassten Beschäftigung war sie wegen der psychiatrischen Befunde zu 30 %
arbeitsunfähig (die Versicherte war stressintolerant, benötigte längere
Erholungsphasen und bei einer Präsenz von 100 % vermehrt Pausen). Gemäss
Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 10. September 2013
zeigte die Versicherte seit Jahren eine Remission der depressiven Symptomatik,
ohne wesentliche psychopathologische Auffälligkeiten und ohne Beeinträchtigung
der funktionellen Leistungsfähigkeit, weshalb von einer vollständigen
Arbeitsfähigkeit in einer den körperlichen Einschränkungen angepassten
Erwerbstätigkeit auszugehen sei. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren
verneinte die IV-Stelle mangels eines den Schwellenwert von 40 % erreichenden
Invaliditätsgrades einen Anspruch auf Invalidenrente (Verfügung vom 1. April
2014).

B. 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen mit Entscheid vom 6. Januar 2017 teilweise gut und sprach A.________
ab 1. März 2011 eine halbe Invalidenrente zu.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.

A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

D. 
Mit Verfügung vom 6. April 2017 hat die Instruktionsrichterin des
Bundesgerichts der Beschwerde antragsgemäss aufschiebende Wirkung erteilt.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

1.2. Nach Art. 105 BGG legt das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt
zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Abs. 1). Es kann diese
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Abs. 2). Die Voraussetzungen für eine Sachverhaltsrüge nach Art.
97 Abs. 1 BGG und für eine Berichtigung des Sachverhalts von Amtes wegen nach
Art. 105 Abs. 2 BGG stimmen im Wesentlichen überein. Soweit es um die Frage
geht, ob der Sachverhalt willkürlich oder unter verfassungswidriger Verletzung
einer kantonalen Verfahrensregel ermittelt worden ist, sind strenge
Anforderungen an die Begründungspflicht der Beschwerde gerechtfertigt.
Entsprechende Beanstandungen sind vergleichbar mit den in Art. 106 Abs. 2 BGG
genannten Rügen. Demzufolge genügt es nicht, einen von den tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz abweichenden Sachverhalt zu behaupten. Vielmehr
ist in der Beschwerdeschrift nach den erwähnten gesetzlichen Erfordernissen
darzulegen, inwiefern diese Feststellungen willkürlich bzw. unter Verletzung
einer verfahrensrechtlichen Verfassungsvorschrift zustande gekommen sind.
Andernfalls können Vorbringen mit Bezug auf einen Sachverhalt, der von den
Feststellungen im angefochtenen Entscheid abweicht, nicht berücksichtigt
werden. Vorbehalten bleiben offensichtliche Sachverhaltsmängel im Sinne von
Art. 105 Abs. 2 BGG, die dem Richter geradezu in die Augen springen (BGE 133 IV
286 E. 6.2 S. 288; 133 II 249 E. 1.4.3 S. 255).

2. 
Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie der
Beschwerdegegnerin eine halbe Invalidenrente zugesprochen hat. Dabei ist
hauptsächlich zu prüfen, ob sich die von den Sachverständigen der MEDAS
aufgrund der diagnostizierten rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10:
F33.4) eingeschätzte Arbeitsunfähigkeit von 30 % in einer den körperlichen
Leiden angepassten Erwerbstätigkeit aus rechtlicher Sicht invalidisierend
auswirkt. Unbestritten ist, dass das Gutachten der MEDAS vom 2. September 2013
vollumfänglich beweistauglich ist. In diesem Zusammenhang ist darauf
hinzuweisen, dass die medizinischen Fachpersonen und die Organe der
Rechtsanwendung die Arbeitsfähigkeit je aus ihrer Sicht prüfen, indem an die
zuerst erfolgende ärztliche Stellungnahme eine - freie - juristische
Beurteilung der noch zumutbaren Arbeitsleistung anschliesst (BGE 141 V 281 E.
5.2 S. 306). Aus rechtlicher Sicht kann von einer medizinischen Einschätzung
der Arbeits (un) fähigkeit abgewichen werden, ohne dass diese ihren Beweiswert
verliert (SVR 2016 UV Nr. 25 S. 81, 8C_438/2015 E. 6 mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 141 V 281 E. 5.2 S. 306).

3.

3.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, der Umstand, dass sich die
rezidivierende depressive Störung bisher im Zusammenhang mit sozialen
Belastungen manifestiert habe, vermöge an ihrer
invalidenversicherungsrechtlichen Relevanz nichts zu ändern. Soziale Umstände
könnten sich nach der Rechtsprechung invaliditätsbegründend auswirken, indem
sie - wie vorliegend - eine verselbstständigte Gesundheitsschädigung aufrecht
erhielten oder verschlimmerten. Der RAD beziehe sich in der Stellungnahme vom
10. September 2013 massgeblich auf die Diagnose. Entscheidend sei indessen,
inwieweit die Befunde der MEDAS objektiviert werden könnten, wozu den
Ausführungen des RAD, der keine eigene klinische Untersuchungen vorgenommen
habe, keine zuverlässigen Auskünfte entnommen werden könnten; er würdige
lediglich den medizinischen Sachverhalt anders. Daher sei auf das Gutachten der
MEDAS abzustellen und von einer Arbeitsunfähigkeit von 30 % auszugehen. Weitere
medizinische Abklärungen erübrigten sich somit.

