Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.634/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
1C_634/2017  
 
 
Urteil vom 10. April 2018  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Fonjallaz, Kneubühler, 
Gerichtsschreiberin Sauthier. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Oliver Lücke, 
 
gegen  
 
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt 
des Kantons Bern, 
Schermenweg 5, Postfach, 3001 Bern. 
 
Gegenstand 
Entzug des Führerausweises für Motorfahrzeuge; unentgeltliche Rechtspflege, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid der Rekurskommission des Kantons Bern für
Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern vom 14. Juni 2017
(RK 021/17 Ms). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Gemäss Rapport der Kantonspolizei Zürich vom 5. September 2016 fuhr A.________
am 8. Juli 2016 um 12:40 Uhr in Lindau mit einem Sattelschlepper inkl. einem
Transportanhänger auf dem Normalstreifen der A1 in Richtung Zürich. Auf Höhe
von Autobahn-Kilometer 311.100 wechselte er, ohne die Richtungsanzeige zu
betätigen, vom Normalstreifen auf den ersten Überholstreifen. Dabei schwenkte
er unmittelbar vor einem auf dem ersten Überholstreifen fahrenden Personenwagen
auf die Fahrbahn ein, wodurch dieser zum Abbremsen gezwungen wurde, um eine
Kollision zu verhindern. 
Mit Strafbefehl vom 28. Oktober 2016 sprach die Staatsanwaltschaft See/Oberland
A.________ der mehrfachen vorsätzlichen Verletzung der Verkehrsregeln i.S.v.
Art. 90 Abs. 1 i.V.m. Art. 34 Abs. 3, Art. 44 Abs. 1 und Art. 39 Abs. 1 SVG
sowie Art. 28 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962 [VRV;
SR 741.11] schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 500.--. Dieser
Strafbefehl ist unangefochten in Rechtskraft erwachsen. 
Nachdem das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern (SVSA)
A.________ das rechtliche Gehör gewährt hatte, verfügte es am 6. Januar 2017 in
Anwendung von Art. 16b Abs. 1 lit. a und Abs. 2 lit. a SVG sowie Art. 33 Abs. 1
der Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und
Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51) den Entzug des Führerausweises
für einen Monat. Diese Verfügung focht A.________ am 6. Februar 2017 mit
Beschwerde bei der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber
Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern (RKMF) an. Mit Entscheid vom 14. Juni
2017 wies die RKMF die Beschwerde ab. 
 
B.  
Mit Eingabe vom 20. November 2017 führt A.________ dagegen Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht. Er beantragt, der
angefochtene Entscheid sei dahingehend abzuändern, dass ihm die unentgeltliche
Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Oliver Lücke als unentgeltlicher
Rechtsvertreter beigeordnet werde (Antrags-Ziffer 1). Er sei lediglich zu
verwarnen (Antrags-Ziffer 2). Die Verfahrenskosten seien dem Kanton Bern
aufzuerlegen und ihm sei für das kantonale Beschwerdeverfahren eine
Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 1'500.-- zulasten des Kantons
zuzusprechen (Antrags-Ziffer 3). Eventualiter sei die Sache zu neuer
Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Antrags-Ziffer 4). Für das
Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht beantragt er die Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege (Antrags-Ziffer 5) samt Beiordnung von
Rechtsanwalt Lücke (eventualiter eines anderen Rechtsanwalts) als
Rechtsvertreter (Antrags-Ziffer 6). In prozessualer Hinsicht (Antrags-Ziffer 7)
lehnt er die von der öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts
bestimmte Besetzung des Spruchkörpers wegen eines Verstosses gegen Art. 6 EMRK
ab. Weiter stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung für das Verfahren vor dem Bundesgericht. Mit Schreiben vom 12.
Dezember 2017 beantragt er, der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu
erteilen. 
 
C.  
Mit Präsidialverfügung vom 5. Januar 2018 hat das Bundesgericht der Beschwerde
aufschiebende Wirkung zuerkannt. Die RKMF, das SVSA und das zur Stellungnahme
eingeladene Bundesamt für Strassen ASTRA beantragen unter Hinweis auf den
angefochtenen Entscheid die Abweisung der Beschwerde. 
Am 13. März 2018 stellte der Beschwerdeführer ein Ausstandsgesuch gegen
Bundesrichter Karlen. 
 
