Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.865/2017
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Bundesgericht

Tribunal fédéral

Tribunale federale

Tribunal federal

               

2C_865/2017

Urteil vom 22. März 2019

II. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung

Bundesrichter Seiler, Präsident,

Bundesrichter Zünd, Donzallaz,

Gerichtsschreiberin Mayhall.

Verfahrensbeteiligte

1. A.A.________,

2. B.A.________,

Beschwerdeführer,

beide vertreten durch Rechtsanwalt Remo Gilomen,

gegen

Einwohnergemeinde Bern,

Einwohnerdienste, Migration und Fremdenpolizei,

Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern.

Gegenstand

Gültigkeit eines Rechtsmittelverzichts,

Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern,
Einzelrichter, vom 5. September 2017 (100.2017.68U).

Erwägungen:

1.

Mit Verfügung vom 26. Februar 2016 widerrief die Einwohnergemeinde Bern die
Niederlassungsbewilligungen von A.A.________ sowie von C.A.________ und
verweigerte die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung von B.A.________ und
wies die Betroffenen ohne Ansetzung einer Ausreisefrist aus der Schweiz weg.
Hiergegen erhoben A.A.________ und B.A.________ am 30. März 2016 Beschwerde bei
der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern. Die kantonale Polizei- und
Militärdirektion hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 31. Januar 2017
teilweise insoweit gut, als sie die Verfügung vom 26. Februar 2016 betreffend
C.A.________ aufhob. Im Übrigen wurde die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf
eingetreten wurde. Zur unentgeltlichen Rechtspflege erging folgendes
Dispositiv:

"Das Gesuch vom 28. November 2016 um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege
wird gutgeheissen und den Beschwerdeführern ab diesem Zeitpunkt für das
vorliegende Verfahren Fürsprecher Christian Wyss als amtlicher Anwalt
beigeordnet."

Am 25. Februar 2017 erklärte Fürsprecher Christian Wyss gegenüber der
Einwohnergemeinde Bern, er habe die Familie A.________ im Beschwerdeverfahren
vor der kantonalen Polizei- und Militärdirektion vertreten. Nach eingehender
Besprechung mit seinen Mandanten und mit der Bewährungshelferin seien sie zum
Ergebnis gelangt, den Entscheid zu akzeptieren, würden jedoch um eine
Erstreckung der Ausreisefrist ersuchen. Gleichentags brachte der Anwalt das
Gesuch um Erstreckung der Ausreisefrist der kantonalen Polizei- und
Militärdirektion und der Familie A.________ zur Kenntnis. Die Einwohnergemeinde
Bern hiess das Gesuch am 28. Februar 2017 gut und setzte die Ausreisefrist auf
den 30. April 2017 an. Am 3. März 2017 erhoben A.A.________ und B.A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Remo Gilomen, Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim
Verwaltungsgericht Bern und beantragten, A.A.________ sei die
Niederlassungsbewilligung zu belassen und die Aufenthaltsbewilligung von
B.A.________ sei zu verlängern. Sie ersuchten um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege und Vertretung. Mit Urteil vom 5. September 2017 trat der
Einzelrichter am Verwaltungsgericht Bern nicht auf die Beschwerde ein, wies das
Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ab und legte die Gerichtskosten den
Beschwerdeführern auf. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
vom 9. Oktober 2017 an das Bundesgericht beantragen A.A.________ und
B.A.________, das Urteil (des Einzelrichters am Verwaltungsgericht Bern) vom 5.
September sei aufzuheben. Sie ersuchen um Erteilung der aufschiebenden Wirkung
ihrer Beschwerde. Mit Verfügung vom 11. Oktober 2017 erteilte der
Abteilungspräsident der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts
ihrer Beschwerde die aufschiebende Wirkung.

2.

