Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.348/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
2C_348/2017  
 
 
Urteil vom 1. März 2018  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Zünd, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichterin Aubry Girardin, 
Bundesrichter Haag, 
Gerichtsschreiber Errass. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.B.________, 
Beschwerdeführerin, 
teilweise vertreten durch Rechtsanwalt Florian Wick, 
und teilweise vertreten durch 
B.B.________, 
gegen  
 
Migrationsamt des Kantons Zürich, 
Berninastrasse 45, 8090 Zürich, 
Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich, 
Neumühlequai 10, 8090 Zürich. 
 
Gegenstand 
Widerruf der Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 2.
Abteilung, vom 21. Februar 2017 (VB.2016.00607). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.B.________ (1962; Dänin) reiste am 10. Januar 2003 in die Schweiz. Sie
erhielt am 28. März 2003 eine EG/EFTA Aufenthaltsbewilligung zum Verbleib bei
der Tochter B.B.________ (19. Juni 1994) bzw. zum Familiennachzug ohne
Erwerbstätigkeit. Diese Aufenthaltsbewilligung wurde jeweils mit dem Vermerk
"berechtigt zur Erwerbstätigkeit" verlängert. Vom 1. September 2004 bis 31.
August 2012 wurde sie von den Sozialen Diensten der Stadt Zürich mit Fr.
164'667.25 unterstützt. Nach Verlegung des Wohnsitzes nach Meilen bezog sie bis
September 2016 Fr. 113'859.90 Sozialhilfegelder. 
In den Jahren 2006 und 2007 arbeitete A.B.________ zu 50% in einem
Arbeitsintegrationsprogramm der sozialen Einrichtungen und Betriebe der Stadt
Zürich. Das Gesuch vom 26. Oktober 2012 um Zusprechung von IV-Leistungen wies
die IV-Stelle Zürich am 1. November 2013 ab. Das neue Gesuch vom 27. Oktober
2014 wies die IV-Stelle mit Vorbescheid vom 27. April 2016 und mit Verfügung
vom 7. Juli 2016 ab. Dagegen erhob A.B.________ Beschwerde beim
Sozialversicherungsgericht. 
 
B.  
Am 16. März 2015 widerrief das Migrationsamt die Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA
von A.B.________ und setzte ihr eine Frist zum Verlassen der Schweiz. Die
Sicherheitsdirektion wies den dagegen gerichteten Rekurs ab. Das
Verwaltungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde gegen den
abgewiesenen Rekurs am 21. Februar 2017 ab. 
 
C.  
Vor Bundesgericht beantragt A.B.________, - vertreten durch ihre Tochter - ihr
die Aufenthaltsbewilligung auf unbestimmte Zeit bzw. - subsidiär - bis zum
Entscheid einer IV-Rente zu verlängern und - vertreten durch ihren Anwalt - die
Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheides des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich
vom 21. Februar 2017 aufzuheben (unentgeltliche Rechtspflege), ihr für das
vorinstanzliche Verfahren unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und in der
Person ihres Anwalts einen unentgeltlichen Rechtsbeistand beizuordnen. Für das
bundesgerichtliche Verfahren beantragt sie ebenfalls unentgeltliche
Rechtspflege. 
 
D.  
Das Verwaltungsgericht beantragt Abweisung der Beschwerde ohne sich vernehmen
zu lassen, die Sicherheitsdirektion verzichtet auf einen Antrag und auf eine
Vernehmlassung. Am 19. Juni 2017 reichte Dr. med. C.________ sodann ein
ärztliches Attest ein, gemäss welchem eine Ausweisung der Beschwerdeführerin
aus der Schweiz aus ärztlicher Sicht äusserst problematisch sei. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Das Migrationsamt hat mit Verfügung vom 16. März 2015 die
Aufenthaltsbewilligung, welche bereits am 15. Januar 2015 abgelaufen ist,
widerrufen. Implizit hat es damit die Verlängerung der abgelaufenen
Aufenthaltsbewilligung verweigert (siehe Art. 23 VEP [SR 142.203]). Auf dem
Gebiet des Ausländerrechts ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten gegen Entscheide ausgeschlossen, welche Bewilligungen
betreffen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch
einräumen (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG). Für das Eintreten genügt, wenn die
ausländische Person in vertretbarer Weise dartut, dass potentiell ein Anspruch
auf die von ihr beantragte Bewilligung besteht; ob die jeweilige Voraussetzung
tatsächlich gegeben ist, bildet praxisgemäss Gegenstand der materiellen
Beurteilung.  
Die Vorinstanz hat ausführlich dargelegt, dass weder ein Verbleiberecht nach
Art. 4 Anhang I zum Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren
Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681)
noch ein Anspruch gestützt auf Art. 24 Anh. I FZA (Personen, die keine
Erwerbstätigkeit ausüben) besteht. Die Beschwerdeführerin führt nicht aus,
inwiefern ein solcher Anspruch gleichwohl gegeben sein könnte. Insofern ist die
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gemäss Art. 83 lit. c
Ziff. 2 BGG ausgeschlossen. Dies gilt auch - entsprechend dem Grundsatz der
Einheit des Verfahrens - für die Frage der unentgeltlichen Rechtspflege und
Verbeiständung. 
 
1.2. Für die Ergreifung der subsidiären Verfassungsbeschwerde nach Art. 113 ff.
BGG fehlt es der Beschwerdeführerin mangels Rechtsanspruchs in der Sache am
rechtlich geschützten Interesse; die Verletzung von Parteirechten macht sie mit
Bezug auf die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nicht geltend. Zulässig
ist die subsidiäre Verfassungsbeschwerde aber im Hinblick auf die Verweigerung
der unentgeltlichen Rechtspflege.  
 
1.3. Im Rahmen der subsidiären Verfassungsbeschwerde kann nur eine Verletzung
verfassungsmässiger Rechte gerügt werden, welche präzise und qualifiziert
begründet werden muss (vgl. Art. 116 i.V.m. Art. 117 i.V.m. Art. 106 Abs. 2 BGG
). Die Beschwerdeführerin bringt genügend klar und detailliert vor, dass die
Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung Art. 29 Abs. 3
BV verletzen würde.  
 
1.4. Auf das im Übrigen form- und fristgerecht eingereichte Rechtsmittel in
Bezug auf die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege ist somit
einzutreten, auf dasjenige in Hinblick auf eine Verlängerung der
Aufenthaltsbewilligung nicht.  
 
2.   
 
2.1. Die Beschwerdeführerin moniert, dass die Vorinstanz zu Unrecht die
Beschwerde als aussichtslos bezeichnet habe. Im Wesentlichen macht sie geltend,
dass die Vorinstanz erst ex post und nicht ex ante zu diesem Schluss gekommen
sei. Dies widerspreche Art. 29 Abs. 3 BV und dem Willkürverbot. Ob ein Begehren
aussichtslos sei, beurteile sich im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung - also ex
ante. Die Prüfung der Erfolgsaussichten sei summarischer Natur, bei der nicht
ein allzu strenger Massstab anzulegen sei und es genüge, wenn die relevanten
Tatsachen glaubhaft erstellt seien. Die Beschwerdeführerin habe als
Eventualantrag die Sistierung des Verfahrens beantragt, bis ein rechtskräftiger
Entscheid zum IV-Gesuch vorliege. Die Vorinstanz habe das Verfahren gestützt
auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung nicht sistiert, obwohl sie ausgeführt
habe, dass ein positiver Entscheid des Sozialversicherungsgerichts auch eine
Gutheissung der migrationsrechtlichen Frage zur Folge hätte. Daraus gehe
hervor, dass die Vorinstanz ihren Entscheid erst nach umfangreichen Abklärungen
habe fassen können. Im Übrigen sei auch nicht ex ante voraussagbar gewesen,
dass eine Sistierung abgelehnt werden würde. Insgesamt sei erkennbar, dass die
Vorinstanz ihren Entscheid in Bezug auf die Aussichtslosigkeit ex post gefasst
habe, was Art. 29 Abs. 3 BV verletze. Dies zeige auch der Umstand, dass die
Vorinstanz eine vollständige Ausfertigung der Sozialhilfebeiträge im Zeitraum
2004 bis zu ihrem Wegzug aus der Stadt Zürich beim Sozialzentrum Selnau
angefordert und ihr zur Gewährung des rechtlichen Gehörs zugestellt habe. Ziehe
ein Gericht auf eigene Initiative hin weitere Unterlagen zur
Sachverhaltsfeststellung bei, so könne nicht apriori von einem aussichtslosen
Fall gesprochen werden. Dies gelte erst recht, wenn zu diesen Unterlagen noch
das rechtliche Gehör gewährt werden müsse. Insofern erscheine es willkürlich,
von Aussichtslosigkeit zu sprechen, wenn nach Anhandnahme des Verfahrens das
Verwaltungsgericht selbst in Beantwortung der Untersuchungsmaxime zuerst noch
weitere Unterlagen einholen müsse, um die Sache abschliessend beurteilen zu
können.  
 
2.2. Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art.
29 Abs. 3 BV Begehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich
geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft
bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos,
wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder
jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die
über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem
Prozess entschliessen würde. Eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene
Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht deshalb anstrengen können, weil
er sie nichts kostet (BGE 139 III 396 E. 1.2 S. 397). Ob im Einzelfall
genügende Erfolgsaussichten bestehen, beurteilt sich aufgrund einer vorläufigen
und summarischen Prüfung der Prozessaussichten, wobei die Verhältnisse im
Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs massgebend sind (BGE 138 III 217 E. 2.2.4
S. 218).  
 
2.3. Massstab für die Beurteilung der Prozessaussichten bildet das FZA - im
vorliegenden Fall also Art. 4 und Art. 24 Anh. I FZA. Ein Blick auf Art. 4 Anh.
I FZA i.V.m. Art. 2 der Verordnung [EWG] Nr. 1251/70 der Kommission vom 29.
Juni 1970 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung
im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben ([KommV 1251/70]; ABl. L
142 vom 30.6.1970 S. 24) musste bereits bei der Beschwerdeerhebung (und damit
auch bei der Gesuchseinreichung) zeigen, dass die Gewinnaussichten für ein
Verbleiberecht beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren. Dasselbe
gilt auch in Bezug auf Art. 24 Anh. I FZA. Nach dessen lit. a muss die Person,
die keine Erwerbstätigkeit ausübt, u.a. über ausreichende finanzielle Mittel
verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch
nehmen muss. Unbestritten ist (Art. 97 und 105 Abs. 1 und 2 BGG), dass die
Beschwerdeführerin zuerst in der Stadt Zürich und anschliessend in Meilen mit
sehr hohen Beträgen unterstützt werden musste. Insofern ist eine Voraussetzung
für ein Recht nach Art. 24 Anh. I FZA offensichtlich nicht erfüllt. Was die
beantragte Verfahrenssistierung betrifft, so wäre eine solche höchstens in
Zweifelsfällen geboten gewesen (BGE 141 II 1); das Verwaltungsgericht kam aber
zum Schluss, es liege ein klarer Fall vor. Schliesslich vertritt die
Beschwerdeführerin die Auffassung, dass ihr Fall nicht offensichtlich
aussichtslos gewesen sei, weil die Vorinstanz eine vollständige Ausfertigung
der Sozialhilfebeiträge im Zeitraum 2004 bis zu ihrem Wegzug aus der Stadt
Zürich beim Soialzentrum Selnau angefordert und ihr zur Gewährung des
rechtlichen Gehörs zugestellt habe. Insofern sei der Sachverhalt nicht
vollständig erstellt gewesen. Auch hier trifft die Rüge ins Leere. Im Zeitpunkt
der Gesuchseinreichung waren der Beschwerdeführerin ihre sehr hohen
Sozialhilfebezüge bekannt, die einer Anwendung von Art. 24 Anh. I FZA
entgegenstehen. Die vom Sozialzentrum Selnau verlangte vollständige
Ausfertigung der Sozialbeiträge, die wohl zur korrekten Darstellung des
Sachverhalts diente, ändert daran nichts. Dabei muss davon ausgegangen werden,
dass der Arbeitsaufwand für die Ausübung des rechtlichen Gehörs nicht ins
Gewicht gefallen sein kann, denn ob eine Zahlung weniger oder mehr aufgelistet
ist, ob eine Zahlung höher oder tiefer ausfällt, ändert bei einem
Sozialhilfebeitrag von rund Fr. 160'000.-- plus Fr. 110'000.-- (rund Fr.
270'000.--) nichts an der fehlenden Voraussetzung von Art. 24 Abs. 1 Anh. I
FZA.  
 
3.  
Demnach wird auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten in
Bezug auf eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nicht eingetreten, und
die subsidiäre Verfassungsbeschwerde in Hinblick auf die Verweigerung der
unentgeltlichen Rechtspflege erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen.
Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann wegen Aussichtslosigkeit der
Beschwerde nicht entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 BGG). Die
Beschwerdeführerin hat demnach dem Verfahrensausgang entsprechend die
bundesgerichtlichen Kosten grundsätzlich zu tragen. Angesichts der besonderen
Umstände wird auf eine Erhebung der Gerichtskosten verzichtet (Art. 66 Abs. 1
BGG). Parteientschädigungen sind keine geschuldet. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird nicht
eingetreten. 
 
2.  
Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird abgewiesen. 
 
3.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
4.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Zürich, 2. Abteilung, und dem Staatssekretariat für Migration
schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 1. März 2018 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Zünd 
 
Der Gerichtsschreiber: Errass 

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