3.2. Die IV-Stelle bringt vor, die aus psychiatrischer Sicht einzig
vorliegende, rezidivierende depressive Störung sei gemäss Gutachten der MEDAS
vom 2. September 2013 in Übereinstimmung mit dem von der
Krankentaggeldversicherung eingeholten polydisziplinären Gutachten der Klinik
B.________, vom 22. Juni 2011 seit Jahren remittiert, also abgeheilt. Die
Vorinstanz übersehe, dass die Experten der MEDAS die auf 30 % eingeschätzte
Arbeitsunfähigkeit allein mit dem Hinweis begründeten, die Versicherte neige in
Überforderungssituationen dazu, depressiv zu reagieren. Somit hätten sie die
Arbeitsunfähigkeit nicht gestützt auf die aktuellen psychiatrischen Befunde
beurteilt, sondern einzig für den Fall prognostiziert, dass die Versicherte
wieder erwerbstätig sein würde und dabei wegen der zu erwartenden Belastungen
nicht voll werde leistungsfähig sein können. Art. 6 ATSG setze jedoch eine
aktuelle Gesundheitsschädigung voraus, weshalb es unzulässig sei, eine
versicherte Person präventiv für die Zukunft teilweise arbeitsunfähig zu
schreiben. Entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen hätten die Sachverständigen
der MEDAS Ihre Einschätzung nicht aus dem Krankheitsverlauf abgeleitet.
Vielmehr seien sie explizit von den psychosozialen Belastungsfaktoren
beeindruckt gewesen, die nach ständiger Rechtsprechung jedoch bei der Bemessung
der Invalidität ausgeklammert werden müssten.

3.3. Den Vorbringen der IV-Stelle ist jedenfalls im Ergebnis beizupflichten.
Die Gutachter der MEDAS hielten wie schon diejenigen der Klinik B.________
fest, dass mit den bisher verabreichten und weiterhin einzunehmenden
Antidepressiva seit mehreren Jahren keine psychopathologisch erheblichen
Befunde mehr eruiert werden konnten. Gemäss beiden genannten Expertisen war der
Psychostatus im Zeitpunkt der jeweiligen Untersuchungen unauffällig. Angesicht
dieser ärztlichen Auskünfte ist die Feststellung des psychiatrischen
Sachverständigen der MEDAS, aufgrund der anamnestisch erstmals im Jahre 2005
aufgetretenen depressiven Episode könne nicht ausgeschlossen werden, dass die
danach aus somatischer Sicht bescheinigten Arbeitsunfähigkeiten auch auf die
depressiven Symptome zurückzuführen seien, wenig nachvollziehbar. Insgesamt
betrachtet ist aufgrund der psychiatrischen Befunde davon auszugehen, dass die
Beschwerdegegnerin in einer den körperlichen Beeinträchtigungen angepassten
Erwerbstätigkeit bei Erlass der Verfügung vom 1. April 2014, der die zeitliche
Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet (BGE 121 V 362 E. 1b S.
366 mit Hinweisen), nicht eingeschränkt gewesen war. Im Übrigen ist darauf
hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung leichte bis mittelschwere psychische
Störungen grundsätzlich als therapeutisch angehbar gelten (SVR 2016 IV Nr. 29
S. 88, 9C_340/2015 E. 4.2 und Urteil 8C_814/2016 vom 3. April 2017 E. 5.3.2, je
mit Hinweisen); erweisen sich leichte und mittelgradige depressive Störungen
ausnahmsweise als therapieresistent, stellen sie nur dann einen
invalidisierenden Gesundheitsschaden dar, wenn eine konsequente Therapie in dem
Sinne erfolgte, dass die aus fachärztlicher Sicht zumutbaren (ambulanten und
stationären) Behandlungsmöglichkeiten in kooperativer Weise optimal und
nachhaltig ausgeschöpft wurden (SVR 2016 IV Nr. 52 S. 176, 9C_13/2016 E. 4.2
mit Hinweisen). Aus dem Gutachten der MEDAS ergibt sich, dass sich die
Beschwerdegegnerin nie einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung
unterzogen hatte. Auch in Anbetracht dieses Umstandes überzeugen die Erwägungen
der Vorinstanz nicht.

4. 
Die IV-Stelle bringt schliesslich vor, das kantonale Gericht habe den
Invaliditätsgrad (vgl. Art. 16 ATSG) in Verletzung von Bundesrecht anhand der
allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs statt des Prozentvergleichs
ermittelt. Dieser Frage ist nicht weiter nachzugehen. Wird das vorinstanzlich
auf Fr. 83'708.- festgelegte Valideneinkommen dem gestützt auf die
standardisierten Bruttolöhne der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) auf
Fr. 53'357.- bestimmte Invalideneinkommen (bezogen auf ein Vollzeitpensum und
ohne Berücksichtigung eines Abzugs gemäss BGE 126 V 75) gegenüber gestellt,
ergibt sich ein Invaliditätsgrad von 36.25 %. Damit besteht kein Anspruch auf
eine Invalidenrente. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen.

5. 
Die Gerichtskosten sind der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 6. Januar 2017 wird aufgehoben und die Verfügung der
IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 1. April 2014 bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. Juni 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Grunder

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben