Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.118/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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8C_118/2017            

 
 
 
Urteil vom 28. August 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiberin Berger Götz. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle Luzern, 
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Urs Schaffhauser, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Luzern 
vom 3. Januar 2017. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1961 geborene A.________ erhielt mit Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 3.
Dezember 2003 (bestätigt durch Einspracheentscheid vom 30. August 2005) bei
einem Invaliditätsgrad von 52 % rückwirkend ab 1. Juni 2000 eine halbe Rente
zugesprochen. Der Anspruch auf eine halbe Rente wurde mit den Mitteilungen vom
13. Februar 2007 und vom 29. November 2010 bestätigt. Im Jahr 2012 leitete die
IV-Stelle eine ausserordentliche Rentenrevision nach den am 1. Januar 2012 in
Kraft getretenen Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 des IVG (6.
IV-Revision, erstes Massnahmenpaket [AS 2011 5659]; nachfolgend:
Schlussbestimmungen IVG) ein. Mit Verfügung vom 3. Oktober 2012 stellte sie die
Invalidenrente mit dem ersten Tag des zweiten Monats nach Zustellung der
Verfügung ein und entzog einer allfälligen Beschwerde gegen diesen
Verwaltungsakt die aufschiebende Wirkung. Auf Beschwerde hin hob das
Kantonsgericht Luzern den Verwaltungsakt auf und wies die Sache an die
IV-Stelle zurück, damit sie nach weiteren Abklärungen im Sinne der Erwägungen
neu verfüge (Entscheid vom 11. Dezember 2013). Zuvor hatte es mit Verfügung vom
13. Dezember 2012 den von A.________ gestellten Antrag auf Wiederherstellung
der aufschiebenden Wirkung abgelehnt. Die IV-Stelle holte in der Folge das
polydisziplinäre Gutachten der Academy of Swiss Insurance Medicine, Basel
(nachfolgend: asim), vom 31. Dezember 2014 ein. Nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens stellte sie die Rente gestützt auf die
Schlussbestimmungen IVG erneut ein, wobei sie festhielt, die mit Verfügung vom
3. Oktober 2012 aufgehobene Rente bleibe aufgehoben; ausserdem entzog sie einer
allfälligen Beschwerde gegen diesen Verwaltungsakt die aufschiebende Wirkung
(Verfügung vom 24. Mai 2016). 
In der Zwischenzeit hatte die IV-Stelle A.________ berufliche
Wiedereingliederungsmassnahmen und für deren Dauer, längstens jedoch bis 30.
November 2014, die Weiterausrichtung der halben Invalidenrente zugesprochen
(Mitteilung und Verfügung, je vom 15. November 2012). Mit Verfügung vom 24.
Januar 2014 bestätigte sie den mittels Vorbescheid vom 8. November 2013 per 5.
November 2013 angeordneten Abbruch der Wiedereingliederungsmassnahmen und die
Einstellung der halben Übergangsrente per 30. November 2013. 
 
B.   
Sowohl gegen die Verfügung vom 24. Januar 2014 (betreffend
Wiedereingliederungsmassnahmen und Übergangsrente) als auch gegen diejenige vom
24. Mai 2016 (betreffend Einstellung der Invalidenrente) liess A.________
Beschwerde erheben. Das Kantonsgericht Luzern vereinigte beide
Beschwerdeverfahren (Dispositiv-Ziffer 1), erklärte das Beschwerdeverfahren
betreffend Wiedereingliederungsmassnahmen und Übergangsrente als erledigt
(Dispositiv-Ziffer 3) und hiess die Beschwerde gegen die Renteneinstellung in
dem Sinne gut, dass es in Abänderung der Verfügung vom 24. Mai 2016 die
bisherige halbe Rente vom ersten des zweiten der Zustellung des
kantonalgerichtlichen Entscheids folgenden Monats an aufhob (Dispositiv-Ziffer
2). Die Kostenfolgen regelte es in den Dispositiv-Ziffern 4 bis 6 (Entscheid
vom 3. Januar 2017). 
 
C.   
Die IV-Stelle Luzern führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
mit dem Antrag, die Richtigkeit der Verfügung vom 24. Mai 2016 sei zu
bestätigen; ausserdem sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu
erteilen. 
Das Kantonsgericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Der Versicherte
lässt ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde antragen und ausserdem um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ersuchen. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
D.   
Mit Verfügung vom 5. Mai 2017 hat der Instruktionsrichter der Beschwerde
aufschiebende Wirkung zuerkannt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die
Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung
des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des
Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1
BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie
offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art.
95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Nach den Feststellungen des kantonalen Gerichts im Rückweisungsentscheid vom
11. Dezember 2013 war dem Versicherten die Rente ursprünglich aufgrund eines
unklaren Beschwerdebildes (anhaltende somatoforme Schmerzstörung und leichte
depressive Episode) zugesprochen worden, so dass die Überprüfung nach lit. a
der Schlussbestimmungen IVG rechtens war. Gestützt auf das im Rahmen der
Rückweisung eingeholte asim-Gutachten vom 31. Dezember 2014 und nach Prüfung
der Indikatoren nach Massgabe von BGE 141 V 281 wird im angefochtenen
Gerichtsentscheid vom 3. Januar 2017 sodann bestätigt, es liege bei weitem kein
rentenbegründender Invaliditätsgrad vor, weshalb die Aufhebung der Rente gemäss
lit. a der Schlussbestimmungen IVG korrekt erfolgt sei. Dies wird
letztinstanzlich nicht in Frage gestellt. 
Streitig und zu prüfen ist einzig das Datum der Renteneinstellung. Das
kantonale Gericht vertritt die Auffassung, die Rente könne erst im Nachgang zum
angefochtenen Entscheid vom 3. Januar 2017 auf den 1. März 2017 aufgehoben
werden. Dieser Sichtweise schliesst sich der Versicherte an. Demgegenüber ist
die IV-Stelle der Meinung, die Rente sei "in rückwirkender Bestätigung der
Verfügung vom 3. Oktober 2012" auf den 1. Dezember 2012 einzustellen. 
 
3.  
 
3.1. Nach ständiger Rechtsprechung dauert der mit der revisionsweise (Art. 17
Abs. 1 ATSG) verfügten Herabsetzung oder Aufhebung einer Rente der
Invalidenversicherung verbundene Entzug der aufschiebenden Wirkung der
Beschwerde bei Rückweisung der Sache an die IV-Stelle zur weiteren Abklärung
des Sachverhalts auch noch für den Zeitraum dieses Abklärungsverfahrens bis zum
Erlass der neuen Verwaltungsverfügung an (BGE 129 V 370; SVR 2011 IV Nr. 33 S.
96, 8C_451/2010; Urteil 9C_856/2016 vom 9. März 2017 E. 3.1). Im
Sozialversicherungsrecht ist bei leistungsaufhebenden Verfügungen der Entzug
der aufschiebenden Wirkung die Regel (Art. 66 IVG in Verbindung mit Art. 97
AHVG). Ausnahmsweise hat das kantonale Gericht allerdings den in der
Revisionsverfügung entzogenen Suspensiveffekt der Beschwerde für den Zeitraum
wieder herzustellen, den das Verfügungsverfahren in Anspruch genommen hätte,
wenn die angefochtene Revisionsverfügung, ohne hinreichende Abklärung der
Revisionsvoraussetzungen, bloss deshalb erlassen wurde, um rechtsmissbräuchlich
einen möglichst frühen Revisionszeitpunkt zu provozieren (BGE 129 V 370 E. 3.4
S. 376; Urteil 8C_236/2014 vom 16. Mai 2014 E. 2.1 mit Hinweis).  
 
3.2. Im Falle des Beschwerdegegners geht es indessen nicht um ein
Revisionsverfahren nach Art. 17 Abs. 1 ATSG, sondern um eine Rentenaufhebung im
Rahmen von lit. a Schlussbestimmungen IVG. Es steht jedoch, sachlich und
rechtlich betrachtet, nichts entgegen, die in Erwägung 3.1 hiervor
zusammengefassten Grundsätze zur Rechtsprechung über die aufschiebende Wirkung
auch im Rahmen von Rentenaufhebungen gemäss lit. a der Schlussbestimmungen IVG
analog anzuwenden (Urteil 9C_519/2013 vom 26. Februar 2014 E. 4).  
 
4.  
 
4.1. Mit Verfügung vom 3. Oktober 2012 hatte die IV-Stelle die halbe Rente ein
erstes Mal aufgehoben und gleichzeitig einer allfälligen Beschwerde gegen diese
Verfügung die aufschiebende Wirkung entzogen. Am 13. Dezember 2012 lehnte das
kantonale Gericht den Antrag des Versicherten auf Wiederherstellung der
Suspensivwirkung verfügungsweise ab. Mit Entscheid vom 11. Dezember 2013 hob es
den Verwaltungsakt der IV-Stelle vom 3. Oktober 2012 auf und wies die Sache zur
weiteren Abklärung an die IV-Stelle zurück. In den Erwägungen stellte es fest,
es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die IV-Stelle in
rechtsmissbräuchlicher Weise einen möglichst frühen Revisionszeitpunkt
provoziert habe. Sie habe zwar ihre gesetzliche Untersuchungspflicht verletzt,
jedoch könne ihr - auch mit Blick auf die erst im Jahr 2010 durchgeführte
ordentliche Revision - nicht vorgeworfen werden, dass sie jegliche Abklärungen
zum medizinischen Sachverhalt unterlassen habe. Ihr - wenn auch unzureichendes
- Vorgehen vermöge daher die hohen Anforderungen an einen Rechtsmissbrauch
nicht zu erfüllen. Rechtsprechungsgemäss dauere der vorliegende Entzug der
aufschiebenden Wirkung infolge Rückweisung der Sache an die IV-Stelle somit
während des Abklärungsverfahrens bis zum Erlass einer neuen Verfügung an
(Entscheid vom 11. Dezember 2013 E. 7.2).  
 
4.2. Im angefochtenen Entscheid wird nun jedoch Gegenteiliges angenommen. Dies
wird damit begründet, dass im Rückweisungsentscheid vom 11. Dezember 2013 eine
schwerwiegende Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes festgestellt worden sei,
indem die Verwaltung die halbe Rente aufgehoben habe, ohne die aktuellen -
insbesondere medizinischen - Verhältnisse abzuklären. Es habe auch eine
Auseinandersetzung mit den (inzwischen überholten, vgl. BGE 141 V 281 E. 4.1.2
S. 297) sogenannten Foerster-Kriterien im Zusammenhang mit der somatoformen
Schmerzstörung gefehlt. In späteren Entscheiden habe das Kantonsgericht solche
Konstellationen regelmässig als Provozierung eines möglichst frühen
Revisionszeitpunkts eingestuft. Davon sei auch hier auszugehen. Die IV-Stelle
habe zwar zuvor erst im Jahr 2010 ein ordentliches Rentenrevisionsverfahren
durchgeführt. Dabei sei aber einzig ein wenig aussagekräftiger Verlaufsbericht
des Hausarztes eingeholt und ohne weiteres auf einen gleich gebliebenen
Gesundheitszustand geschlossen worden. Im Rahmen des vorliegenden
Rentenaufhebungsverfahrens sei wiederum nur ein äusserst knapp gehaltener
Hausarztbericht eingeholt worden, worauf die Fachperson Leistungen der
IV-Stelle - ohne aktuelle psychiatrische Beurteilung und selbst ohne Beizug des
Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) - direkt auf das Dahinfallen des
Rentenanspruchs aufgrund der Schlussbestimmungen IVG geschlossen habe.  
 
5.  
 
5.1. Die IV-Stelle macht geltend, das kantonale Gericht habe im
Rückweisungsentscheid vom 11. Dezember 2013 verbindlich über die Frage der
Wiederherstellung des Suspensiveffekts entschieden. Wolle es nun im
vorliegenden Prozess darauf zurückkommen, schulde es eine nachvollziehbare
Begründung, um sich nicht dem Vorwurf der Willkür auszusetzen.  
 
5.2. Im Urteil 9C_857/2015 vom 2. Februar 2016 (E. 2.2) erkannte das
Bundesgericht, dass prozessleitende Verfügungen nicht in Rechtskraft erwachsen
und grundsätzlich jederzeit auf sie zurückgekommen werden kann (vgl. BGE 121 II
273 E. 1a/aa S. 276 f.). Zugleich verwies es auf die in diesem Zusammenhang aus
dem Gebot von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV) im Verfahren und dem daraus
abgeleiteten Verbot widersprüchlichen Verhaltens erwachsenden Schranken (vgl.
THOMAS GÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005, S. 529 ff.).
Diese hat es im betreffenden Fall als verletzt erachtet, da trotz unveränderter
Sach- und Prozesslage antizipierend auf ein gerichtliches Gutachten verzichtet
wurde, das zwei Jahre zuvor aufgrund konkreter Beweiswürdigung noch für
notwendig erachtet worden war.  
Im vorliegenden Fall ist und war ebenfalls einzig und allein die unveränderte
Tatsachenlage zur Zeit der ersten renteneinstellenden Verfügung vom 3. Oktober
2012 massgebend zur Beurteilung der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit des
Verhaltens der IV-Stelle (und, damit verbunden, zur Frage der Suspensivwirkung
während des Abklärungsverfahrens; vgl. E. 3.1 hiervor). Es kann offenbleiben,
ob das kantonale Gericht im Rahmen von Treu und Glauben an seine erste
Einschätzung betreffend Suspensivwirkung in seiner Verfügung vom 13. Dezember
2012 bzw. im Rückweisungsentscheid vom 11. Dezember 2013 gebunden ist und
deshalb die abweichende Anordnung bezüglich Rentenaufhebung analog zum
erwähnten Urteil 9C_857/2015 vom 2. Februar 2016 den verfassungsmässigen
Vertrauensgrundsatz verletzt. Für das Bundesgericht besteht jedenfalls keine
Bindungswirkung an frühere Entscheide der Vorinstanz. Es hat hier einzig zu
prüfen, ob im angefochtenen Entscheid zu Recht ein missbräuchliches Verhalten
der IV-Stelle bejaht und, als Konsequenz davon, die Aufhebung der Rente auf
Ende Februar 2017 - über vier Jahre später, als von der IV-Stelle ursprünglich
angeordnet - verschoben wird. 
 
6.  
 
6.1. Des Weiteren vertritt die IV-Stelle die Auffassung, das kantonale Gericht
habe verkannt, dass sie sich im Zeitpunkt der Verfügung vom 3. Oktober 2012
sowohl auf aussagekräftige Berichte des Hausarztes wie auch auf diesen
beigelegte Stellungnahmen von Spezialisten aus den Jahren 2010 und 2011 habe
stützen können. Soweit es annehme, sie habe in missbräuchlicher Art und Weise
auf Abklärungen verzichtet, stelle dies eine offensichtlich rechtsfehlerhafte
Einschätzung der Sachlage dar.  
 
6.2. Der Schutz von Treu und Glauben und das Verbot des Rechtsmissbrauchs sind
allgemeine Grundsätze jeden staatlichen und privaten Handelns, die in Art. 5
Abs. 3 BV verankert sind. Das Rechtsmissbrauchsverbot steht der Inanspruchnahme
eines Rechtsinstituts zu Zwecken, welche dieses nicht schützen will, entgegen
(BGE 138 III 401 E. 2.2 S. 403, 425 E. 5.5 S. 432; 137 III 625 E. 4.3 S. 629;
135 III 162 E. 3.3.1 S. 169; 134 I 65 E. 5.1 S. 72 f.), und lässt scheinbares
Recht weichen, wo offenbares Unrecht geschaffen würde (BGE 125 III 257 E. 2c S.
261). Nur stossendes, zweckwidriges Verhalten erscheint rechtsmissbräuchlich
und soll über das Rechtsmissbrauchsverbot sanktioniert werden (SVR 2014 UV Nr.
9 S. 29, 8C_607/2013 E. 6.1 mit Hinweisen; SZS 2015 S. 263, 9C_740/2014 E.
5.3).  
 
6.2.1. Massgebend für die Prüfung des Rechtsmissbrauchs ist die Aktenlage bei
Erlass der Verfügung vom 3. Oktober 2012. Ursprünglich war die Rente auf der
Basis der ärztlich attestierten Leistungseinschränkungen infolge der
diagnostizierten somatoformen Schmerzstörung (mit leichter depressiver Episode)
zugesprochen worden. Auch später wurden keine organischen Gesundheitsschäden
festgestellt, die einen dauerhaften Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit hätten
haben können. Im Rahmen der Rentenrevision 2010 berichtete der Hausarzt Dr.
med. dipl. rer. pharm. B.________, Praktischer Arzt FMH, über stabile klinische
Verhältnisse. Der RAD-Facharzt für Allgemeinmedizin, Dr. med. C.________,
führte am 25. November 2010 dazu aus, es hätten sich im Revisionsverfahren
keine neuen Befunde gezeigt, die eine Verschlechterung erklären könnten. Die
vom Versicherten behauptete Beschwerdezunahme sei eher subjektiver Art, im
Rahmen von funktionellen Störungen. Von einer Chronifizierung der Schmerzen sei
schon vor Jahren die Rede gewesen - daran habe sich nichts geändert. In seiner
Stellungnahme vom 29. März/13. April 2012 gab Dr. med. B.________ an, die
Diagnosen seien unverändert und die Prognose sei "stabil". Eine
Verlaufskontrolle mittels Computertomographie der Halswirbelsäule (HWS) habe
unauffällige Befunde ergeben. Die IV-Fachperson für Leistungen Erwachsene ist
mit Blick auf diese medizinischen Stellungnahmen zum Ergebnis gelangt, dass die
für eine Willensanstrengung zur Überwindung der Dysfunktionalität
vorausgesetzten Ressourcen vorhanden seien. Wie das kantonale Gericht im
Rückweisungsentscheid vom 11. Dezember 2013 gestützt auf diese Aktenlage
festgestellt hatte, fehlte damals eine auf genügenden medizinischen Grundlagen
beruhende Auseinandersetzung mit den Foerster-Kriterien. Letztlich habe die
IV-Stelle die halbe Rente aufgehoben, ohne die aktuellen Verhältnisse
abzuklären. Dennoch könne nicht davon ausgegangen werden, dass die IV-Stelle in
rechtsmissbräuchlicher Weise einen möglichst frühen Revisionszeitpunkt
provoziert habe. Sie habe zwar ihre gesetzliche Untersuchungspflicht verletzt,
jedoch vermöge ihr unzureichendes Vorgehen die hohen Anforderungen an einen
Rechtsmissbrauch nicht zu erfüllen. Die abweichende Einschätzung im
vorliegenden Verfahren wird - abgesehen vom Hinweis auf den mangelhaft
abgeklärten damaligen Gesundheitszustand - einzig damit begründet, dass solche
"Konstellationen" in späteren Entscheiden regelmässig als Provozierung eines
möglichst frühen Revisionszeitpunkts eingestuft worden seien.  
 
6.2.2. Entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts kann nicht in jedem Fall
Rechtsmissbrauch angenommen werden, in dem die IV-Stelle vor der
Rentenaufhebung aufgrund von lit. a der Schlussbestimmungen IVG keine
vertieften fachärztlichen Abklärungen veranlasst hat. Vielmehr muss jeder
Einzelfall gesondert gewürdigt werden. Der vorliegende Streitfall zeichnet sich
dadurch aus, dass sich über die Jahre des Rentenbezugs stabile gesundheitliche
Verhältnisse manifestiert haben. Die von der IV-Stelle angefragten Ärzte
berichteten über keinerlei wesentlichen Veränderungen. Es blieb bei einem
psychosomatischen Leiden ohne relevante Komorbiditäten. Zudem fand die am 3.
Oktober 2012 verfügte Renteneinstellung zu einem Zeitpunkt statt, als noch die
Überwindbarkeitsvermutung galt. Letztere wurde erst mit BGE 141 V 281 (vom 3.
Juni 2015) aufgegeben. Mit Blick auf diese Ausgangslage verletzte die IV-Stelle
durch den damaligen Verzicht auf weitere medizinische Abklärungen zwar gemäss
Rückweisungsentscheid des Kantonsgerichts vom 11. Dezember 2013 ihre
Untersuchungspflicht. Dem Beschwerdegegner kann jedoch nicht beigepflichtet
werden, soweit er impliziert, dass eine Verletzung der Untersuchungspflicht in
jedem Fall mit Rechtsmissbrauch gleichzusetzen ist. Ein stossendes,
zweckwidriges Verhalten kann im entscheidenden Zeitpunkt der
Renteneinstellungsverfügung vom 3. Oktober 2012 nicht gesehen werden. Der
Beschwerdeführerin ist demnach kein Rechtsmissbrauch vorzuwerfen.  
 
6.2.3. Daraus folgt, dass der Entzug der aufschiebenden Wirkung bis zum Erlass
der neuen Verfügung vom 24. Mai 2016 nach Durchführung der vom kantonalen
Gericht geforderten Abklärungen andauerte. Weil mit dem Verwaltungsakt vom 24.
Mai 2016 wiederum ein fehlender Rentenanspruch festgestellt wurde, bleibt es
bei der erstmalig am 3. Oktober 2012 verfügten Renteneinstellung.  
 
7.   
Durch den Umstand, dass das kantonale Gericht einen Rentenanspruch über den
Zeitpunkt des 3. Januar 2017 hinaus bejahte, musste es nicht über die Rente
während der Wiedereingliederungsmassnahmen gemäss lit. a Abs. 3
Schlussbestimmungen IVG befinden. Das Beschwerdeverfahren gegen die
entsprechende Verfügung vom 24. Januar 2014 erklärte es deshalb als erledigt.
Da das vorliegende Urteil des Bundesgerichts den Antrag der IV-Stelle schützt,
wonach die Verfügung vom 24. Mai 2016 zu bestätigen sei, zieht dies eine
Aufhebung des gesamten angefochtenen Entscheids nach sich. Damit wird das
kantonale Gericht im Rahmen der bundesgerichtlich angeordneten Rückweisung die
Beschwerde im Verfahren betreffend Verfügung vom 24. Januar 2014
(Wiedereingliederungsmassnahmen und begleitende Rente) zu beurteilen haben. 
 
8.   
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG). Dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der
vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen
Verbeiständung) kann entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird
indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn
sie später dazu in der Lage ist (Urteil 8C_210/2016 vom 24. August 2016 E. 9). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom
3. Januar 2017 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 24.
Mai 2016 wird bestätigt. Die Sache geht bezüglich der Beschwerde gegen die
Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 24. Januar 2014 betreffend
Wiedereingliederungsmassnahmen und begleitende Rente an das Kantonsgericht
Luzern zurück, damit es darüber entscheide. 
 
2.   
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Urs Schaffhauser wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.   
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1'500.- ausgerichtet. 
 
5.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens
betreffend Einstellung der Invalidenrente an das Kantonsgericht Luzern
zurückgewiesen. 
 
6.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 28. August 2017 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz 

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