Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.636/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
2C_636/2017  
 
 
Urteil vom 6. Juli 2018  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Seiler, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, Haag, 
Gerichtsschreiberin Genner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Roman Kern, 
 
gegen  
 
Migrationsamt des Kantons Thurgau, Langfeldstrasse 53a, 8500 Frauenfeld, 
Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau, Regierungsgebäude,
8510 Frauenfeld. 
 
Gegenstand 
Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
17. Mai 2017 (VG.2016.158). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ wurde am 9. Mai 1992 als türkischer Staatsangehöriger in der Schweiz
geboren und erhielt die Niederlassungsbewilligung. Am 15. August 2007 stellte
er ein Einbürgerungsgesuch. Das kantonale Amt für Handelsregister und
Zivilstandswesen empfahl ihm am 23. April 2008, das Gesuch zurückzuziehen. Die
Empfehlung beruhte auf der Einschätzung des Stadtrats von Kreuzlingen, wonach
A.________ kaum Kenntnisse über das Staats- und Gemeindewesen habe und über die
örtlichen, kantonalen und schweizerischen Verhältnisse zu wenig informiert
sei. 
A.________ erwirkte zunächst folgende Strafurteile: 
 
- Strafbefehl vom 17. Januar 2013: Busse von Fr. 150.-- wegen Widerhandlung
gegen das Betäubungsmittelgesetz (begangen zwischen 1. August 2012 und 24.
November 2012); 
- Strafbefehl vom 12. Juni 2015: Busse von Fr. 100.-- wegen Führens eines
Personenwagens, der sich nicht in vorschriftsgemässem Zustand befand (begangen
am 1. März 2015); 
- Urteil des Bezirksgerichts Kreuzlingen vom 21. Oktober 2015: Freiheitsstrafe
von 30 Monaten, davon 24 Monate bedingt vollziehbar bei einer Probezeit von
drei Jahren, und Busse von Fr. 300.-- wegen mehrfachen Raubs, mehrfachen
versuchten Raubs, mehrfacher Nötigung, versuchter Nötigung, mehrfachen
Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz, mehrfachen versuchten Vergehens
gegen das Betäubungsmittelgesetz, mehrfacher Übertretung des
Betäubungsmittelgesetzes und Vergehens gegen das Waffengesetz (begangen
zwischen 12. September 2012 und 22. März 2013). 
 
B.   
Am 6. Mai 2016 stellte das Migrationsamt des Kantons Thurgau A.________ den
Widerruf der Niederlassungsbewilligung in Aussicht und gewährte ihm das
rechtliche Gehör. A.________ äusserte sich am 10. Juni 2016 zur Sache. 
Während des Widerrufsverfahrens ergingen folgende Strafurteile: 
 
- Strafbefehl vom 31. Mai 2016: Geldstrafe von 30 Tagessätzen, bedingt
vollziehbar bei einer Probezeit von drei Jahren, und Busse von Fr. 450.-- wegen
Vergehens gegen das Waffengesetz (begangen am 18. Mai 2016) und Übertretung des
Betäubungsmittelgesetzes (begangen zwischen 21. Oktober 2015 und 18. Mai 2016);
 
- Strafbefehl vom 14. Juli 2016: Busse von Fr. 150.-- wegen Widerhandlung gegen
das (kantonale) Gastgewerbegesetz (begangen zwischen 11. März 2016 und 5. April
2016). 
Am 2. August 2016 widerrief das Migrationsamt die Niederlassungsbewilligung und
wies A.________ aus der Schweiz weg. Die dagegen erhobenen kantonalen
Rechtsmittel blieben erfolglos (Entscheid des Departements für Justiz und
Sicherheit des Kantons Thurgau vom 21. Oktober 2016; Urteil des
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 17. Mai 2017). 
 
C.  
A.________ erhebt am 13. Juli 2017 Beschwerde beim Bundesgericht mit den
Anträgen, die kantonalen Rechtsmittelentscheide seien aufzuheben und es sei vom
Widerruf der Niederlassungsbewilligung abzusehen. Von der Wegweisung sei
abzusehen und die Niederlassungsbewilligung sei zu verlängern. 
Das Verwaltungsgericht, das Departement für Justiz und Sicherheit sowie das
Migrationsamt schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat
für Migration hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. A.________ hat am 22.
September 2017 repliziert. 
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde ist am 17. Juli 2017 durch
einen Nichteintretensentscheid erledigt worden. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Gegen den Widerruf der Niederlassungsbewilligung ist die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig (BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4;
Urteil 2C_334/2017 vom 9. April 2018 E. 1.1). Auch die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen (Form, Frist und Legitimation gemäss Art. 42, Art.
100 Abs. 1 und Art. 89 Abs. 1 BGG) sind erfüllt. Auf die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist einzutreten, soweit damit die
Aufrechterhaltung der Niederlassungsbewilligung beantragt wird.  
 
1.2. Die Niederlassungsbewilligung wird unbefristet erteilt (Art. 34 Abs. 1 AuG
). Der Antrag, die Niederlassungsbewilligung sei zu verlängern, ist obsolet,
weshalb darauf nicht einzutreten ist.  
 
1.3. Gegen den Wegweisungsentscheid ist die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ausgeschlossen (Art. 83 lit. c Ziff. 4
BGG). Es ist zu prüfen, ob der entsprechende Antrag als subsidiäre
Verfassungsbeschwerde nach Art. 113 ff. BGG entgegengenommen werden kann. Gegen
Wegweisungsentscheide, mit denen Vollzugshindernisse durch kantonale Behörden
verneint werden, steht die subsidiäre Verfassungsbeschwerde offen, wenn sich
die betroffene ausländische Person auf besondere verfassungsmässige Rechte
berufen kann, die ihr unmittelbar ein rechtlich geschütztes Interesse im Sinn
von Art. 115 lit. b BGG verschaffen (BGE 137 II 305 E. 3.3 S. 310; Urteile
2C_53/2016 vom 23. Juni 2016 E. 5.1; 2D_58/2012 vom 23. Oktober 2012 E. 2.1).
Derartige Rechte sind etwa der Schutz des Lebens (Art. 10 Abs. 1 BV bzw. Art. 2
EMRK), das Verbot jeder Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung oder Bestrafung (Art. 10 Abs. 3 BV bzw. Art. 3 EMRK) oder das Verbot
einer Ausschaffung in einen Staat, in welchem der betroffenen Person Folter
oder eine andere Art grausamer und unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung
droht (Art. 25 Abs. 3 BV). Die entsprechenden Rügen müssen jeweils
rechtsgenügend begründet werden (Art. 116 BGG i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE
137 II 305 E. 3.3 S. 310).  
Der Beschwerdeführer rügt keines der erwähnten besonderen verfassungsmässigen
Rechte als verletzt. Die innenpolitischen Spannungen und Ausschreitungen in der
Türkei stellen für ihn keine konkrete Bedrohung der erwähnten besonderen
Grundrechte dar. Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist somit unzulässig. Auf
den Antrag auf Aufhebung des Wegweisungsentscheids ist nicht einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG
). In Bezug auf die Verletzung von Grundrechten gilt eine qualifizierte Rüge-
und Substanziierungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 143 II 283 E. 1.2.2; 139
I 229 E. 2.2 S. 232; 136 II 304 E. 2.5 S. 314).  
 
2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten
Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). "Offensichtlich
unrichtig" bedeutet dabei "willkürlich" (BGE 140 III 115 E. 2). Die
beschwerdeführende Partei kann die Feststellung des Sachverhalts unter den
gleichen Voraussetzungen beanstanden, wenn die Behebung des Mangels für den
Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG).  
 
2.3. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur so weit vorgebracht werden, als
erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG).  
 
2.3.1. Tatsachen oder Beweismittel, welche sich auf das vorinstanzliche
Prozessthema beziehen, sich jedoch erst nach dem angefochtenen Entscheid
ereignet haben oder entstanden sind, können von vornherein nicht durch das
angefochtene Urteil veranlasst worden sein (vgl. Urteil 2C_804/2016 vom 21.
März 2017 E. 2.3 mit Hinweis). Diese so genannten "echten Noven" sind im
bundesgerichtlichen Verfahren in jedem Fall unzulässig (BGE 139 III 120 E.
3.1.2; 133 IV 342 E. 2.1 S. 344). Diese Schranke gilt für alle
Verfahrensbeteiligten.  
Die vom Migrationsamt eingereichten Beweismittel, welche nach dem 17. Mai 2017
datieren, sind als echte Noven im vorliegenden Verfahren unbeachtlich. 
 
2.3.2. Art. 99 Abs. 1 BGG zielt auf Tatsachen ab, die erst durch das
angefochtene Urteil rechtserheblich werden. Solche sogenannte "unechte Noven"
sind beispielsweise zulässig, wenn die Vorinstanz ein neues rechtliches
Argument anführt, mit dem die Partei zuvor nicht konfrontiert worden war (vgl.
Urteil 2C_53/2016 vom 23. Juni 2016 E. 2.3.2). Unzulässig sind hingegen neue
Tatsachen, die bereits der Vorinstanz hätten vorgelegt werden können (BGE 136
III 123 E. 4.4.3 S. 129).  
Die Mailanfrage der Zollbehörde vom 4. März 2017 und den Antrag des
Beschwerdeführers auf Erteilung eines Rückreisevisums vom 10. Februar 2017
hätte das Migrationsamt im Verfahren vor der Vorinstanz einreichen können. Es
handelt sich um unzulässige unechte Noven im Sinn von Art. 99 Abs. 1 BGG. 
 
3.  
 
3.1. Die Niederlassungsbewilligung kann widerrufen werden, wenn die
ausländische Person zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde
oder gegen sie eine strafrechtliche Massnahme im Sinne von Art. 64 oder Art. 61
StGB (SR 311.0) angeordnet wurde (Art. 63 Abs. 1 lit. a AuG [SR 142.20] i.V.m. 
Art. 62 lit. b AuG in der hier noch anwendbaren, bis am 30. September 2016
gültig gewesenen Fassung vom 16. Dezember 2005 [AS 2007 5437 5455]). Als
längerfristig im Sinn von Art. 62 Abs. 1 lit. b AuG gilt eine Freiheitsstrafe,
welche die Dauer eines Jahres überschreitet (BGE 137 II 297 E. 2.1 S. 299; 135
II 377 E. 4.2 S. 379). Dieser Widerrufsgrund gilt auch für ausländische
Personen, die sich - wie der Beschwerdeführer - im Zeitpunkt des Widerrufs seit
mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhalten (
Art. 63 Abs. 2 AuG in der hier noch anwendbaren, bis am 31. Dezember 2017
gültig gewesenen Fassung vom 16. Dezember 2005 [AS 2007 5437 5456]).  
 
3.2. Der Widerruf einer Niederlassungsbewilligung ist nur zulässig, wenn er
sich als verhältnismässig im Sinn von Art. 96 Abs. 1 AuG und allenfalls Art. 8
Ziff. 2 EMRK erweist.  
 
3.2.1. Gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK ist ein Eingriff in die Garantien nach Art. 8
Ziff. 1 EMRK statthaft, wenn er gesetzlich vorgesehen ist und in einer
demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für
das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur
Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum
Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Die Konvention verlangt
damit eine Abwägung zwischen den privaten Interessen am Fortbestand der
Bewilligung und den öffentlichen Interessen an deren Widerruf, wobei Letztere
in dem Sinn überwiegen müssen, dass sich der Eingriff als notwendig erweist (
BGE 142 II 35 E. 6.1 S. 46; 139 I 145 E. 2.2 S. 147 f.; 135 I 153 E. 2.2.1 S.
156; 135 I 143 E. 2.1 S. 147; 122 II 1 E. 2 S. 6 mit Hinweisen).  
 
3.2.2. Die Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner Schweizer Freundin fällt
nicht in den Schutzbereich von Art. 8 Ziff. 1 EMRK: Weder lebte das Paar im
Zeitpunkt des angefochtenen Urteils in einem stabilen Konkubinat, noch lagen
konkrete Pläne für eine Heirat vor (vgl. Urteile 2C_804/2016 vom 21. März 2017
E. 4.1; 2C_97/2010 vom 4. November 2010 E. 3; 2C_225/2010 vom 4. Oktober 2010
E. 2.2). Der Beschwerdeführer kann sich somit nicht auf Art. 8 Ziff. 1 EMRK als
Recht auf Achtung des Familienlebens berufen.  
Das Gleiche gilt für das Verhältnis des Beschwerdeführers zu seiner Mutter und
seinen Geschwistern, mit denen er im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils
zusammenlebte: Hinsichtlich Beziehungen zwischen nahen Verwandten ausserhalb
der Kernfamilie, namentlich solchen von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern
(oder Geschwistern), setzt die Berufung auf Art. 8 Ziff. 1 EMRK voraus, dass
die ausländische Person sich in einem besonderen, über die normalen affektiven
Bindungen hinausgehenden Abhängigkeitsverhältnis zum anwesenheitsberechtigten
Elternteil (oder Geschwister) befindet (BGE 137 I 154 E. 3.4.2 S. 159; 129 II
11 E. 2 S. 14; Urteile 2C_804/2016 vom 21. März 2017 E. 4.1; 2C_147/2014 vom
26. September 2014 E. 5.4). Anhaltspunkte für solche aussergewöhnlichen
Umstände - wie etwa eine Behinderung oder eine schwere Krankheit - sind nicht
vorhanden. 
 
3.2.3. Unabhängig vom Vorliegen einer familiären Beziehungen kann eine
ausländerrechtliche Fernhaltemassnahme Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des
Privatlebens) verletzen, namentlich bei Ausländern der zweiten Generation (BGE
140 II 129 E. 2.2). Der Beschwerdeführer ist in der Schweiz geboren und
aufgewachsen. Unter dem Aspekt des Rechts auf Privatleben ist somit eine
Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 Ziff. 2 EMRK vorzunehmen. Diese
entspricht den Vorgaben von Art. 96 Abs. 1 AuG, wobei dort der Grad der
Integration ausdrücklich erwähnt wird.  
 
3.2.4. Die Zulässigkeit eines Eingriffs in das Recht auf Achtung des
Privatlebens beurteilt sich nach folgenden Kriterien: (1) Art und Schwere der
vom Betroffenen begangenen Straftat (en), (2) Dauer des Aufenthalts in dem
Staat, aus dem er weggewiesen werden soll, (3) Zeitablauf seit der Begehung des
Delikts und das Verhalten des Betroffenen während dieser Zeitspanne, (4)
Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen sowie (5) Intensität der sozialen,
kulturellen und familiären Bindungen zum Aufenthaltsstaat und zum Herkunftsland
(Urteil des EGMR  Shala gegen Schweiz vom 15. November 2012 [Nr. 52873/09] §
45; BGE 139 I 31 E. 2.3.3 S. 34 f.).  
 
3.2.5. Die Niederlassungsbewilligung einer ausländischen Person, die sich schon
seit langer Zeit hier aufhält, soll nur mit besonderer Zurückhaltung widerrufen
werden, doch ist dies bei wiederholter bzw. schwerer Straffälligkeit selbst
dann nicht ausgeschlossen, wenn sie hier geboren ist und ihr ganzes bisheriges
Leben im Land verbracht hat. In solchen Fällen muss selbst ein geringes
Restrisiko weiterer Delinquenz nicht in Kauf genommen werden (BGE 139 I 31 E.
2.3.2 S. 34). Handelt es sich um ausländische Personen, die - wie der
Beschwerdeführer - nicht in den Anwendungsbereich des FZA (SR 0.142.112.681)
fallen, dürfen auch generalpräventive Gesichtspunkte in die Beurteilung
einfliessen (Urteile 2C_145/2016 vom 14. November 2016 E. 3.3; 2C_53/2016 vom
23. Juni 2016 E. 4.3.1; 2C_260/2016 vom 6. Juni 2016 E. 2.2 mit Hinweisen).  
 
