Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.384/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
1C_384/2017  
 
 
Urteil vom 7. März 2018  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Karlen, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiber Kessler Coendet. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich, 
Bereich Administrativmassnahmen, 
Lessingstrasse 33, Postfach, 8090 Zürich, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
A.________, 
Beschwerdegegnerin, 
vertreten durch Rechtsanwältin Fiona Carol Forrer. 
 
Gegenstand 
Strassenverkehrsrecht (Fahreignung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 1.
Abteilung, Einzelrichter, vom 24. Mai 2017 (VB.2017.00103). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich ordnete am 6. September 2016 an,
dass sich A.________ einer verkehrsmedizinischen Abklärung ihrer Fahreignung zu
unterziehen habe. Anlass zu dieser Verfügung gab folgender Vorfall: 
Am Nachmittag des 15. Juni 2016 ging A.________ nach dem Konsum von Alkohol in
den Garten einer benachbarten Liegenschaft, hob dort eine zur Dekoration
liegende Stosskugel auf und warf diese gegen die Hauswand. Ein Sachschaden
entstand nicht. Dem Vorfall ging ein längerer Nachbarschaftsstreit voraus.
A.________ führte aus, sie sei zum Nachbarhaus hinübergegangen, weil ein Kind
geschrien habe. Die Nachbarin verständigte die Kantonspolizei Zürich, welche
A.________ am selben Tag in deren Haus aufsuchte und befragte. Die
Kantonspolizei erstattete dazu am 22. Juli 2016 einen Bericht; darin äusserte
sie ernsthafte Zweifel an der Fahrtüchtigkeit von A.________. 
 
B.  
A.________ rekurrierte gegen die Verfügung an die Sicherheitsdirektion des
Kantons Zürich. Diese wies den Rekurs am 13. Januar 2017 ab, soweit sie ihn
nicht als gegenstandslos beurteilte. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich hiess die von A.________ gegen den
Rekursentscheid erhobene Beschwerde mit Urteil vom 24. Mai 2017 gut. Damit hob
es die Anordnung zur Abklärung der Fahreignung auf. 
 
C.  
Das Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich beantragt mit Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 13. Juli 2017, das Urteil des
Verwaltungsgerichts aufzuheben. 
A.________ und das Verwaltungsgericht ersuchen um Abweisung der Beschwerde,
soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Strassen ASTRA stellt in der
Vernehmlassung vom 5. Oktober 2017 den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid, mit dem die
Vorinstanz die Anordnung einer Fahreignungsuntersuchung aufgehoben hat. Das
kantonale Strassenverkehrsamt ist zur Beschwerde berechtigt (Art. 89 Abs. 2
lit. d BGG in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 lit. a SVG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die
Beschwerde ist einzutreten.  
 
1.2. Das Strassenverkehrsamt hat am 12. Dezember 2017 das Bundesgericht unter
Beilage der Polizeiakten informiert, dass die Beschwerdegegnerin am 27.
November 2017 einen Personenwagen in angetrunkenem Zustand gelenkt habe.
Insoweit werde ein Verfahren zum Warnungsentzug eingeleitet. Das Bundesgericht
hat dieses Schreiben samt allen Beilagen der Beschwerdegegnerin zur
Vernehmlassung übermittelt. Das Begehren der Beschwerdegegnerin um Einsicht in
act. 15 ist gegenstandslos, weil die von ihrer Rechtsvertreterin bei act. 18
Rz. 1 aufgezählten Dokumente dem Dossier in act. 15 entsprechen. Letztere hat
am 17. Januar 2018 dazu Stellung genommen.  
Die Eingabe des Beschwerdeführers vom 12. Dezember 2017 stellt zwar ein echtes
Novum dar, zumal sich der darin geschilderte Vorfall erst nach Erlass des
angefochtenen Urteils ereignet hat. Aufgrund dessen stünde aber selbst bei
einer Abweisung der hier zu beurteilenden Beschwerde die Anordnung einer
Fahreignungsuntersuchung weiterhin zur Debatte. Aus prozessökonomischen Gründen
ist es daher gerechtfertigt, den Vorfall vom 27. November 2017 in die
vorliegende Würdigung miteinzubeziehen (vgl. Urteil 1C_13/2017 vom 19. Mai 2017
E. 1.2). 
 
2.  
Streitig ist, ob die Vorinstanz die Anordnung der Fahreignungsuntersuchung zu
Recht aufgehoben hat. 
 
2.1. Der Führerausweis wird entzogen, wenn festgestellt wird, dass die
gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen (Art.
16 Abs. 1 SVG). Einer Person wird der Führerausweis auf unbestimmte Zeit
entzogen, wenn sie an einer Sucht leidet, welche die Fahreignung ausschliesst (
Art. 16d Abs. 1 lit. b SVG). Trunksucht wird nach der Praxis des Bundesgerichts
bejaht, wenn der Fahrzeugführer regelmässig so viel Alkohol konsumiert, dass
seine Fahrfähigkeit vermindert wird und er keine Gewähr bietet, den
Alkoholkonsum zu kontrollieren und ihn ausreichend vom Strassenverkehr zu
trennen, so dass die Gefahr nahe liegt, dass er im akuten Rauschzustand am
motorisierten Strassenverkehr teilnimmt (BGE 129 II 82 E. 4.1 S. 86 f.; 127 II
122 E. 3c S. 126). Der Suchtbegriff des Verkehrsrechts deckt sich nicht mit dem
medizinischen Begriff der Alkoholabhängigkeit. Auch bloss suchtgefährdete
Personen, bei denen aber jedenfalls ein Alkoholmissbrauch vorliegt, können vom
Führen eines Motorfahrzeugs ferngehalten werden (Urteil 1C_147/2017 vom 22.
Juni 2017 E. 3.2.2 mit Hinweisen). Entsprechende Anhaltspunkte ergeben sich
etwa aus den Konsumgewohnheiten der Betroffenen, ihrer Vorgeschichte, dem
bisherigen Verhalten im Strassenverkehr und ihrer Persönlichkeit (vgl. Urteile
1C_508/2016 vom 18. April 2017 E. 2.1; 1C_111/2015 vom 21. Mai 2015 E. 4.4).  
 
2.2. Bestehen Zweifel an der Fahreignung einer Person, so wird diese einer
Fahreignungsuntersuchung unterzogen. In einer nicht abschliessenden Aufzählung
nennt Art. 15d Abs. 1 (lit. a-e) SVG Beispiele von Fällen, in denen Zweifel an
der Fahreignung bestehen. Dies ist unter anderem der Fall bei Fahren in
angetrunkenem Zustand mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,6
Gewichtspromille oder mehr oder mit einer Atemalkoholkonzentration von 0,8 mg
Alkohol oder mehr pro Liter Atemluft (Art. 15d Abs. 1 lit. a SVG). Nach der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind die Anforderungen an die Anordnung
einer Fahreignungsuntersuchung nicht dieselben wie für den vorsorglichen
Führerausweisentzug, obschon diese beiden Massnahmen häufig zusammen ergehen:
Während für Erstere hinreichende Anhaltspunkte ausreichen, welche die
Fahreignung in Frage stellen, setzt der vorsorgliche Führerausweisentzug
voraus, dass ernsthafte Zweifel an der Fahreignung einer Person bestehen, wie
dies namentlich bei konkreten Hinweisen auf eine Alkoholabhängigkeit der Fall
ist (zum Ganzen: Urteil 1C_531/2016 vom 22. Februar 2017 E. 2.4.2 mit
Hinweisen). Die Anordnung einer verkehrsmedizinischen Untersuchung setzt nicht
zwingend voraus, dass der Fahrzeugführer tatsächlich unter dem Einfluss von
Alkohol oder Betäubungsmitteln gefahren ist (vgl. Urteile 1C_111/2015 vom 21.
Mai 2015 E. 4.6; 1C_328/2013 vom 18. September 2013 E. 3.2; 1C_445/2012 vom 26.
April 2013 E. 3.2).  
 
2.3. Im zu beurteilenden Fall liegt bei der Beschwerdegegnerin nach den
Feststellungen der Vorinstanz eine Kombination von psychischen Störungen vor,
die Depression, Angststörung und schädlichen Alkoholkonsum umfasst. Das
Bestehen von Anhaltspunkten für eine Alkoholabhängigkeit der Beschwerdegegnerin
hat die Vorinstanz aber verneint. Zudem fehlt es nach der Vorinstanz bei der
Beschwerdegegnerin am Konnex zwischen dem Alkoholkonsum und der Teilnahme am
Strassenverkehr. Die Vorinstanz hielt der Beschwerdegegnerin den ungetrübten
automobilistischen Leumund zugute. Unter Bezugnahme auf einen Bericht der
Ärztin, bei der sich die Beschwerdegegnerin in Behandlung befindet, hat die
Vorinstanz weiter ausgeführt, die Beschwerdegegnerin trinke Alkohol in
Krisenzeiten ihrer Depression, um so Schlaf zu finden. Sie fahre folglich
nicht, wenn sie trinke und umgekehrt. Diese ärztlichen Ausführungen sind nach
Ansicht der Vorinstanz nachvollziehbar, weil sie die allgemein bekannten
Symptome von Depressionen und Angstzuständen beschreiben würden. Den Vorfall
vom 15. Juni 2016 mit der Dekorationskugel betrachtete die Vorinstanz als
relativ harmlos. Dieser wecke keine Zweifel an der Fahrtüchtigkeit der
Beschwerdeführerin. Auch der Umstand, dass die Beschwerdegegnerin seit mehreren
Jahren zur Behandlung der Angststörung ärztlich verschriebene Medikamente
(Benzodiazepine) einnimmt, ändere nichts an der Beurteilung.  
 
2.4. Es ist fraglich, ob im Zeitpunkt des angefochtenen Urteils bereits
hinreichende Indizien für Zweifel an der Fahreignung der Beschwerdegegnerin
vorgelegen haben. Wie es sich damit im Einzelnen verhält, kann allerdings
offenbleiben. Am 27. November 2017 hat sich gezeigt, dass die
Beschwerdegegnerin den Genuss von Alkohol und die Teilnahme am Strassenverkehr
nicht zu trennen vermochte. Sie hat nicht bestritten, an jenem Tag einen
Personenwagen in angetrunkenem Zustand gelenkt zu haben, wobei die polizeilich
durchgeführte Atemalkoholprobe eine Blutalkoholkonzentration von 1,32
Gewichtspromillen ergab. Zwar trifft es zu, dass dieses Untersuchungsergebnis
unterhalb des Werts von 1,6 Gewichtspromillen gemäss Art. 15d Abs. 1 lit. a SVG
liegt. Es ist aber zu berücksichtigen, dass die Vorinstanz bei der
Beschwerdegegnerin einen Mischkonsum von Alkohol und Benzodiazepinen
festgestellt hat. Die Beschwerdegegnerin bringt vor, es wäre mutmasslich nicht
zum Vorfall vom 27. November 2017 gekommen, wenn sie im damaligen Zeitpunkt
ihre Medikamente in der üblichen Dosis gehabt hätte. Der Umstand, dass die
Beschwerdegegnerin verhindert ist, die geeigneten Medikamente rechtzeitig
einzunehmen, kann jedoch wieder eintreten, ohne dass sie es zu vertreten hätte.
Ausserdem hat die Beschwerdegegnerin bei den Vorfällen vom 15. Juni 2016 und
27. November 2017 nach der Alkoholeinnahme - trotz der allfälligen Absicht,
schlafen zu gehen - beachtliche Aktivitäten ausser Haus unternommen; die
Annahme der Vorinstanz, dass die Beschwerdegegnerin Alkohol nur einnehme, um so
Schlaf zu finden, wird dadurch widerlegt. In einer Gesamtwürdigung bestehen
jedenfalls seit dem Vorfall vom 27. November 2017 konkrete Anzeichen dafür,
dass die Beschwerdegegnerin keine Gewähr dafür bietet, den Konsum von Alkohol
und die Teilnahme am Strassenverkehr ausreichend zu trennen. Mithin gibt es
hinreichende Anhaltspunkte, die Zweifel an der Fahreignung der
Beschwerdegegnerin zu wecken vermögen. Die Aufhebung der Anordnung einer
Fahreignungsuntersuchung durch die Vorinstanz erweist sich demzufolge als
bundesrechtswidrig.  
 
3.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist
aufzuheben; hingegen sind die Anordnung der Fahreignungsuntersuchung gemäss
Verfügung des Strassenverkehrsamts vom 6. September 2016 und der
Rekursentscheid der Sicherheitsdirektion vom 13. Januar 2017 zu bestätigen. Die
Vorinstanz wird über die Kostenliquidation in ihrem Verfahren neu zu befinden
haben. 
Bei diesem Verfahrensausgang wird die unterliegende Beschwerdegegnerin für das
bundesgerichtliche Verfahren kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Parteientschädigungen sind nicht zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1-3 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des
Kantons Zürich vom 24. Mai 2017 wird aufgehoben. Die Anordnung der
Fahreignungsuntersuchung gemäss Verfügung des Strassenverkehrsamts des Kantons
Zürich vom 6. September 2016 und der Rekursentscheid der Sicherheitsdirektion
vom 13. Januar 2017 werden bestätigt. 
 
2.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorinstanzlichen Verfahrens an das Verwaltungsgericht Zürich zurückgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten des bundesgerichtlichen Verfahrens von Fr. 2'000.-- werden
der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, 1.
Abteilung, Einzelrichter, und dem Bundesamt für Strassen, Sekretariat
Administrativmassnahmen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 7. März 2018 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Kessler Coendet 

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