Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2C.112/2017
Zurück zum Index II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017
Retour à l'indice II. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2017


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

[displayimage]       
2C_112/2017            

 
 
 
Urteil vom 14. September 2017  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Seiler, Präsident, 
Bundesrichter Donzallaz, 
Bundesrichter Haag, 
Gerichtsschreiber Hugi Yar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Marc Spescha, 
 
gegen  
 
Migrationsamt des Kantons Thurgau, 
Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau. 
 
Gegenstand 
Widerruf der Niederlassungsbewilligung EU/EFTA, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des 
Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau 
vom 30. November 2016. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ (geb. 1970) ist italienischer Staatsangehöriger. Er kam am 18. März
1982 im Familiennachzug in die Schweiz und verfügt hier seither über eine
Niederlassungsbewilligung. Von 1990 bis Mitte Februar 2017 beging A.________ im
Zusammenhang mit seiner Drogenabhängigkeit zahlreiche Straftaten
(Beschaffungskriminalität). Insgesamt wurde er rund 30 Mal zu Bussen, Geld-
sowie Freiheitsstrafen (von insgesamt 17 Monaten) verurteilt. Vom 29. Mai 1991
bis zum 29. Juli 1994 sowie vom November 1994 bis Februar 1995 befand er sich
in einer Arbeitserziehungsanstalt, nachdem ihn die Kriminalkammer des Kantons
Thurgau unter anderem wegen bandenmässigen, teils versuchten Diebstahls,
mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfachen Betrugs und mehrfacher Entwendung sowie
(teilweise) schwerer Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig
gesprochen hatte. Ein erstes Entzugsprogramm (Methadon) scheiterte und
A.________ wurde wegen weiterer Delikte belangt. 
 
B.  
Am 20. Oktober 2014 erklärte das Bezirksgericht Frauenfeld A.________ unter
anderem wegen Diebstahls, mehrfachen Hausfriedensbruchs, Beschimpfung,
mehrfacher Drohung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, versuchter Nötigung,
mehrfachen Fahrens in fahrunfähigem Zustand, Fahrens ohne Berechtigung sowie
mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes für schuldig und
verurteilte ihn zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 9 Monaten und einer
Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu Fr. 30.-- (bedingt). Am 5. Juni 2015 widerrief
das Migrationsamt des Kantons Thurgau die Niederlassungsbewilligung von
A.________ und hielt ihn an, das Land zu verlassen. Trotz dreier
ausländerrechtlicher Verwarnungen (1990, 1993 und 2006) habe er unbeeindruckt
weiter und immer schwerer gegen die hiesige Rechtsordnung verstossen. Aufgrund
seines jahrzehntelangen ununterbrochenen deliktischen Verhaltens müsse davon
ausgegangen werden, dass er die hiesige öffentliche Sicherheit und Ordnung nach
wie vor gefährde und eine nicht zu unterschätzende Rückfallgefahr bestehe; eine
Rückkehr nach Italien sei ihm zumutbar, nachdem er sich weder sozial noch
beruflich integriert und hier von der öffentlichen Hand gelebt habe bzw. seinen
Lebensunterhalt heute gestützt auf eine IV-Rente und entsprechende
Ergänzungsleistungen bestreite. Die hiergegen gerichteten kantonalen
Rechtsmittel blieben im Wesentlichen ohne Erfolg: Das Departement für Justiz
und Sicherheit des Kantons Thurgau wies den Rekurs von A.________ am 10.
Dezember 2015 ab. Das Verwaltungsgericht hiess die hiergegen gerichtete
Beschwerde am 30. November 2016 insofern teilweise gut, als das Departement das
Gesuch von A.________ um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung
abgewiesen hatte; in der Sache selber bestätigte es den Widerruf der
Niederlassungsbewilligung und die damit verbundene Ausreisepflicht von
A.________. 
 
C.  
A.________ beantragt vor Bundesgericht, den Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Thurgau aufzuheben und ihm die Niederlassungsbewilligung EU/EFTA zu
belassen. Er macht geltend, die Vorinstanz sei zu Unrecht davon ausgegangen,
das Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft
einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten
andererseits über die Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681) finde in seinem
Fall keine Anwendung. Sämtliche deliktischen Vorfälle seien auf seine
Betäubungsmittelabhängigkeit sowie seine kombinierten Persönlichkeitsstörungen
zurückzuführen. Im Lichte der freizügigkeitsrechtlichen Rechtsbeschränkungen
könne nicht von einer gegenwärtigen, hinreichend schweren Gefährdung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung gesprochen werden. Die aufenthaltsbeendende
Massnahme sei unverhältnismässig und mit der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) hinsichtlich aufenthaltsbeendender
Massnahmen gegenüber sog. "Secondos" ("Ausländer der zweiten Generation")
unvereinbar. Für den Fall des Unterliegens ersucht A.________ darum, ihm für
das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung zu gewähren. 
Das Verwaltungsgericht, das Departement für Justiz und Sicherheit sowie das
Migrationsamt des Kantons Thurgau beantragen, die Beschwerde abzuweisen. Das
Staatssekretariat für Migration (SEM) als beschwerdebefugte Bundesbehörde hat
sich nicht vernehmen lassen. 
 
D.  
Mit Verfügung vom 1. Februar 2017 hat der Abteilungspräsident der Eingabe
antragsgemäss aufschiebende Wirkung beigelegt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist auf dem
Gebiet des Ausländerrechts gegen Entscheide betreffend Bewilligungen
ausgeschlossen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen
Anspruch einräumen (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG). Gegen den Widerruf einer
Niederlassungsbewilligung kann ohne weitere Voraussetzungen an das
Bundesgericht gelangt werden, da diese zeitlich unbeschränkt gilt (vgl. Art. 34
Abs. 1 AuG [SR 142.20]) und ohne den Widerruf weiterhin Rechtswirkungen
entfalten würde (BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4).  
 
1.2.  
 
1.2.1. Der Beschwerdeführer beruft sich als italienischer Staatsangehöriger
bezüglich des Widerrufs seiner Bewilligung auch auf Art. 5 Anhang I FZA, wonach
die aufgrund dieses Abkommens eingeräumten Rechte nur durch Massnahmen, die aus
Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt
sind, eingeschränkt werden dürfen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
ist davon ausgegangen, dass Art. 5 Anhang I FZA vorliegend nicht zur Anwendung
komme, da der Beschwerdeführer nach dem Inkrafttreten des FZA am 1. Juni 2002
keine relevante Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt und seinen Lebensunterhalt in
erster Linie durch Sozialhilfeleistungen und hernach durch IV-Renten und
Ergänzungsleistungen bestritten habe. Zu keinem Zeitpunkt habe er die
Voraussetzungen erfüllt, um sich gestützt auf das FZA als Erwerbstätiger in der
Schweiz aufhalten zu können; es bestehe auch keinerlei Anknüpfungspunkt für ein
Verbleiberecht nach Art. 4 Anhang I FZA.  
 
1.2.2. Der Beschwerdeführer wendet ein, dass er seit seinem Familiennachzug
1982 über eine Niederlassungsbewilligung verfüge, welche wesensgemäss
unbefristet und bedingungsfeindlich sei (Art. 34 AuG). Da ihm unabhängig von
der Erwerbstätigkeit bzw. -fähigkeit wegen seiner dauernden Arbeitsunfähigkeit
ein Verbleiberecht zustehe, gälten die Regeln des FZA auch, wenn die
Anwesenheitsberechtigung landesrechtlich vor Inkrafttreten des
Freizügigkeitsrecht erlangt worden sei und erst in der Folge ein
Bewilligungsentzug unter dem günstigeren neuen Recht zur Diskussion stehe. Eine
andere Auslegung erscheine rechtsdogmatisch offensichtlich inkonsistent und mit
den "Implikationen des Familiennachzugs" unvereinbar.  
 
1.2.3. Wie es sich damit verhält (vgl. auch ASTRID EPINEY, Zur Eröffnung des
Anwendungsbereichs des FZA bei Doppelbürgerschaften, in: dSKR publiziert am 10.
Mai 2017 N.12), kann dahin gestellt bleiben, da der angefochtene Entscheid -
wie zu zeigen sein wird - auch dann nicht zu beanstanden ist, wenn die
aufenthaltsbeendende Massnahme auf ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben von Art.
5 Anhang I FZA hin geprüft wird, wie dies das Migrationsamt und das Departement
für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau noch getan haben.  
 
1.3. Auf die rechtzeitig und formgerecht eingereichte Eingabe ist einzutreten,
nachdem der Beschwerdeführer durch die aufenthaltsbeendende Massnahme
unmittelbar betroffen ist (vgl. Art. 82 ff. und insbesondere Art. 42, 89 Abs.
1, 90 und 100 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seiner Beurteilung den
Sachverhalt zugrunde, wie ihn die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
und 2 BGG), da der Beschwerdeführer nicht darlegt, dass und inwiefern dieser
klar und eindeutig mangelhaft ermittelt worden wäre (Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl.
BGE 133 II 249 E. 1.4.3; 133 III 350 E. 1.3). In rechtlicher Hinsicht prüft es
nur die geltend gemachten Vorbringen, sofern allfällige andere rechtliche
Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). Das
Bundesgericht ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich
potentiell stellenden Fragen zu beantworten, wenn diese in seinem Verfahren
nicht oder nicht mehr formell korrekt (Begründungs- und Mitwirkungspflicht)
problematisiert werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).  
 
2.  
 
2.1. Die Niederlassungsbewilligung kann widerrufen werden, (1) wenn die
ausländische Person zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe, d.h. zu einer
solchen von mehr als einem Jahr, verurteilt worden ist; dabei spielt keine
Rolle, ob die Sanktion bedingt, teilbedingt oder unbedingt ausgesprochen wurde
(Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 lit. b AuG; BGE 139 I 31 E. 2.1 S. 32;
Urteile 2C_679/2015 vom 19. Februar 2016 E. 5.1); (2) oder wenn der Ausländer
in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der
Schweiz oder im Ausland verstossen hat bzw. er diese gefährdet (Art. 63 Abs. 1
lit. b AuG). Die aufenthaltsbeendende Massnahme muss verhältnismässig sein
(vgl. Art. 96 AuG; Art. 13 Abs. 1 i.V.m. Art. 36 Abs. 3 BV; Art. 8 Ziff. 2 EMRK
). Zu berücksichtigen sind dabei namentlich die Schwere des Delikts und des
Verschuldens des Betroffenen, der seit der Tat vergangene Zeitraum, das
Verhalten des Ausländers während diesem, der Grad seiner Integration bzw. die
Dauer der bisherigen Anwesenheit sowie allgemein die ihm und seiner Familie
drohenden Nachteile (BGE 135 II 377 E. 4.3 S. 381 f.). Keines dieser Elemente
ist für sich allein ausschlaggebend; erforderlich ist eine Würdigung der
gesamten Umstände im Einzelfall (vgl. das Urteil 2C_846/2014 vom 16. Dezember
2014 E. 2.4 mit Hinweisen).  
 
2.2. Die Niederlassungsbewilligung eines Ausländers, der sich - wie der
Beschwerdeführer - schon seit langer Zeit im Land aufhält, soll praxisgemäss
nur mit Zurückhaltung widerrufen werden. Bei wiederholter bzw. schwerer
Straffälligkeit ist dies jedoch selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn der
Ausländer hier geboren ist und sein ganzes bisheriges Leben im Land verbracht
hat (vgl. das Urteil 2C_562/2011 vom 21. November 2011 E. 3.3 [Widerruf der
Niederlassungsbewilligung eines hier geborenen 43-jährigen Türken] und die
Entscheide des EGMR i.S.  Saljia gegen Schweiz vom 10. Januar 2017 [Nr. 55470/
10] §§ 36 ff. [Anwesenheit von 20 Jahren und Verurteilung wegen vorsätzlicher
Tötung] sowie  Trabelsi gegen Deutschland vom 13. Oktober 2011 [Nr. 41548/06]
§§ 53 ff. [Ausweisung eines in Deutschland geborenen, wiederholt straffällig
gewordenen Tunesiers]).  
 
2.3. Das Bundesgericht trägt bei der Interessenabwägung im Rahmen des den
einzelnen Signatarstaaten der EMRK zustehenden Beurteilungsspielraums den
verfassungsrechtlichen Vorgaben von Art. 121 Abs. 3 BV
("Ausschaffungsinitiative") insofern Rechnung, als dies zu keinem Widerspruch
zu übergeordnetem Recht - insbesondere der EMRK - führt. Nach der
entsprechenden Verfassungsnorm sollen gewisse schwere Delikte, wozu der
qualifizierte Drogenhandel aus rein finanziellen Motiven, Vergehen gegen die
sexuelle Integrität sowie Gewaltdelikte und Raubtaten zählen (vgl. das Urteil
2C_361/2014 vom 22. Oktober 2015 E. 3.2 mit Hinweisen ["Schönenwerd 2"]; BGE
139 I 16 E. 2.2.1 S. 19 f.), grundsätzlich unabhängig von der Anwesenheitsdauer
zum Verlust des Aufenthaltsrechts und zu weiteren ausländerrechtlichen
Sanktionen führen (vgl. BGE 139 I 16 E. 5.3 S. 31, 31 E. 2.3.2; Urteil 2C_368/
2015 vom 15. September 2015 E. 2.2).  
 
2.4. Bei gewichtigen Straftaten und bei Rückfall sowie bei wiederholter
(unverbesserlicher) Delinquenz besteht regelmässig ein wesentliches
öffentliches Interesse daran, die weitere Anwesenheit der Täterin oder des
Täters zu beenden, da und soweit sie hochwertige Rechtsgüter verletzt oder in
Gefahr gebracht haben bzw. sich von straf- und ausländerrechtlichen Massnahmen
nicht beeindrucken liessen und damit zeigen, dass sie auch künftig weder
gewillt noch fähig erscheinen, sich an die hiesige Rechtsordnung zu halten (BGE
139 I 16 E. 2.1 S. 18 f., 31 E. 2.1 S. 32 f.; 137 II 297 E. 3.3 S. 304; Urteile
2C_1086/2014 vom 11. Juni 2015 E. 2.1; 2C_843/2014 vom 18. März 2015 E. 3.2 mit
Hinweisen).  
 
2.5.  
 
2.5.1. Die entsprechenden Widerrufs- bzw. Erlöschensgründe (vgl. Art. 51 AuG)
gelten auch für ausländische Personen, die seit mehr als 15 Jahren
ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz leben (vgl. Art. 63 Abs. 2 AuG
). Sie bilden ebenfalls Grundlage für den   Widerruf der
Niederlassungsbewilligung von EU/EFTA-Bürgern (Vertragsausländer), da diese
Bewilligungsart durch das Freizügigkeitsabkommen nicht geregelt wird und nach
Massgabe des nationalen Rechts zu beurteilen ist (vgl. Art. 2 Abs. 2 AuG; Art.
5 und 23 Abs. 2 VEP [SR 142.203]; vgl. das Urteil 2C_831/2010 vom 27. Mai 2011
E. 2.2). Nach den gemäss Art. 5 Anhang I FZA anwendbaren Grundsätzen ist für
eine aufenthaltsbeendende Massnahme freizügigkeitsrechtlich erforderlich, dass
von der betroffenen Person eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend
schwere Gefährdung ausgeht, die ein grundlegendes Schutzinteresse der
Gesellschaft berührt; ausschliesslich generalpräventive oder wirtschaftliche
Überlegungen genügen für eine aufenthaltsbeendende Massnahme in Anwendung des
Freizügigkeitsabkommens nicht (vgl.  EPINEY/BLASER, in: Amarelle/ Nguyen
[Hrsg.], Code annoté de droit des migrations, Band III: FZA, 2014, N. 15 ff. zu
Art. 4 FZA).  
 
2.5.2. Eine (frühere) strafrechtliche Verurteilung darf im Rahmen von Art. 5
Anhang I des Freizügigkeitsabkommens mitberücksichtigt werden, wenn die ihr
zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das
eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Die
entsprechende Regelung schliesst nicht aus, den Grad der fortbestehenden
Bedrohung aufgrund des bisherigen Verhaltens abzuschätzen. Eine Rückfallgefahr
besteht nicht nur, wenn ein Straftäter mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit wieder delinquieren wird; umgekehrt ist nicht erforderlich,
dass überhaupt kein entsprechendes Restrisiko mehr besteht (vgl. das Urteil
2C_270/2015 vom 6. August 2015 E. 4.1 u. 4.2). Je schwerer die befürchtete bzw.
vernünftigerweise absehbare Rechtsgutsverletzung wiegt, umso weniger ist die
Möglichkeit eines Rückfalls freizügigkeitsrechtlich hinzunehmen (BGE 139 II 121
E. 5.3 S. 125 f.; 136 II 5 E. 4.2 S. 20; 130 II 176 E. 4.3.1 S. 185 f. mit
Hinweisen; Urteil 2C_406/2014 vom 2. Juli 2015 E. 4.2). Als schwerwiegend
gelten Beeinträchtigungen der physischen, psychischen und sexuellen Integrität
Dritter, der qualifizierte Drogenhandel aus rein pekuniären Motiven und die
organisierte Kriminalität sowie Terrorismus oder Menschenhandel (BGE 139 II 121
E. 6.3 S. 130 f.). Je nach den Umständen, gibt es Delikte, die allein aufgrund
ihrer Begehung eine spätere Rückfallgefahr - auch für weniger schwere
Straftaten - nicht ausschliessen. Mit Blick auf die nur teilweise überwundene
Drogenabhängigkeit des kinderlos geschiedenen Beschwerdeführers ist im Hinblick
auf seine berufliche, gesundheitliche und finanzielle Situation bzw. seiner
mangelhaften Integration die Gefahr einer künftigen (schwereren)
Straffälligkeit nicht auszuschliessen (vgl. das Urteil 2C_236/2013 vom 19.
August 2013 E. 6.4).  
 
3.  
 
3.1. Dem Beschwerdeführer ist zuzugestehen, dass ein gewisser Teil seiner
Delikte von untergeordneter Bedeutung sind (Bussen wegen unterlassenem Anleinen
seines Hundes, Konsumation von weichen Drogen, Hausfriedensbrüche nach gegen
ihn ausgesprochenen Hausverboten von Geschäften usw.). Indessen hat sich ein
anderer Teil seiner Delikte auch gegen Leib und Leben bzw. die Gesundheit
Dritter gerichtet, wobei sein Verhalten jeweils von einer nicht zu
unterschätzenden Droh- und Gewaltbereitschaft zeugte (vgl. die E. 2.4 des
angefochtenen Entscheids zugrundeliegenden Sachverhaltselemente) : Am 13. März
2008 stritt der Beschwerdeführer sich vorerst verbal mit einem Dritten; in der
Folge brachte er diesem mit seinem Taschenmesser fünf Stichwunden im linken
Rückenbereich, eine Stichverletzung am linken Ellbogen und am linken
Oberschenkel sowie Schürfwunden und Prellungen bei. Am 15. April 2011 kam es
zwischen ihm und den Enkeln einer Nachbarin zu einer weiteren
Auseinandersetzung; er hatte die ältere Dame zwei Tage zuvor mit den Worten "du
fetti Sau, etz piss i dir as Bei" beschimpft und war dabei provokativ mit
heraushängendem Penis auf sie zugegangen. Nach dem verbalen Streit mit den
Enkeln, die ihn bedrohend dazu bringen wollten, sich bei ihrer Grossmutter zu
entschuldigen, ging der Beschwerdeführer in sein Schlafzimmer und holte dort
eine geladene und gespannte Doppelflinte, mit der er die anderen Beteiligten
bedrohte und sie aufforderte, sich zu entfernen. Schliesslich gab er über die
Brüstung des offenen Korridors vor seiner Wohnungstür einen Warnschuss ab,
welcher wenige Meter vor der Liegenschaft in den Boden drang; dabei wurde
glücklicherweise niemand konkret gefährdet oder verletzt. Dies ergibt sich aus
dem von der Vorinstanz übernommenen Sachverhalt des Departements für Justiz und
Sicherheit des Kantons Thurgau; der Beschwerdeführer bestreitet die Taten als
solche denn auch nicht, sondern begnügt sich damit, sie in appellatorischer
Weise zu beschönigen. Am 22. August 2011 stiess der Beschwerdeführer einen
Dritten in einer Bahnhofsunterführung gegen eine Treppe und schlug ihm mit der
Faust ins Gesicht, sodass dieser eine Kontusion am linken Auge und am linken
Schulterblatt erlitt und aus der Nase blutete. Einer Person, welche schlichten
wollte, schlug er auf den Rücken, sodass sie aus Angst vor ihm die Flucht
ergriff. Zu ähnliche Vorkommnissen kam es auch am 30. Mai 2012 sowie am 29.
Juni 2012, als er einen seiner Nachbarn eine metallene Hundeleine schwingend
bedrohte und ihm einen Stein auflesend zuschrie, er werde ihn umbringen.  
 