2.1. Auf die frist- und formgerechte Beschwerde ist einzutreten und sie ist
abzuweisen.

2.2. Die Beschwerdeführer haben im vorinstanzlichen Verfahren geltend gemacht,
zwischen ihrem vormaligen Rechtsvertreter und ihnen habe ein "Missverständnis"
vorgelegen. Sie seien mit dem angefochtenen Entscheid nie einverstanden
gewesen. Der Rechtsvertreter habe "in Eigenregie einen Rechtsmittelverzicht"
angemeldet. Wie es zu diesem Missverständnis gekommen sei, könne dahingestellt
bleiben, habe der Verzicht doch deswegen ohnehin keinen Bestand, weil die
Beschwerde fristgerecht erhoben worden sei. Zudem habe im Anschluss an die im
Schreiben vom 25. Februar 2017 erwähnte Besprechung kein Vertretungsverhältnis
mehr bestanden, welches dem Rechtsvertreter erlaubt hätte, einen
Rechtsmittelverzicht zu erklären (angefochtenes Urteil, E. 2.5). Die Vorinstanz
erwog, Gerichte und Behörden könnten sich darauf verlassen, dass eine
Rechtsvertreterin oder ein Rechtsvertreter den Willen der vertretenen Partei
korrekt zum Ausdruck bringe; eine generelle Erkundungs- und
Nachforschungspflicht bestehe nicht. Gemäss den aktenkundigen Vollmachten
hätten die Beschwerdeführer ihren vormaligen Rechtsvertreter in Sachen
"Verlängerung C. Bewilligung" und "Erneuerung Aufenthalt" ermächtigt, weshalb
der vormalige Rechtsvertreter zu allen Verfahrenshandlungen namens der
Beschwerdeführer befugt gewesen sei. Ob der damalige Rechtsvertreter
tatsächlich eigenmächtig gehandelt habe, sei zwar zweifelhaft, könne nach dem
Gesagten aber dahin gestellt bleiben (angefochtenes Urteil, E. 2.5.2). Wegen
der Verbindlichkeit des namens der Beschwerdeführer durch ihren vormaligen
Rechtsvertreter erklärten Rechtsmittelverzichtes gegenüber der
Einwohnergemeinde Bern, jedoch auch der unteren kantonalen Beschwerdeinstanz,
sei der Entscheid der kantonalen Polizei- und Militärdirektion in Rechtskraft
erwachsen, weshalb auf die Beschwerde offensichtlich nicht eingetreten werden
könne (angefochtenes Urteil, E. 2.6).

2.3. Gemäss Art. 34 Abs. 3 OR kann der Vertretene, der seine Vollmacht
ausdrücklich oder tatsächlich kundgegeben hat, deren gänzlichen oder teilweisen
Widerruf gutgläubigen Dritten nur dann entgegensetzen, wenn er ihnen auch
diesen Widerruf mitgeteilt hat. Diese Regel hat einen Gehalt, der über das
Privatrecht hinausgeht, wurde sie doch in gewissen Verfahrensordnungen
ausdrücklich verankert (Urteil 6B_705/2007 vom 29. November 2007 E. 3.3, mit
zahlreichen Hinweisen). In der vorliegenden Konstellation liegt ein dem iudex a
quo mitgeteilter Rechtsmittelverzicht und eine fast zeitgleich durch einen
anderen Anwalt erstellte und dem iudex ad quem eingereichte Rechtsmitteleingabe
vor. Die Vollmacht des vormaligen Rechtsvertreters wurde zwar dem iudex a quo
mitgeteilt und vor Abgabe des Rechtsmittelverzichts auch nicht widerrufen,
hingegen nie dem iudex ad quem kommuniziert. Im öffentlichen Verfahrensrecht
setzt die Gültigkeit eines Rechtsmittelverzichts grundsätzlich nicht die
Mitteilung an die Rechtsmittelinstanz voraus, kann doch eine Partei ein
Interesse am möglichst raschen Eintritt der formellen Rechtskraft der Verfügung
haben, ohne dass die Instanz, an welche ein Entscheid allenfalls weitergezogen
wird, davon Kenntnis haben muss (Urteil U 139/02 vom 20. November 2002 E. 2.4;
BERTSCHI, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kantons Zürich [VRG/
ZH], 3. Aufl. 2014, N. 59 zu Vorbemerkungen zu §§ 19-28a VRG/ZH). Angesichts
dessen, dass sich dem vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt keine Hinweise
darauf entnehmen lassen, dass die beim iudex a quo vorauszusetzende
Gutglaubensvermutung nach Art. 3 ZGB umgestossen worden wäre (vgl. dazu ROLF
WATTER, Basler Kommentar zum Obligationenrecht, 6. Aufl. 2015, N. 14 zu Art. 34
OR), fehlt es der Rüge, die Vorinstanz rechne das Handeln des vormaligen
Rechtsvertreters den Beschwerdeführern an, obschon offen zu Tage getreten sei,
dass dessen Handlungen nicht von deren Willen getragen werde, an jeglicher
Grundlage. Welche Erkundigungs- und Nachforschungspflichten die kantonale
Polizei- und Militärdirektion verletzt haben sollte, geht aus der
Beschwerdeschrift nicht hervor, weshalb auf diese Rüge mangels genügender
Substanziierung (Art. 42 Abs. 2, Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht weiter einzugehen
ist. Ob den Beschwerdeführern die Regel von Art. 34 Abs. 3 OR bekannt war, ist
für den Ausgang des Verfahrens bedeutungslos (BGE 136 V 331 E. 4.2.3.1 S. 336;
131 V 196 E. 5.1 S. 201; 124 V 215 E. 2b/aa S. 220; 103 IV 131 E. 2 S. 133).
Die Beschwerdeführer sind vielmehr auf die dem iudex a quo kundgegebene
Vollmacht zu behaften.

2.4. Der den Beschwerdeführern gestützt auf die kundgegebene und nicht
widerrufene Vollmacht anzurechnende Rechtsmittelverzicht vermochte jedoch den
Entscheid der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern vom 31. Januar
2017 nur in formelle Rechtskraft erwachsen zu lassen (Urteil U 139/02 vom 20.
November 2002 E. 2.4), wenn der nach dessen Kenntnisnahme abgegebene
Rechtsmittelverzicht gültig ist. Im Gegensatz zu den Restriktionen, denen ein
Rechtsmittelverzicht im Voraus unterliegt (vgl. ausführlich BGE 141 III 596 E.
1.4.5 S. 606 f., mit zahlreichen Hinweisen), kann auch im öffentlichen
Verfahrensrecht in Angelegenheiten, über welche die Parteien rechtsgeschäftlich
verfügen können (BGE 131 III E. 2.2 S. 416 e contrario) nach Erhalt der
begründeten Verfügung während laufender Rechtsmittelfrist auf ein Rechtsmittel
gültig verzichtet werden, sofern dies in voller Sachkenntnis, frei und
unbeeinflusst geschieht und keine Willensmängel vorliegen (Urteile 2C_277/2013
vom 7. Mai 2013 E. 1.4; 2C_277/2013 vom 7. Mai 2013 E. 3.2; U 139/02 vom 20.
November 2002; vgl. für eine Übersicht über den Rechtsmittelverzicht in
internen Schiedsverfahren und im Strafrecht BGE 143 III 157 E. 1.2.1 S. 158,
mit zahlreichen Hinweisen). Der Rechtsmittelverzicht ist nur widerrufbar, wenn
er unter Willensmängeln, insbesondere aufgrund irreführender Angaben der
Behörde, zustande gekommen ist (Urteil 2C_277/2013 vom 7. Mai 2013 E. 1.4, mit
zahlreichen Hinweisen). 

2.5. Die Rüge, der Rechtsmittelverzicht sei unverbindlich, weil er nicht dem
Willen der Vertretenen entsprochen habe, ist deswegen unbegründet, weil für die
Frage, ob hinsichtlich des Rechtsmittelverzichts ein Willensmangel vorliegt,
auf den Willen des Vertreters abgestellt wird, der dem Vertretenen zugerechnet
wird (Art. 32 Abs. 1 OR; BGE 143 III 157 E. 1.2.2 S. 158; 140 III 86 E. 4.1 S.
91). Dass der vormalige Rechtsvertreter der Beschwerdeführer anlässlich der
Abgabe des Rechtsmittelverzichts einem Willensmangel unterlegen wäre, wurde
jedoch nicht geltend gemacht.

2.6. Zusammenfassend hat der vormalige Rechtsvertreter der Beschwerdeführer
ohne Vorliegen von Willensmängeln nach Kenntnisnahme des Entscheids vom 31.
Januar 2017 der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern während
laufender Rechtsmittelfrist gestützt auf eine vorgängig kundgegebene und nicht
widerrufene Vollmacht gültig einen schriftlichen Rechtsmittelverzicht erklärt,
welche diesen Entscheid hat in formelle Rechtskraft erwachsen lassen. Das
angefochtene Urteil, mit welchem der Einzelrichter am Verwaltungsgericht Bern
auf die Beschwerde gegen den in formelle Rechtskraft erwachsenen Entscheid
nicht eingetreten ist, ist im Lichte der dem Bundesgericht eingereichten
Beschwerdeschrift nicht zu beanstanden, und die Beschwerde ist vollumfänglich
abzuweisen.

3.

Bei diesem Verfahrensausgang würden die Beschwerdeführer grundsätzlich
kostenpflichtig werden (Art. 66 Abs. 2 BGG). Das Gesuch der Beschwerdeführer,
deren Bedürftigkeit ausgewiesen ist, um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung kann angesichts dessen, dass ihre Beschwerde nicht als
aussichtslos zu bezeichnen ist (vgl. dazu BGE 139 III 475 E. 2.2 S. 476 f.),
gutgeheissen werden (Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG). Die Gerichtskosten werden
auf die Gerichtskasse genommen. Rechtsanwalt Remo Gilomen wird als
unentgeltlicher Rechtsvertreter bestellt und ihm wird aus der Gerichtskasse ein
amtliches Honorar ausgerichtet. Der Kanton Bern hat keinen Anspruch auf eine
Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.

Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird abgewiesen.

2.

Das Gesuch der Beschwerdeführer um unentgeltliche Rechtspflege wird
gutgeheissen.

2.1. Für das bundesgerichtliche Verfahren werden keine Gerichtskosten erhoben.

2.2. Rechtsanwalt Remo Gilomen wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter
bestellt. Ihm wird aus der Gerichtskasse ein amtliches Honorar von Fr. 2'500.--
ausgerichtet.

3.

Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Verwaltungsgericht des
Kantons Bern, Einzelrichter, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 22. März 2019

Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung

des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Seiler

Die Gerichtsschreiberin: Mayhall