3.2.6. Ausgangspunkt für das migrationsrechtliche Verschulden ist die vom
Strafgericht ausgesprochene Strafe (BGE 134 II 10 E. 4.2 S. 23; 129 II 215 E.
3.1 S. 216). Geht es um Straftaten, welche der betreffende Ausländer als
Minderjähriger begangen hat, lässt nach der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte die allgemeine Erfahrung darauf schliessen,
dass Jugendliche sich in Entwicklung befinden, ihre Delinquenz als episodisch
erscheint und mit dem Übertritt ins Erwachsenenalter vielfach aufhört (vgl.
Urteile des EGMR  Emre gegen Schweiz [Nr. 1] vom 22. Mai 2008 [42034/04] § 74; 
Maslov gegen Österreich vom 23. Juni 2008 [Nr. 1638/03]) § 75). In derartigen
Konstellationen kommt dem Kriterium des Zeitablaufs seit der Tatbegehung und
einem Wohlverhalten während dieser Zeitspanne im Hinblick auf die Beurteilung
des Rückfallrisikos eine erhöhte Tragweite zu (Urteile 2C_795/2010 vom 1. März
2011 E. 3.3; 2C_18/2009 vom 7. September 2009 E. 2.3; 2C_98/2009 vom 10. Juni
2009 E. 2.5-2.7). Von entscheidender Bedeutung für die Interessenabwägung ist
aber auch, ob es sich bei den begangenen (Jugend-) Straftaten um Gewaltdelikte
handelt (Urteil des EGMR  Maslov §§ 81 und 84 f.).  
 
4.  
Der Beschwerdeführer anerkennt, dass aufgrund der Verurteilung zu einer
Freiheitsstrafe von 30 Monaten der Widerrufsgrund nach Art. 63 Abs. 1 lit. a
AuG i.V.m. Art. 62 lit. b AuG (vgl. E. 3.1) erfüllt ist. Zu prüfen bleibt die
Verhältnismässigkeit der Massnahme. 
 
4.1. Das öffentliche Interesse am Widerruf der Bewilligung stellt sich
folgendermassen dar:  
 
4.1.1. Der Beschwerdeführer wurde am 21. Oktober 2015 zu einer Freiheitsstrafe
von zweieinhalb Jahren verurteilt. Dem Urteil lagen verschiedene Straftaten
zugrunde; unter diesen kommt dem mehrfachen Raub und dem mehrfachen versuchten
Raub das grösste Gewicht zu. Die Strafe wurde zu einem grossen Teil bedingt
ausgesprochen, was Ausdruck der guten Prognose des Strafgerichts ist (vgl.
Urteil des Bezirksgerichts Kreuzlingen vom 2. Oktober 2015 E. 5k und 5l). Der
Beschwerdeführer war nicht einschlägig vorbestraft: Vor der
verfahrensauslösenden Verurteilung vom 21. Oktober 2015 hatte er sich zweimal
einer Übertretung schuldig gemacht. Die Vorinstanz hat zu Unrecht einen dritten
Strafbefehl vom 18. Mai 2015 (Busse von Fr. 300.--) angeführt. Dieser
Strafbefehl wurde durch den Strafbefehl vom 12. Juni 2015 (Busse von Fr.
100.--) ersetzt, was auf Letzterem klar vermerkt und daher zu berücksichtigen
ist (vgl. E. 2.2). Somit hat der Beschwerdeführer je eine Busse von Fr. 150.--
und von Fr. 100.-- erwirkt, bevor das Urteil des Bezirksgerichts Kreuzlingen
vom 21. Oktober 2015 erging. Er kann daher quasi als Ersttäter gelten.  
 
4.1.2. Indessen erwirkte der Beschwerdeführer nur wenige Monate nach der
verfahrensauslösenden Verurteilung zwei weitere Strafbefehle, wobei er die
zugrundeliegenden Delikte teils vor, teils nach der Einleitung des
Widerrufsverfahrens am 6. Mai 2016 beging. Wenngleich - wie schon bei den
geringfügigen Vorstrafen - keine hohen Rechtsgüter betroffen waren, offenbart
diese erneute Delinquez doch eine gewisse Geringschätzung der Rechtsordung. Der
Beschwerdeführer hat offensichtlich den Ernst der Lage verkannt, als er - trotz
der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten - erneut gegen das
Betäubungsmittelgesetz verstiess, wenn auch nur in Form einer Übertretung
(Strafbefehl vom 31. Mai 2016). Die Geldstrafe wegen Vergehens gegen das
Waffengesetz (Strafbefehl vom 31. Mai 2016) beruhte darauf, dass der
Beschwerdeführer beim Grenzübergang in die Schweiz im Ablagefach des
Personenwagens, in dem er als Beifahrer sass, ein Elektroschockgerät in Form
einer Taschenlampe mit sich führte. Der Busse von Fr. 150.-- (Strafbefehl vom
14. Juli 2016) lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer als Gast eines Hotels
einen falschen Namen angegeben hatte, um zu verhindern, dass jemand von seiner
Übernachtung im Hotel erführe.  
 
4.1.3. Die Delikte, welche der Beschwerdeführer vor und nach der
verfahrensauslösenden Verurteilung vom 21. Oktober 2015 begangen hat, wiegen
für sich genommen nicht schwer. Insgesamt fallen jedoch die Anzahl und Häufung
der Delikte negativ auf. So wurde der Beschwerdeführer zwei Mal wegen Vergehens
gegen das Waffengesetz und drei Mal wegen (teilweise mehrfach begangener)
Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz bestraft. In Verbindung mit
den schweren Delikten, welche zur Freiheitsstrafe von 30 Monaten führten,
ergibt sich das Bild einer über Jahre dauernden Straffälligkeit (Herbst 2012
bis Frühling 2016). Das Verschulden wird gemildert durch den Umstand, dass der
Beschwerdeführer bei der Begehung der Raubtaten erst 20 Jahre alt war. Auf ihn
als jungen Erwachsenen ist - mutatis mutandis - die Rechtsprechung des EGMR
anwendbar, wonach jugendliche Delinquenz episodisch verläuft und sich verlieren
kann (vgl. E. 3.2.6). Hier fällt jedoch ins Gewicht, dass es sich um
Gewaltdelikte handelt und das Strafmass mit 30 Monaten im Vergleich zur
Schwelle von 12 Monaten (vgl. E. 3.1) relativ hoch ist. Zudem kann dem
Beschwerdeführer weder für die Zeit vor der verfahrensauslösenden Verurteilung
vom 21. Oktober 2015 noch für die Zeit danach ein reines Wohlverhalten
attestiert werden.  
 
4.1.4. Der Beschwerdeführer gibt an, er sei bereits einmal verwarnt worden. Die
Vorinstanz erwähnt jedoch keine (fremdenpolizeiliche) Verwarnung; eine
entsprechende Verfügung ist - soweit ersichtlich - in den Akten nicht
vorhanden. Es ist daher davon auszugehen (vgl. E. 2.2), dass der
Beschwerdeführer nie verwarnt wurde. Es ist wünschbar, dass bei der ersten
einschlägigen Verurteilung eines sehr jungen Täters, der in der Schweiz geboren
und aufgewachsen ist, eine ausländerrechtliche Verwarnung ergeht, auch wenn der
Widerrufsgrund erfüllt ist ("letzte Chance", vgl. Urteil 2C_94/2016 vom 2.
November 2016 E. 3.4).  
Liegt unmittelbar eine schwere Delinquenz vor, kann diese ohne vorgängige
Verwarnung direkt zu einem Widerruf führen (vgl. Urteile 2C_516/2014 vom 24.
März 2015 E. 6; 2C_480/2013 vom 24. Oktober 2013 E. 4.5.3). So verhält es sich
hier: Als der Beschwerdeführer den Strafbefehl vom 17. Januar 2013 erwirkte,
hatte sich der erste Vorfall (13. September 2012) wegen Raubs, Nötigung und
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz bereits ereignet; das
Ermittlungsverfahren war im Gang. Weder die zwei Tage Untersuchungshaft Ende
November 2012 noch der Strafbefehl vom 17. Januar 2013 hielten den
Beschwerdeführer davon ab, seine Delinquenz fortzusetzen (Vorfälle von Februar
und März 2013). Eine Verwarnung hätte sich allenfalls noch aufgrund des jungen
Alters des Beschwerdeführers aufgedrängt. Dieser liess sich jedoch auch durch
den teilbedingten Strafvollzug im Zusammenhang mit der Verurteilung zu der
Freiheitsstrafe von 30 Monaten nicht beeindrucken (vgl. E. 4.1.2), so dass
fraglich ist, welche Wirkung eine Verwarnung auf ihn gehabt hätte. Sein
Verschulden erscheint durch die Tatsache, dass das Migrationsamt auf eine
Warnung verzichtete, nur geringfügig reduziert. 
 
4.1.5. Mit Blick auf die Schwere der Straftaten und das Verhalten des
Beschwerdeführers während des laufenden Strafverfahrens und des
Widerrufsverfahrens ist das sicherheitspolizeiliche Interesse an der Beendigung
des Aufenthalts als erheblich einzustufen.  
 
4.2. Den öffentlichen Interessen am Widerruf der Bewilligung sind die privaten
Interessen an deren Aufrechterhaltung gegenüberzustellen.  
 
4.2.1. Der Beschwerdeführer hat aufgrund der Tatsache, dass er in der Schweiz
geboren und aufgewachsen ist, ein grosses Interesse an einem Verbleib in der
Schweiz.  
 
4.2.2. Seine berufliche Integration ist sehr gut; er hat eine Lehre als
Produktionsmechaniker abgeschlossen und war immer erwerbstätig. In sozialer
Hinsicht ist zu erwähnen, dass seine Freundin die schweizerische
Staatsbürgerschaft besitzt. Es kann auch daraus, dass dem Beschwerdeführer im
April 2008 der Rückzug des Einbürgerungsgesuchs nahegelegt wurde, nichts zu
seinen Ungunsten abgeleitet werden, war er doch in jenem Zeitpunkt noch nicht
einmal 16 Jahre alt; zudem ist über die näheren Umstände dieses
Einbürgerungsgesuchs nichts bekannt. Der Beschwerdeführer darf als gut
integriert gelten, wenngleich die Straffälligkeit das Bild trübt.  
 
4.2.3. Ob der Beschwerdeführer nur über rudimentäre Türkischkenntnisse verfügt,
wie er vorbringt, kann (und muss) offenbleiben (die Vorinstanz hat ohne
einschlägige Indizien angenommen, der Beschwerdeführer spreche gut Türkisch),
denn es kann ihm zugemutet werden, entsprechende Lücken zu schliessen. Mit
seiner Ausbildung dürfte es ihm in der Türkei nicht übermässig schwerfallen,
eine neue Existenz aufzubauen.  
 
4.2.4. Zusammenfassend ist das private Interesse des Beschwerdeführers an einem
Verbleib in der Schweiz als relativ hoch einzustufen, insbesondere weil er hier
geboren und aufgewachsen und beruflich sehr gut integriert ist. Die Wirkung des
Einschnitts ist jedoch insofern zu relativieren, als der Beschwerdeführer ledig
und kinderlos ist, weshalb das Recht auf Achtung des Familienlebens nicht
berührt ist (vgl. E. 3.2.2).  
 
4.3. Insgesamt überwiegen die öffentlichen Interessen an der Beendigung des
Aufenthalts die zwar anerkennenswerten, aber nicht herausragenden privaten
Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib in der Schweiz. Der Widerruf
der Niederlassungsbewilligung erweist sich als verhältnismässig.  
 
5.  
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist abzuweisen, soweit
darauf einzutreten ist. Auf die (sinngemäss erhobene) subsidiäre
Verfassungsbeschwerde betreffend Wegweisung ist nicht einzutreten. 
Der unterliegende Beschwerdeführer trägt die Kosten des Verfahrens (Art. 66
Abs. 1 BGG). Es ist keine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird abgewiesen,
soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird nicht eingetreten. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich
mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 6. Juli 2018 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Seiler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Genner 

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