 
Erwägungen:  
 
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid über einen
Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten nach Art. 82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund liegt nicht vor (
Art. 83 BGG). Der Beschwerdeführer ist als Inhaber des Führerausweises und
direkter Adressat des angefochtenen Entscheids gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG zur
Beschwerde befugt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb
auf die Beschwerde einzutreten ist.  
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten können
Rechtsverletzungen im Sinne von Art. 95 BGG gerügt werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (
Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig oder
beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG (vgl. Art. 97 Abs. 1
und Art. 105 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an
(Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen
Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend
gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). Eine qualifizierte
Rügepflicht gilt hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten. Insoweit prüft
das Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich,
belegte Rügen (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 138 I 232 E. 5.1 S. 237; 133 II 249 E.
1.4.2 S. 254).  
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer macht vorab geltend, er lehne Bundesrichter Karlen
wegen eines Verstosses gegen Art. 6 EMRK ab, da dieser Mitglied der SVP sei.
Diese Partei habe die Selbstbestimmungsinitiative lanciert. Daher sei nicht
gewährleistet, dass Bundesrichter Karlen die Rüge der Besetzung des
Spruchkörpers wegen eines Verstosses gegen Art. 6 EMRK unbefangen und
unbeeinflusst behandeln werde.  
 
2.2. Die Zugehörigkeit eines Richters zu einer bestimmten politischen Partei
begründet für sich allein keinen Anschein der Befangenheit (Urteil 1C_426/2014
vom 24. November 2014 E. 3.3 mit Hinweis). Im Übrigen wirkt Bundesrichter
Karlen in der vorliegenden Angelegenheit ohnehin nicht mit.  
 
3.  
 
3.1. Der Beschwerdeführer bringt weiter vor, er lehne die von der
öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts bestimmte Besetzung des
Spruchkörpers wegen eines Verstosses gegen Art. 6 EMRK wegen Besorgnis der
Befangenheit ab. Er kritisiert, das Bundesgericht verfüge über keinen
Geschäftsverteilungsplan für die Besetzung des Spruchkörpers im Einzelfall.
Anders als am Bundesverwaltungsgericht erfolge diese nicht ausschliesslich nach
dem Zufallsprinzip. Die in Art. 40 des Reglements vom 20. November 2006 für das
Bundesgericht (BGerR; SR 173.110.131) vorgesehenen Kriterien würden keine
Gewähr dafür bieten, dass der Spruchkörper gegen Einflussnahme von Aussen
hinreichend geschützt sei. Der Abteilungspräsident habe weitgehend freie Hand,
was konventionswidrig sei.  
 
3.2. Das Bundesgericht hat im zur Publikation bestimmten Urteil 6B_1356/2016
vom 5. Januar 2018 E. 2 ausführlich dargelegt, dass die Besetzung des
Spruchkörpers am Bundesgericht verfassungs- und konventionskonform geregelt
ist. Es bestätigte damit seine Ausführungen im Urteil 1B_491/2016 vom 24. März
2017 E. 1.3. Insbesondere legte es dar, dass in Art. 40 BGerR sachliche
Kriterien vorgesehen sind, welche der Abteilungspräsident bei der Besetzung des
Spruchkörpers berücksichtigen muss, und dass eine weitere Objektivierung der
Besetzung aufgrund der EDV-Applikation "CompCour" erfolgt, welche die weiteren
mitwirkenden Richter automatisch bestimmt. Das Bundesgericht hat weiter
aufgezeigt, dass weder die Bundesverfassung noch die EMRK verlangen, bei der
Spruchkörperbesetzung jegliches Ermessen auszuschliessen. Die Kritik des
Beschwerdeführers weckt keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Darlegungen und
bietet deshalb auch keinen Anlass, darauf zurückzukommen. Die Rüge der
Verletzung von Art. 6 EMRK ist unbegründet, und der Spruchkörper ist in der
dargestellten üblichen Weise zu besetzen (zum Ganzen: Urteil 1B_517/2017 vom
13. März 2018 E. 2.1 f.).  
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer rügt auch hinsichtlich der Vorinstanz eine Verletzung
von Art. 6 EMRK, da nicht klar geregelt sei, wie sich der Spruchkörper im
konkreten Fall bestimmt habe und auf welcher gesetzlichen Grundlage die Auswahl
der Richter für den Spruchkörper erfolgt sei.  
 
4.2. Gemäss Art. 10 des Dekrets vom 8. September 2009 über die Besetzung von
Richter- und Staatsanwaltsstellen (BRSD; BSG 161.11) verfügt die RKMF über eine
Präsidentin oder einen Präsidenten, eine Vizepräsidentin oder einen
Vizepräsidenten sowie höchstens acht weitere Fachrichterinnen und Fachrichter,
wobei auf eine angemessene Vertretung der französischen Sprache zu achten ist.
Die Fachrichterinnen und Fachrichter sind Sachverständige im Bereich des
Rechts, der Medizin oder der Psychologie. Gestützt auf Art. 75 des Gesetzes vom
11. Juni 2009 über die Organisation der Gerichtsbehörden und der
Staatsanwaltschaft (GSOG; BSG 161.1) urteilt die RKMF gewöhnlich in
Dreierbesetzung. Der Spruchkörper setzt sich aus einem Vorsitzenden sowie zwei
Fachrichterinnen oder Fachrichtern zusammen. Die Präsidentin oder der Präsident
führt den Vorsitz. Das in Ausführung von Art. 12 GSOG beschlossene
Geschäftsreglement vom 1. Oktober 2010 der Rekurskommission für Massnahmen
gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern (GeschR RKMF; BSG 162.625)
führt in Art. 7 Abs. 1 aus, dass die Präsidentin oder der Präsident die zu
behandelnden Geschäfte den Mitgliedern der RKMF zum Referat zuteilt. Dabei
berücksichtigt sie oder er die Fachkenntnisse der Mitglieder und sorgt für eine
ausgeglichene Geschäftslast der Mitglieder (Art. 7 Abs. 2 GeschR RKMF). Gemäss
Art. 8 Abs. 2 und 3 GeschR RKMF bestimmt die Präsidentin oder der Präsident die
Zusammensetzung des Spruchkörpers und bezeichnet die Mitglieder nach den zu
behandelnden Fachfragen.  
Die mit der Vorgabe der präsidialen Mitwirkung auf gewöhnlich zwei weitere
Mitglieder beschränkte Spruchkörperbildung orientiert sich nach dem
Ausgeführten zum einen an den Fachkenntnissen und zum andern an der
Ausgewogenheit der Belastung der Mitglieder und ihren Sprachkenntnissen. Das
Ermessen der Präsidentin oder des Präsidenten ist damit in ähnlicher Weise an
Kriterien gebunden, wie dies gemäss Art. 40 BGerR am Bundesgericht (vgl. E. 3.2
hiervor) oder beim Obergericht des Kantons Bern (vgl. zur Publ. vorgesehenes
Urteil 1B_517/2017 vom 13. März 2018 E. 6.2 f.) der Fall ist. Das Ermessen, das
die Präsidentin oder der Präsident bei der Spruchkörperbesetzung geniesst, ist
damit unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände in einer Weise regelgebunden,
das mit den Vorgaben von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar
ist. Die Rüge des Beschwerdeführers ist demnach unbegründet. 
 
5.  
Soweit der Beschwerdeführer in materieller Hinsicht beantragt, er sei i.S.v. 
Art. 16a Abs. 3 SVG lediglich zu verwarnen, ist die Beschwerde von vornherein
aussichtslos. Selbst wenn seinen Argumenten gefolgt werden könnte, müsste ihm
gemäss Art. 16a Abs. 2 SVG der Führerausweis für mindestens einen Monat
entzogen werden, da er bereits mit Verfügung vom 11. Dezember 2015 i.S.v. Art.
16a Abs. 1 lit. a und Abs. 3 SVG verwarnt wurde. Dennoch ist zu prüfen, ob die
Vorinstanz das Verhalten des Beschwerdeführers zu Recht als mittelschwere
Widerhandlung im Sinne von Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG erachtete. Dies
insbesondere im Hinblick auf die möglichen Konsequenzen einer erneuten
Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz (vgl. etwa Art. 16b Abs. 2 lit.
b SVG). 
 