3.2. Der Beschwerdeführer wurde zwischen 1990 und 2014 insgesamt 29 Mal
verurteilt: Dabei ging es insgesamt um Freiheitsstrafen von mehr als 17
Monaten, Bussen im Gesamtwert von Fr. 4'750.-- sowie Geldstrafen in der Höhe
von Fr. 750.--. Ins Gewicht fällt zu seinen Ungunsten nicht in erster Linie die
Strafhöhe, nachdem keine gegen ihn ausgesprochene Sanktion über 9 Monate
hinausging und auch die Straffälligkeit gesamthaft - unter vergleichendem
Beizug der zwei Jahresregel der "Reneja"-Praxis (vgl. BGE 139 I 145 E. 2.3 S.
148) - im unteren Bereich liegt, sondern seine sich über Jahre hinziehende
Delinquenzbereitschaft, die sich auch gegen die körperliche Integrität Dritter
richtete. Weder sein jahrelanger Aufenthalt in einer Arbeitserziehungsanstalt
noch die Strafverfahren und die drei ausländerrechtlichen Verwarnungen (1990,
1993 und 2006) vermochten ihn eines Besseren zu belehren bzw. ihn zur Einsicht
zu bringen, dass er seinen Lebenswandel ändern musste, wollte er in der Schweiz
bleiben. Alle Massnahmen liessen den Beschwerdeführer unbeeindruckt; er legte
über Jahre hinweg eine vollständige Gleichgültigkeit und Respektlosigkeit der
hiesigen Rechtsordnung und der physischen Integrität anderer Personen gegenüber
an den Tag. Soweit er geltend macht, mit seiner Mutter und seiner Schwester
hier in einem sozial gefestigten Umfeld zu leben, vermochten diese familiären
Bindungen ihn bereits bisher nicht davon abzuhalten, immer wieder und nicht nur
in Bagatellbereichen zu delinquieren, weshalb nicht ersichtlich ist, inwiefern
ihn das Verhältnis zu seinen hier lebenden Angehörigen nunmehr so stabilisieren
sollte, dass mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden kann, es
bestehe bei ihm keine aktuelle Rückfallgefahr mehr. Eine "biographische
Kehrtwende" ist beim Beschwerdeführer nicht auszumachen. Straf- und
Ausländerrecht verfolgen unterschiedliche Ziele; ist es Zweck des Strafrechts,
verschuldensabhängig bestimmte Verhaltensweisen zu sanktionieren und den Täter
zu resozialisieren, steht ausländerrechtlich der Sicherheitsaspekt im
Vordergrund, in dessen Rahmen auch bei geringer bis mittlerer Strafhöhe eine -
wie hier - über Jahre hinweg erfolgte Straffälligkeit nicht mehr hingenommen
werden muss.  
 
3.3. Der Beschwerdeführer hat es nicht verstanden, die ihm gebotenen Chancen zu
nutzen und sich hier (doch noch) zu integrieren. Zu seinen Gunsten spricht
einzig der Umstand, dass er sich nach einem Bericht vom 22. Juni 2015
psychotherapeutisch behandeln liess, umgekehrt blieb eine entsprechende
Massnahme bereits einmal ohne Erfolg. Noch nach dem Widerruf seiner
Niederlassungsbewilligung wurde er trotz Behandlung erneut straffällig und
hielt er sich weiterhin im drogennahen Umfeld auf (Hausfriedensbruch). Die
Annahme der Vorinstanz, dass der Beschwerdeführer nicht willens oder nicht in
der Lage scheint, sich künftig an die hiesige Rechtsordnung zu halten, verletzt
deshalb kein Bundesrecht. Der Beschwerdeführer bildet im Hinblick auf seine
bisher gezeigte Gewalt- und Drohbereitschaft eine aktuelle Gefahr für wichtige
Rechtsgüter im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 5 Anhang I FZA (körperliche
Integrität Dritter), auch wenn er in den letzten drei Jahren unter dem Druck
des ausländerrechtlichen Verfahrens nur noch einen Strafeintrag erwirkt hat.
Soweit der Beschwerdeführer auf die Rechtsprechung des EGMR verweist, verkennt
er, dass es dort in erster Linie jeweils um Jugendkriminalität ging, er
indessen als Erwachsener wiederholt straffällig geworden ist.  
 
3.4.  
 
3.4.1. Seine privaten Interessen an einem Verbleib in der Schweiz vermögen
unter diesen Umständen die öffentlichen, dass er das Land verlässt, nicht zu
überwiegen: Zwar hält er sich inzwischen seit über 30 Jahren in der Schweiz
auf, doch entfällt ein Teil seiner Anwesenheit auf den Aufenthalt in einer
Arbeitserziehungsanstalt, ohne dass es ihm anschliessend gelungen wäre,
straffrei zu leben. Während seiner ersten elf Jahre ist er in Italien
sozialisiert worden. Sein Vater ist inzwischen wieder in die gemeinsame Heimat
zurückgekehrt, sodass der Beschwerdeführer sich dort nicht auf sich selber
gestellt sieht. Zwar macht er geltend, dass die Beziehungen zwischen seinem
Vater und ihm belastet seien; das schliesst indessen nicht aus, dass er sich
mit ihm aussöhnt und in seiner Heimat soziale Beziehungen knüpft, nachdem ihm
dies in der Schweiz nur in der Drogenszene gelungen ist.  
 
3.4.2. Die hier gemachte Ausbildung wird es ihm ermöglichen, auch in Italien
leben zu können, zumal er weiterhin in den Genuss der IV-Rente kommen wird. Der
Beschwerdeführer bestreitet nicht, mit der Sprache und den Gebräuchen seiner
Heimat vertraut zu sein, auch wenn er das Land "seit Jahrzehnten" nicht mehr
besucht haben will. Dass und wie er dort der "totalen Verwahrlosung" ausgesetzt
wäre, ist   nicht ersichtlich und wird in der Beschwerdeschrift nicht weiter
belegt; im Übrigen ist jeder Wechsel in ein anderes Land mit gewissen
Belastungen verbunden. Diese werden für den Beschwerdeführer durch die
Sozialversicherungsleistungen relativiert. Zwar empfehlen die Externen
Psychiatrischen Dienste Thurgau, von der Wegweisung des Beschwerdeführers
abzusehen und ihm die Chance "für eine weitere Resozialisierung zu
ermöglichen"; dem entsprechenden Schreiben kommt indessen nur eine beschränkte
Bedeutung zu, nachdem sämtliche Hilfestellungen und Warnungen zu keiner
grundsätzlichen und glaubwürdigen Änderung der Einstellung bzw. des Verhaltens
des Beschwerdeführers geführt haben. Dieser hat seine Chancen gehabt; bewährt
er sich in seiner Heimat, ist eine freizügigkeitsrechtliche Rückkehr in die
Schweiz zu einem späteren Zeitpunkt nicht ausgeschlossen. Erforderlich ist,
dass von ihm dannzumal keine aktuelle Gefahr für wichtige Rechtsgüter mehr
ausgeht, wie dies gesamthaft in Berücksichtigung seiner Persönlichkeitsstruktur
derzeit noch der Fall ist.  
 
3.4.3. Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, gesundheitlich und -
insbesondere im Hinblick auf die drohende Wegweisung - psychisch verunsichert
und angeschlagen zu sein, können seine entsprechenden Probleme in Italien
behandelt werden. Die dortigen Pflegemöglichkeiten und allgemeinen
Lebensbedingungen unterscheiden sich nicht wesentlich von den hiesigen. Die
Externen Psychiatrischen Dienste Thurgau weisen zwar darauf hin, dass bei einer
Ausreise des Beschwerdeführers die Fortsetzung des Methadonprogramms nicht
gesichert erscheine, doch kann ein solches - wie sie einräumen - mit den
italienischen Ärzten geplant werden. Dem Umstand, dass sich der
Gesundheitszustand des Beschwerdeführers "unter Umständen bis hin zu suizidalen
Gedanken" verschlechtern könnte, ist bei der Ansetzung der Ausreisefrist und
der Vorbereitung des Wegweisungsvollzugs angemessen Rechnung zu tragen.  
 
