Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.145/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
2C_145/2017  
 
 
Urteil vom 5. März 2018  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Seiler, Präsident, 
Bundesrichter Donzallaz, Stadelmann. 
Gerichtsschreiber Klopfenstein. 
 
Verfahrensbeteiligte 
1. A.________, 
2. B.________, 
Beschwerdeführer, 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Roman Kern, 
 
gegen  
 
Migrationsamt des Kantons St. Gallen, 
Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen. 
 
Gegenstand 
Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 20. Dezember 2016 (B 2015/284). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die serbische Staatsangehörige A.________ (geb. 1987) heiratete am 29. Januar
2011 C.________ (mazedonischer und tschechischer Staatsangehöriger, geb. 1984).
Das Paar hat den gemeinsamen Sohn B.________ (geb. 2011), welcher neben der
serbischen und mazedonischen auch über die tschechische Staatsbürgerschaft
verfügt. Im Sommer 2011 reiste die Familie in die Schweiz ein. C.________
erhielt eine bis zum 12. Juni 2016 gültige Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA,
seine Ehefrau und der Sohn eine bis zum 12. Juni 2016 bzw. 12. Juni 2016
gültige (abgeleitete) Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA. Im April 2014 trennte
sich das Ehepaar und C.________ reiste alleine nach Italien aus. 
 
B.  
Mit Verfügung vom 30. September 2014 widerrief das Migrationsamt des Kantons
St. Gallen die Aufenthaltsbewilligungen EU/EFTA von A.________ und B.________
und wies sie unter Ansetzung einer Ausreisefrist aus der Schweiz weg. Die von
den Betroffenen hiergegen erhobenen Rechtsmittel blieben ohne Erfolg; zuletzt,
mit Urteil vom 20. Dezember 2016, wies das Verwaltungsgericht des Kantons St.
Gallen die gegen den abschlägigen Departementsentscheid vom 19. Oktober 2015
erhobene Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat. 
In der Zwischenzeit - am 22. September 2016 - war die Ehe geschieden, der Sohn
unter das gemeinsame Sorgerecht der Eltern gestellt und die alleinige Obhut der
Mutter verfügt worden. Dem Kindsvater C.________ - der inzwischen wieder in die
Schweiz eingereist war und im Kanton Bern eine neue, bis zum 17. März 2020
gültige Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA erhalten hatte - wurde ein
gerichtsübliches Besuchsrecht zugesprochen und er wurde zu Unterhaltszahlungen
verpflichet. 
 
C.  
Mit Eingabe vom 6. Februar 2017 führen A.________ und B.________ beim
Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den
Hauptanträgen, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom
20. Dezember 2016 aufzuheben und die Aufenthaltsbewilligungen nicht zu
widerrufen bzw. zu verlängern. 
Das kantonale Migrationsamt hat sich nicht vernehmen lassen. Das Sicherheits-
und Justizdepartement schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das
Verwaltungsgericht beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf
einzutreten sei. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) lädt das
Bundesgericht ein, die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Mit Verfügung vom 7. Februar 2017 hat der Abteilungspräsident der Beschwerde -
antragsgemäss - aufschiebende Wirkung zuerkannt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde richtet sich gegen den verfahrensabschliessenden Entscheid
einer letzten kantonalen Instanz in einer Angelegenheit des öffentlichen Rechts
(Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Art. 90 BGG). Die Beschwerdeführer
machen in vertretbarer Weise einen Bewilligungsanspruch nach FZA (SR
0.142.112.681) sowie Art. 50 AuG (SR 142.20) geltend (Art. 83 lit. c Ziff. 2
BGG e contrario; BGE 139 I 330 E. 1.1 S. 332). Da auch die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.  
 
1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG
), prüft jedoch unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und
Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) nur die geltend gemachten
Vorbringen, sofern rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE
142 I 135 E. 1.5 S. 144). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den
die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung
im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Die beschwerdeführende
Partei kann die Feststellung des Sachverhalts unter den gleichen
Voraussetzungen beanstanden, wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des
Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Dabei gelten, wie bei
den in Art. 106 Abs. 2 BGG genannten Rügen, strenge Anforderungen an die
Begründung (BGE 139 I 72 E. 9.2.3.6 S. 96 mit Hinweis).  
 
2.  
Die Vorinstanz hat im Wesentlichen erwogen, da die Beschwerdeführerin
rechtskräftig von ihrem Ehemann geschieden sei, könne sie als
Drittstaatsangehörige aus dem FZA für sich selber keinen Anspruch auf einen
weiteren Aufenthalt in der Schweiz mehr ableiten. Auch dem sechseinhalbjährigen
Sohn stehe aus Art. 3 Abs. 6 FZA kein Aufenthaltsrecht zu, da er
familienrechtlich unter der alleinigen Obhut der Mutter stehe und erst den
Kindergarten besuche, weshalb der entsprechende Unterricht ohne
Beeinträchtigung der freizügigkeitsrechtlichen Ansprüche im Herkunftsland
seiner Mutter erfolgen könne. Ebenso wenig bestünden Ansprüche aus Art. 50 AuG,
da die Ehegemeinschaft in der Schweiz (mit Blick auf Abs. 1 lit. a) weniger als
drei Jahre gedauert habe und (mit Blick auf Abs. 1 lit. b) ein weiterer
Aufenthalt hier nicht geboten erscheine. 
 
3.  
Nach Art. 3 Abs. 6 Anhang I FZA dürfen die Kinder eines Staatsangehörigen einer
Vertragspartei unabhängig davon, ob dieser im Hoheitsgebiet der anderen
Vertragspartei eine Erwerbstätigkeit ausübt, eine solche ausgeübt hat oder
erwerbslos ist, unter den gleichen Bedingungen am allgemeinen Unterricht sowie
an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen wie die Staatsangehörigen des
Aufnahmestaates. Die Regelung ist Art. 12 der von der Schweiz als "Acquis
communautaire" übernommenen Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15.
Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft
(ABl. L 257 vom 19. Oktober 1968 S. 2 ff.) nachgebildet und stimmt mit dieser
fast wörtlich überein. Sie verschafft ihnen einen Anspruch auf einen weiteren
Aufenthalt, um die Ausbildung abschliessen zu können, wenn ihnen die Rückkehr
in die Heimat nicht zugemutet werden kann (Urteil des EuGH vom 15. März 1989
C-389/87 und C-390/87  Echternach und Moritz, Slg. 1989-723 Randnr. 23).  
In seiner Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 6 Anhang I FZA (namentlich in BGE 139
II 393 ff., siehe dort) hat das Bundesgericht indessen den Anspruch des Kindes
eines Wanderarbeitnehmers aus den Vertragsstaaten, die begonnene Ausbildung
abzuschliessen, verneint, wenn die eheliche Beziehung zur
drittstaatsangehörigen Mutter im Zeitpunkt der Aufnahme der Ausbildung bereits
inhaltslos geworden ist und nur noch formell Bestand hatte. Ferner hat es
erwogen, Sinn und Zweck des in Art. 3 Abs. 6 des Anhangs I zum FZA übernommenen
selbständigen Anwesenheitsrechts für Kinder von Bürgern aus EU- oder
EFTA-Staaten bzw. deren Partnern sei es, über die Teilnahme am allgemeinen
Unterricht die Integration in der Aufnahmegesellschaft zu fördern, was
voraussetze, dass die Kinder tatsächlich über diesen (bzw. anschliessend
während der Lehrlings- und Berufsausbildung) bei (noch) intakter
Familiengemeinschaft bereits in nennenswerter Weise begonnen hätten, sich zu
integrieren bzw. massgebliche Beziehungen ausserhalb der Kernfamilie
auszubilden. Das sei bei Kleinkindern, die noch in erster Linie auf den
familiären Bereich bezogen lebten, nicht der Fall, auch wenn sie in eine
Tageskrippe oder allenfalls in den Kindergarten gingen (zit. BGE, E. 4.2.2). 
Im vorliegenden Fall haben sich die Eltern des Beschwerdeführers 2 getrennt,
noch bevor dieser drei Jahre alt war bzw. seine Ausbildung in Angriff nahm. Die
Vorinstanz hat ihm daher zu Recht einen Aufenthaltsanspruch nach Art. 3 Abs. 6
Anhang I FZA abgesprochen. 
 
4.  
 
4.1. Gemäss Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA hat eine Person, welche die
Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzt und keine Erwerbstätigkeit im
Aufenthaltsstaat ausübt ein Anwesenheitsrecht unter der Voraussetzung, dass sie
über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, so dass sie nicht auf Sozialhilfe
angewiesen und sie überdies krankenversichert ist. Diese Regelung ist der
Richtlinie 90/364/EWG des Rates vom 28. Juni 1990 über das Aufenthaltsrecht
(ABl. L 180 vom 13. Juli 1990 S. 26 f.) nachgebildet. Anforderungen in Bezug
auf die Herkunft der ausreichenden finanziellen Mittel ergeben sich weder aus 
Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA noch aus Art. 1 Abs. 1 der RL 90/364/EWG. Der EuGH
hat daher entschieden, dass die Bedingung ausreichender finanzieller Mittel
nicht dahin ausgelegt werden könne, dass der Betroffene selber über solche
Mittel verfügen müsse (Urteile vom 19. Oktober 2004 C-200/02 i.S.  Zhu und Chen
, Slg. 2004 I-9925 Randnrn. 30 und 33; vom 23. März 2006 C-408/03 i.S.
Kommission gegen Belgien, Slg. 2006 I-2647 Randnrn. 40 und 41); die
finanziellen Mittel könnten auch von Familienangehörigen (Urteil Kommission
gegen Belgien, a.a.O., Randnr. 42) oder sonstigen Dritten stammen (Urteil
Kommission gegen Belgien, a.a.O., Randnrn. 45 ff.). Das Bundesgericht ist
dieser Auslegung für die Anwendung von Art. 24 Anhang I FZA beigetreten (vgl.
ausführlich BGE 142 II 35).  
Dem Urteil  Zhu und Chen lag der Aufenthaltsanspruch eines
freizügigkeitsberechtigten Kleinkindes zugrunde, das vermittelt über
Familienangehörige über ausreichende finanzielle Mittel verfügte. Da ein
Kleinkind seinen Aufenthaltsanspruch auf sich allein gestellt nicht wahrnehmen
kann, entschied der Gerichtshof, dass unter der Voraussetzung ausreichender
finanzieller Mittel auch die sorgeberechtigte drittstaatsangehörige Mutter
aufenthaltsberechtigt sei (Urteil  Zhu und Chen, a.a.O., Randnrn. 46 f.). Das
Bundesgericht schloss sich dieser Rechtsprechung unter dem Gesichtswinkel von 
Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA nach einigem Zögern (vgl. das Urteil 2C_33/2007 vom
14. März 2008) in nunmehr konstanter Rechtsprechung an (BGE 142 II 35 E. 5.2 S.
44 mit weiteren Hinweisen).  
 
4.2. Nach übereinstimmender Darstellung im angefochtenen Entscheid (S. 8 / 10)
sowie in der Beschwerdeschrift (S. 4 / 5) ist die Beschwerdeführerin weder
verschuldet noch hat sie je Sozialhilfe bezogen, sie arbeitet und kommt für
ihren Lebensunterhalt bzw. - zusammen mit den Unterhaltsbeiträgen des
Kindsvaters - denjenigen ihres Sohnes selber auf. Damit ist nicht
ausgeschlossen, dass die beiden Beschwerdeführer nach der Praxis  Zhu und Chen 
(vorne E. 4.1) je für sich einen eigenen freizügigkeitsrechtlichen
Aufenthaltsanspruch geltend machen können. Die Vorinstanz hat zur Frage der
ausreichenden finanziellen Mittel, die der Mutter und dem Kind zur Verfügung
stehen, jedoch keine tatsächlichen Feststellungen getroffen. Dies hätte sie
aber im Rahmen ihrer Verpflichtung zur Ermittlung des rechtserheblichen
Sachverhalts und der Rechtsanwendung von Amtes wegen (vgl. Art. 110 BGG) tun
müssen. Indem sie es unterliess, veletzte sie Bundesrecht.  
 
5.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen, der angefochtene Entscheid
aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung und zu neuem Entscheid im Sinne
der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird in ihrem Entscheid
auch die inzwischen ergangene Präzisierung der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung zur Anwendbarkeit von Art. 50 AuG berücksichtigen für
Konstellationen wie der vorliegenden, wo der EU-angehörige Ex-Ehegatte nur eine
Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA und nicht eine Niederlassungsbewilligung besass
bzw. nach wie vor besitzt (vgl. Urteil 2C_222/2017 vom 29. November 2017, zur
Publikation vorgesehen). 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66
Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton St. Gallen hat den Beschwerdeführern für das
bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung auszurichten
(Art. 68 Abs. 1 BGG) 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 20. Dezember 2016 aufgehoben und die Sache zur
Neubeurteilung und neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz
zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton St. Gallen hat den Beschwerdeführern für das Verfahren vor
Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-- auszurichten. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des
Kantons St. Gallen und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich
mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 5. März 2018 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Seiler 
 
Der Gerichtsschreiber: Klopfenstein 

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