5.1. Das Gesetz unterscheidet zwischen der leichten, mittelschweren und
schweren Widerhandlung (Art. 16a-c SVG). Gemäss Art. 16a SVG begeht eine
leichte Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine geringe
Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft, sofern ihn dabei nur ein leichtes
Verschulden trifft (Abs. 1 lit. a). Eine mittelschwere Widerhandlung begeht,
wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine Gefahr für die Sicherheit anderer
hervorruft oder in Kauf nimmt (Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG). Nach einer
mittelschweren Widerhandlung wird der Führerausweis für mindestens einen Monat
entzogen (Abs. 2 lit. a). Leichte und mittelschwere Widerhandlungen werden von 
Art. 90 Abs. 1 SVG als einfache Verkehrsregelverletzungen erfasst (BGE 135 II
138 E. 2.4 S. 143 f.). Die mittelschwere Widerhandlung nach Art. 16b Abs. 1
lit. a SVG stellt einen Auffangtatbestand dar. Sie liegt vor, wenn nicht alle
privilegierenden Elemente einer leichten Widerhandlung nach Art. 16a Abs. 1
lit. a SVG und nicht alle qualifizierenden Elemente einer schweren
Widerhandlung nach Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG gegeben sind. Die Annahme einer
schweren Widerhandlung setzt kumulativ eine qualifizierte objektive Gefährdung
und ein qualifiziertes Verschulden voraus. Ist die Gefährdung gering, aber das
Verschulden hoch, oder umgekehrt die Gefährdung hoch und das Verschulden
gering, liegt eine mittelschwere Widerhandlung vor (vgl. zum Ganzen: BGE 136 II
447 E. 3.2 S. 452; Urteil 1C_120/2016 vom 8. Juli 2016 E. 3.1 mit Hinweisen).
Gleiches gilt bei einer mittelgrossen Gefährdung und einem mittelschweren oder
schweren Verschulden (vgl. BERNHARD RÜTSCHE/DENISE WEBER, in: Basler Kommentar,
SVG, 2014, N. 13 zu Art. 16b SVG). Eine Gefahr für die Sicherheit anderer im
Sinne von Art. 16a-c SVG ist bei einer konkreten oder auch bei einer erhöhten
abstrakten Gefährdung zu bejahen. Eine erhöhte abstrakte Gefahr besteht, wenn
die Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung naheliegt. Ob eine
solche Gefährdung vorliegt, ist anhand der jeweiligen Verhältnisse im
Einzelfall zu beurteilen (Urteil 1C_273/2016 vom 5. Dezember 2016 E. 4.1 mit
Hinweis).  
 
5.2. Gemäss Art. 34 Abs. 3 SVG hat der Fahrzeugführer beim Wechseln des
Fahrstreifens auf den Gegenverkehr und auf die ihm nachfolgenden Fahrzeuge
Rücksicht zu nehmen. Er darf auf Strassen, die für den Verkehr in gleicher
Richtung in mehrere Fahrstreifen unterteilt sind, seinen Streifen nur
verlassen, wenn er dadurch den übrigen Verkehr nicht gefährdet (Art. 44 Abs. 1
SVG). Mit dieser Regelung wird dem Fahrzeugführer, der seinen Streifen
beibehält, ein Vortrittsrecht gegenüber Fahrzeugen eingeräumt, die darauf
einspuren wollen. Wer sein Fahrzeug in den Verkehr einfügen will, darf andere
Strassenbenützer nicht behindern (Art. 36 Abs. 4 SVG; vgl. auch Art. 14 Abs. 1
VRV). Entsprechendes gilt beim Wechseln des Fahrstreifens. Nach der älteren
Rechtsprechung wird der Vortrittsberechtigte bereits behindert, wenn er seine
Fahrt nicht gleichmässig und ungestört fortsetzen kann. Um den besonderen
Verhältnissen bei hohem Verkehrsaufkommen Rechnung zu tragen, lässt die neuere
Rechtsprechung zu, dass eine relevante Behinderung ausnahmsweise erst dann
angenommen wird, wenn der vortrittsberechtigte Fahrer seine Fahrweise brüsk
ändern muss, das heisst, wenn er zu brüskem Bremsen, Beschleunigen oder
Ausweichen gezwungen wird (zum Ganzen: BGE 114 IV 146 S. 147 f.; Urteil 1C_403/
2016 vom 27. März 2017 E. 2.1; je mit Hinweisen).  
Gemäss Art. 39 Abs. 1 lit. a SVG ist jede Richtungsänderung mit dem
Richtungsanzeiger rechtzeitig bekannt zu geben; dies gilt namentlich für das
Einspuren, Wechseln des Fahrstreifens und Abbiegen. Nach Art. 28 Abs. 1 VRV hat
der Fahrzeugführer alle Richtungsänderungen anzukündigen, auch das Abbiegen
nach rechts. 
 
5.3. Die Vorinstanz hat bei ihrer Sachverhaltsfeststellung auf den
Anzeigerapport vom 5. September 2016 sowie die polizeiliche Einvernahme des
Beschwerdeführers, ebenfalls vom 5. September 2016, abgestellt. Dem Rapport sei
zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer unmittelbar und ohne Zeichenangabe vom
Normal- auf den Überholstreifen gewechselt habe. Eine Kollision habe dabei nur
durch ein brüskes Bremsen des herannahenden Personenwagenlenkers verhindert
werden können, was dieser telefonisch bei der Polizei bestätigt habe. Der
Beschwerdeführer habe in seiner Einvernahme ausgesagt, dass er sich habe Platz
schaffen wollen und darum "gedrückt" habe. Nachdem ihm die entsprechende
Videosequenz vorgeführt worden sei, habe er bemerkt, dass ihm beim Blick in den
Rückspiegel der Abstand zum herannahenden Fahrzeug grösser vorgekommen sei, als
er tatsächlich gewesen sei, und er habe gedacht, dass er geblinkt habe, was er
laut Video aber nicht getan habe.  
Die Vorinstanz hat gestützt auf diese tatsächlichen Feststellungen erwogen, der
Beschwerdeführer habe eine erhebliche - jedenfalls erhöhte abstrakte -
Gefährdung geschaffen, indem er die ihm obliegende Pflicht zur Rücksichtnahme
gegenüber nachfolgenden Fahrzeugen verletzt habe. Es sei lediglich dem
nachfolgenden Lenker zu verdanken, dass es nicht zu einer Kollision gekommen
sei. Dem Beschwerdeführer müsse aufgrund seiner Aussage, dass er "gedrückt"
habe, bewusst gewesen sein, dass er dadurch herannahende Personenwagen
behindern könnte. All das spreche gegen die Annahme, dass die
Verkehrssicherheit durch sein Verhalten nur in geringem Mass gefährdet worden
sei. Damit entfalle die Annahme einer leichten Unaufmerksamkeit. Es sei mithin
von einer mittelschweren Widerhandlung nach Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG
auszugehen und der Führerausweis sei gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. a SVG für
mindestens einen Monat zu entziehen. 
 
5.4. Der Beschwerdeführer macht hingegen geltend, die Einvernahme der
Auskunftsperson, auf welche sich die Vorinstanz bei ihrer
Sachverhaltsfeststellung unter anderem gestützt habe, sei nicht verwertbar, da
kein von ihr unterschriebenes Protokoll vorliege. Ihre Befragung sei
telefonisch erfolgt, was die StPO nicht als zulässige Einvernahme aufführe.
Weiter verletze die Vorinstanz die Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 EMRK,
welche auch im Administrativverfahren anwendbar sei. Er stellt sich auf den
Standpunkt, es liege eine leichte Widerhandlung im Sinne von Art. 16a Abs. 1
lit. a SVG vor, weshalb er nur zu verwarnen sei. Da er sich bei der Abschätzung
des Abstandes zum herannahenden Fahrzeug in einem Sachverhaltsirrtum befunden
habe, sei ihm lediglich ein leichtes Verschulden vorzuwerfen. Weiter sei zu
beachten, dass der Entzug des Führerausweises für ihn eine besondere Härte
darstelle, da er als Berufschauffeur dringend auf diesen angewiesen sei. Der
Führerausweisentzug stelle für ihn faktisch ein einmonatiges Berufsverbot dar.
 
 
5.5. Dem Beschwerdeführer ist insofern zuzustimmen, als dass die
Unschuldsvermutung im vorliegenden Verfahren zu beachten ist (vgl. zum
Warnungsentzug als Entscheid über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen
Anklage i.S.v. Art. 6 EMRK: Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte  Nilsson gegen Schweden vom 13. Dezember 2005 [Nr. 73661/01];
BGE 140 II 334 E. 6 S. 339; 133 II 331 E. 4.2 S. 336; PHILIPPE WEISSENBERGER,
Kommentar SVG, 2. Aufl. 2015, Rz. 5 zu Vorbemerkungen zu Art. 16 ff.; kritisch
BERNHARD RÜTSCHE, in: Basler Kommentar, SVG, 2014, N. 49 zu Vorbemerkungen zu
Art. 16-17a; je mit Hinweisen). Inwiefern die Unschuldsvermutung vorliegend
verletzt sein soll, ist hingegen nicht ersichtlich. Die Kritik an der
Sachverhaltsfeststellung hätte der Beschwerdeführer gemäss konstanter
bundesgerichtlicher Praxis mit einer Einsprache gegen den Strafbefehl geltend
machen können und müssen. Es ist mit Treu und Glauben nicht vereinbar, die
strafrechtliche Verurteilung zu akzeptieren und gegen deren tatsächliche
Grundlagen im anschliessenden Administrativverfahren Einwände zu erheben (BGE
123 II 97 E. 3c/aa S. 103; 121 II 214 E. 3a S. 217; Urteil 1C_539/2016 vom 20.
Februar 2017 E. 2.4 mit Hinweisen). Dies gilt vorliegend umso mehr, als das
Strassenverkehrsamt dem Beschwerdeführer am 28. respektive 30. November 2016
ausdrücklich mitteilte, dass er allfällige Einwände bereits im Strafverfahren
geltend machen müsse, da die strafrechtliche Beurteilung die
Administrativmassnahme entscheidend beeinflussen könne. Indem der
Beschwerdeführer den Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen liess, hat er
eingestanden, dass aufgrund seines unmittelbaren Spurenwechsels der
herannahende Personenwagenlenker hat abbremsen müssen, um eine Kollision zu
verhindern und er dies zumindest in Kauf genommen hat. Darauf kann er im
Verwaltungsverfahren nicht mehr zurückkommen. Insofern stösst seine Rüge, die
Unschuldsvermutung gemäss Art. 32 BV bzw. Art. 6 Ziff. 2 EMRK sei verletzt, ins
Leere. Die Rüge, das Einvernahmeprotokoll der Auskunftsperson sei unverwertbar,
ändert daran nichts.  
Im Übrigen hat der Beschwerdeführer anlässlich der polizeilichen Einvernahme
ausdrücklich bestätigt, dass er ohne Richtungsanzeige vom Normalstreifen auf
den ersten Überholstreifen gewechselt habe. Weiter hat er zu Protokoll gegeben,
dass ihm beim Blick in den Rückspiegel der Abstand zum herannahenden
Personenwagen auf dem Überholstreifen grösser vorgekommen (ca. 150 - 200 m) sei
und er gedacht habe, dass es für ihn genug Platz habe, um den Fahrstreifen zu
wechseln. Dabei habe er nicht bemerkt, dass der Abstand tatsächlich maximal ca.
5 m betragen habe. Die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz entsprechen
insoweit denjenigen im Strafbefehl vom 28. Oktober 2016 (vgl. zur Bindung der
Verwaltungsbehörden an die Feststellungen der Strafbehörden BGE 124 II 103 E.
1c S. 106 f.; Urteil 1C_120/2016 vom 8. Juli 2016 E. 2; je mit Hinweisen). 
 
5.6. Die Vorinstanz hat zu Recht auf nicht leichtes Verschulden des
Beschwerdeführers geschlossen. Entgegen seiner Auffassung hat er durch den
rücksichtslosen Spurwechsel und das Unterlassen der Richtungsanzeige eine
erhöhte abstrakte Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer hervorgerufen bzw. in
Kauf genommen. Dies zeigt sich vorliegend insbesondere daran, dass ein Unfall
lediglich aufgrund des herannahenden, geistesgegenwärtig handelnden Lenkers
verhindert werden konnte. Das Fahrmanöver des Beschwerdeführers hat den
nachfolgenden Lenker zum Abbremsen gezwungen, wodurch eine nicht mehr nur
leichte abstrakte Verkehrsgefährdung geschaffen wurde, was dem Beschwerdeführer
als mittelschweres Verschulden anzulasten ist (vgl. E. 5.2).  
 
5.7. Daran ändert auch nichts, dass gemäss Strafbefehl vom 28. Oktober 2016
aufgrund einer einfachen Verkehrsregelverletzung lediglich eine Busse von Fr.
500.-- ausgesprochen wurde (vgl. E. 5.1 hiervor), wonach eine einfache
Verkehrsregelverletzung sowohl einer leichten als auch einer mittelschweren
Widerhandlung entspricht).  
Im Übrigen ist nach der Rechtsprechung die Verwaltungsbehörde bei der
rechtlichen Würdigung des Sachverhalts grundsätzlich nicht an das Urteil des
Strafgerichts gebunden. Eine Ausnahme dazu rechtfertigt sich dann, wenn die
Rechtsanwendung sehr stark von der Würdigung von Tatsachen abhängt, welche die
Strafbehörde besser kennt als die Verwaltungsbehörde, etwa weil sie den
Beschuldigten persönlich einvernommen hat (BGE 136 II 447 E. 3.1 S. 451 mit
Hinweisen). Dies ist hier nicht der Fall, geht doch aus dem Strafbefehl
deutlich hervor, dass sich die Staatsanwaltschaft in erster Linie auf den
Bericht der Kantonspolizei Zürich vom 5. September 2016 sowie die Aussagen des
Beschwerdeführers gegenüber der Polizei abgestützt hat. Die Verwaltungsbehörde
war bei ihrer rechtlichen Würdigung des Sachverhalts somit nicht an das
Strafurteil gebunden. 
 
5.8. Zusammenfassend ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz das
Verhalten des Beschwerdeführers als mittelschwere Widerhandlung beurteilte. Da
der Beschwerdeführer mit der gesetzlich zulässigen Minimalsanktion eines
Entzugs für die Dauer eines Monats gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. a SVG belegt
wurde, kann er aus dem Argument, beruflich auf den Führerausweis angewiesen zu
sein, nichts zu seinen Gunsten ableiten. Diesem Umstand wird allenfalls bei der
Festlegung des konkreten Entzugstermins Rechnung getragen werden können.  
 
6.  
Die Vorinstanz hat nicht nur die Beschwerde, sondern auch das Gesuch des
Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wegen Aussichtslosigkeit und
nicht rechtsgenüglich belegter Prozessarmut abgewiesen. 
Dies ist entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht zu beanstanden.
Eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügt, hätte sich nach dem
Ausgeführten bei vernünftiger Überlegung nicht zu einem Prozess entschlossen. 
 
7.  
Die Beschwerde ist damit abzuweisen. 
Aus dem gleichen Grund wie im vorinstanzlichen Verfahren ist das Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege auch im bundesgerichtlichen Verfahren wegen
Aussichtslosigkeit abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Die Gerichtskosten sind dem
Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung
ist nicht zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1-3 BGG). 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrs- und
Schifffahrtsamt des Kantons Bern, der Rekurskommission des Kantons Bern für
Massnahmen gegenüber Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführern und dem Bundesamt
für Strassen Sekretariat Administrativmassnahmen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 10. April 2018 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Die Gerichtsschreiberin: Sauthier 

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