3.4.4. Die schweizerischen Behörden sind gehalten, im Rahmen der konkreten
Rückkehrmassnahmen alles ihnen Zumutbare vorzukehren, um medizinisch bzw.
betreuungsmässig sicherzustellen, dass das Leben und die Gesundheit einer
rückkehrpflichtigen Person möglichst nicht beeinträchtigt wird; sie sind
verfassungsrechtlich jedoch nicht verpflichtet, im Hinblick auf eine kritische
psychische Situation in Abweichung von den gesetzlichen Vorgaben dem Gesuch auf
Erteilung einer Anwesenheitsberechtigung bzw. auf den Verzicht des Widerrufs
einer Bewilligung zu entsprechen (vgl. BGE 139 II 393 E. 5.2.2 S. 403 und die
Urteile 2C_300/2016 vom 19. August 2016 E. 4.4.5; 2C_856/2015 vom 10. Oktober
2015 E. 3.2.1 sowie 2C_573/2014 vom 4. Dezember 2014 E. 4.3). Die
Vollzugsbehörden können dem Beschwerdeführer nötigenfalls eine längere
Ausreisefrist ansetzen (vgl. Art. 64d Abs. 1 AuG [Fassung vom 18. Juni 2010])
und sich, falls erforderlich, auch darum bemühen, seine weitere Behandlung im
Heimatstaat grenzüberschreitend zu organisieren. Seit dem erstinstanzlichen
Wegweisungsentscheid sind über zwei Jahre verstrichen; dieser   Zeitraum
dürften es dem Beschwerdeführer und seinen Therapeuten ermöglicht haben, die
Pflicht zur Rückkehr nach Italien, die dem Beschwerdeführer schwerfällt,
angemessen aufzuarbeiten. Auch von Italien aus ist es möglich die Kontakte zu
Mutter und Schwester regelmässig zu pflegen; es kann im Übrigen nicht gesagt
werden, dass diesbezüglich über die normalen familiären Kontakte hinaus ein
eigentliches Abhängigkeitsverhältnis bestünde. Seine Angehörigen können ihm,
soweit nötig, über die Grenze hinweg psychisch wie wirtschaftlich zur Seite
stehen. Dies gilt umso mehr, als sie im vorliegenden Verfahren anerboten haben,
im Rahmen von Art. 24 Anhang I FZA (Aufenthalt ohne Erwerbstätigkeit)
gegebenenfalls künftig für die Ergänzungsleistungen aufzukommen, falls der
weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers an fehlenden Mitteln scheitern sollte;
dies ist indessen nicht der Fall, da der Beschwerdeführer nicht wegen seiner
finanziellen Situation angehalten wird, das Land zu verlassen, sondern wegen
seines bisherigen, unverbesserlichen strafrechtlich relevanten Verhaltens.  
 
4.  
Die Beschwerde ist nach dem Dargelegten abzuweisen. Da der Beschwerdeführer
bedürftig ist und seine Eingabe nicht als zum Vornherein aussichtslos gelten
konnte (vgl. Art. 64 BGG; BGE 138 III 217 E. 2.2.4 S. 218; 129 I 129 E. 2.3.1
S. 135 f. mit Hinweisen), ist dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung zu entsprechen. Es sind keine Parteientschädigungen geschuldet (
Art. 68 Abs. 3 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
gutgeheissen. 
 
3.   
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
4.   
Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt Marc Spescha, Zürich, als
unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben und dieser mit Fr. 2'500.-- aus der
Gerichtskasse entschädigt. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Verwaltungsgericht des
Kantons Thurgau sowie dem Staatssekretariat für Migration schriftlich
mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 14. September 2017 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Seiler 
 
Der Gerichtsschreiber: Hugi Yar 

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben