Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.162/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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1C_162/2017            

 
 
 
Urteil vom 4. September 2017  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Eusebio, Kneubühler, 
Gerichtsschreiber Mattle. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Gemeinde Geuensee, 
Beschwerdeführerin, 
handelnd durch den Gemeinderat Geuensee, 
Chäppelimatt 7, 6232 Geuensee, 
und dieser vertreten durch Rechtsanwalt 
Dr. Mischa Berner, 
 
gegen  
 
A.________ AG, 
Beschwerdegegnerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Christoph Hess-Keller. 
 
Weitere Beteiligte: 
 
1. B.D.________, 
2. C.D.________. 
 
Gegenstand 
Bau- und Planungsrecht, 
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 7. Februar 2017 des Kantonsgerichts Luzern, 4.
Abteilung. 
 
 
Sachverhalt:  
Die A.________ AG ist Eigentümerin des Grundstücks Nr. 960 in Geuensee. Auf
deren Nachbargrundstück Nr. 959 wurden durch die Eigentümer B. und C.
D.________ ohne vorgängiges Baubewilligungsverfahren Terrainveränderungen,
Unterhaltsarbeiten und weitere Bauarbeiten vorgenommen, worauf die A.________
AG einen Baustopp sowie die nachträgliche Durchführung eines
Baubewilligungsverfahrens verlangte. Mit Verfügung vom 4. März 2016 stellte der
Gemeinderat Geuensee unter anderem fest, die ausgeführten Arbeiten seien nicht
bewilligungspflichtig. 
Eine von der A.________ AG gegen die Verfügung vom 4. März 2016 erhobene
Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern am 7. Februar 2017
gut. Es hob die Verfügung vom 4. März 2016 auf und wies den Gemeinderat an, in
der Sache ein nachträgliches Baubewilligungsverfahren durchzuführen. 
Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 7. Februar 2017 hat die Gemeinde
Geuensee am 16. März 2017 Beschwerde ans Bundesgericht erhoben. Sie beantragt,
das angefochtene Urteil sei aufzuheben und ihr Entscheid bezüglich der
Nichtbaubewilligungspflicht sei zu bestätigen. Eventualiter sei die
Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die
Vorinstanz und die A.________ AG als Beschwerdegegnerin beantragen je die
Abweisung der Beschwerde. B. und C. D.________ liessen sich nicht vernehmen.
Mit Eingabe vom 3. Juli 2017 hat die Beschwerdeführerin an ihrer Beschwerde
festgehalten. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer
öffentlich-rechtlichen Angelegenheit (Art. 82 lit. a und Art. 86 Abs. 1 lit. d
BGG). Die Vorinstanz hiess die Beschwerde der Beschwerdegegnerin gut und wies
die Sache zur Durchführung eines Baubewilligungsverfahrens an die Gemeinde
zurück. Fraglich ist, ob es sich beim angefochtenen Urteil - wie die
Beschwerdeführerin annimmt - um einen anfechtbaren Endentscheid im Sinne von 
Art. 90 BGG oder um einen Vor- oder Zwischenentscheid handelt, zumal das
angefochtene Urteil zwar das Verfahren um Prüfung der Baubewilligungspflicht
abschliesst (vgl. Urteil 1C_47/2008 vom 8. August 2008 E. 1.1), gleichzeitig
aber die Durchführung eines Baubewilligungsverfahrens verlangt. Auch wenn man
das angefochtene Urteil als Vor- oder Zwischenentscheid qualifiziert, kann die
Gemeinde es nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG anfechten, zumal ihr nicht zuzumuten
ist, entgegen ihrer Rechtsauffassung ein Baubewilligungsverfahren
durchzuführen, um später geltend zu machen, es habe gar keine
Baubewilligungspflicht bestanden (vgl. BGE 133 II 409 E. 1.2 S. 412 mit
Hinweisen; Urteil 1C_68/2014 vom 15. August 2014 E. 1.1, nicht publ. in: BGE
140 II 378). Die Beschwerdeführerin ist befugt, mit Beschwerde eine Verletzung
ihrer Gemeindeautonomie geltend zu machen (Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG). Ob die
beanspruchte Autonomie tatsächlich besteht, ist keine Frage des Eintretens,
sondern der materiellen Beurteilung. Dasselbe gilt für die Frage, ob die
Autonomie im konkreten Fall tatsächlich verletzt wurde (BGE 140 I 90 E. 1.1 S.
92 mit Hinweisen). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind,
ist auf die Beschwerde vorbehältlich zulässiger und genügend begründeter Rügen
(vgl. Art. 42 Abs. 2 sowie Art. 106 Abs. 2 i.V.m. Art. 95 BGG) einzutreten. 
 
2.   
Wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen (vgl. E. 3.2 sowie 3.3.3 hiernach)
ergibt, sind die tatsächlichen Vorbringen der Beschwerdeführerin für den
Ausgang des bundesgerichtlichen Verfahrens nicht wesentlich. Die Rüge, die
Vorinstanz habe den entscheidwesentlichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig
festgestellt, vermag der Beschwerdeführerin daher nicht zu helfen (vgl. Art. 97
Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 1 BGG). 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung der Gemeindeautonomie. In der
Frage, ob die vorgenommenen Bauarbeiten baubewilligungspflichtig seien, komme
ihr nach kantonalem und eidgenössischem Recht ein gemeindefreiheitsbezogener
Ermessensspielraum zu, der durch den Entscheid der Vorinstanz verletzt worden
sei. 
 
3.1. Art. 50 Abs. 1 BV gewährleistet die Gemeindeautonomie nach Massgabe des
kantonalen Rechts. Nach der Rechtsprechung sind Gemeinden in einem Sachbereich
autonom, wenn das kantonale Recht diesen nicht abschliessend ordnet, sondern
ihn ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine
relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt. Der geschützte
Autonomiebereich kann sich auf die Befugnis zum Erlass oder Vollzug eigener
kommunaler Vorschriften beziehen oder einen entsprechenden Spielraum bei der
Anwendung kantonalen oder eidgenössischen Rechts betreffen. Der Schutz der
Gemeindeautonomie setzt eine solche nicht in einem ganzen Aufgabengebiet,
sondern lediglich im streitigen Bereich voraus. Im Einzelnen ergibt sich der
Umfang der kommunalen Autonomie aus dem für den entsprechenden Bereich
anwendbaren kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht (BGE 141 I 36 E. 5.3 S.
42 f. mit Hinweisen).  
 
3.2. Besteht in diesem Sinne Autonomie, kann sich die Gemeinde dagegen zur Wehr
setzen, dass eine kantonale Behörde im Rechtsmittelverfahren die den
betreffenden Sachbereich ordnenden kommunalen, kantonalen oder
bundesrechtlichen Normen falsch anwendet oder ihre Prüfungsbefugnis
überschreitet. Die Gemeinden können in diesem Rahmen auch geltend machen, die
kantonalen Instanzen hätten verfassungsrechtliche Verfahrensrechte verletzt
oder die Tragweite eines Grundrechts verkannt und dieses zu Unrecht als
verletzt erachtet (BGE 131 I 91 E. 1 S. 93; 128 I 3 E. 2b S. 9). Nur wenn
Autonomie besteht, kann sich die nach Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG legitimierte
Gemeinde in Anwendung von Art. 97 Abs. 1 BGG auf eine offensichtlich unrichtige
Feststellung des Sachverhalts berufen (vgl. Urteil 1C_131/2015 vom 16. Oktober
2015 E. 2.2).  
 
3.3. Zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführerin im Rahmen der aufgeworfenen
Streitfrage eine im Sinne der Rechtsprechung relativ erhebliche
Entscheidungsfreiheit zukommt.  
 
3.3.1. Nach § 68 Abs. 2 der Verfassung des Kantons Luzern vom 17. Juni 2007 (KV
/LU; SR 131.213) ist die Autonomie der Gemeinden gewährleistet (Satz 1). Die
Gesetzgebung bestimmt ihren Umfang und gewährt einen möglichst grossen
Handlungsspielraum (Satz 2).  
Gemäss Art. 22 Abs. 1 RPG dürfen Bauten und Anlagen nur mit behördlicher
Bewilligung errichtet oder geändert werden. Bauten und Anlagen im Sinne dieser
Bestimmung sind künstlich geschaffene und auf Dauer angelegte Einrichtungen,
die in fester Beziehung zum Erdboden stehen und geeignet sind, die Vorstellung
über die Nutzungsordnung zu beeinflussen, sei es, dass sie den Raum äusserlich
erheblich verändern, die Erschliessung belasten oder die Umwelt
beeinträchtigen. Massstab dafür, ob eine bauliche Massnahme erheblich genug
ist, um sie dem Baubewilligungsverfahren zu unterwerfen ist dabei die Frage, ob
mit der Realisierung der Baute oder Anlage im Allgemeinen, nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge, so wichtige räumliche Folgen verbunden sind, dass
ein Interesse der Öffentlichkeit oder der Nachbarn an einer vorgängigen
Kontrolle besteht. Die Baubewilligungspflicht soll es mithin der Behörde
ermöglichen, das Bauprojekt in Bezug auf seine räumlichen Folgen vor seiner
Ausführung, auf die Übereinstimmung mit der raumplanerischen Nutzungsordnung
und der übrigen einschlägigen Gesetzgebung zu überprüfen (BGE 139 II 134 E.
5.2. S. 139 f. mit Hinweisen). Der bundesrechtliche Begriff der
bewilligungspflichtigen Bauten und Anlagen kann von den Kantonen weiter, nicht
aber enger gefasst werden (Urteil 1C_424/2016 vom 27. März 2017 E. 2.1.1 mit
Hinweis). Es bleibt den Kantonen vorbehalten, über den bundesrechtlichen
Mindeststandard hinauszugehen und weitere Vorgänge der Bewilligungspflicht zu
unterstellen. Hingegen können sie nicht von der Bewilligungspflicht ausnehmen,
was nach Art. 22 RPG einer Bewilligung bedarf (Urteil 1C_509/2010 vom 16.
Februar 2011 E. 2.3.1 mit Hinweis). 
Nach dem Recht des Kantons Luzern gelten im Wesentlichen die gleichen
Anforderungen wie nach Art. 22 Abs. 1 RPG. Gemäss § 184 des Planungs- und
Baugesetzes des Kantons Luzern vom 7. März 1989 (PBG; SRL 735) hat, wer eine
Baute oder Anlage erstellen, baulich oder in ihrer Nutzung ändern will, dafür
eine Baubewilligung einzuholen (Abs. 1). Ausgenommen sind Bauten und Anlagen
oder Änderungen derselben, für die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge kein
Interesse der Öffentlichkeit oder der Nachbarn besteht, die Übereinstimmung mit
den öffentlich-rechtlichen Bau- und Nutzungsvorschriften vorgängig zu
kontrollieren. Dazu zählen insbesondere Reparatur- und Unterhaltsarbeiten (Abs.
2). Der Regierungsrat bestimmt in der Verordnung jene Bauten und Anlagen und
jene Änderungen derselben, die in einem vereinfachten Verfahren nach § 198 PBG
bewilligt werden können oder in der Regel keiner Baubewilligung bedürfen (Abs.
3). In der Planungs- und Bauverordnung des Kantons Luzern vom 29. Oktober 2013
(PBV; SRL 736) wird in einer nicht abschliessenden Liste konkretisiert, welche
Bauten und Anlagen in der Regel baubewilligungspflichtig sind (§ 53). Gemäss §
54 Abs. 1 PBV sind Bauten und Anlagen oder Änderungen derselben von der
Baubewilligungspflicht ausgenommen, für die nach dem gewöhnlichen Lauf der
Dinge kein Interesse der Öffentlichkeit oder der Nachbarn besteht, die
Übereinstimmung mit den öffentlich-rechtlichen Bau- und Nutzungsvorschriften
vorgängig zu kontrollieren. So bedürfen gemäss § 54 Abs. 2 PBV in der Regel
keiner Baubewilligung namentlich Mauern und Einfriedungen bis 1,5 m Höhe ab
massgebendem Terrain (lit. h) oder innerhalb der Bauzonen Terrainveränderungen
wie Böschungen, Abgrabungen und Aufschüttungen bis 1,5 m Höhe ab massgebendem
Terrain, welche nicht mehr als 150 m³ umfassen (lit. i). 
Nach der Praxis der Vorinstanz steht der kommunalen Baubehörde bei der Frage,
ob ein Baubewilligungsverfahren einzuleiten sei, zwar ein gewisser
Ermessensspielraum zu. Wenn allerdings Anhaltspunkte bestünden, dass ein
bewilligungspflichtiger Sachverhalt vorliegen könnte, so habe diese im
Zweifelsfall ein Bewilligungsverfahren einzuleiten (vgl. E. 4.2 des
angefochtenen Urteils). 
 
3.3.2. Soweit die Baubewilligungspflicht durch Art. 22 Abs. 1 RPG unmittelbar
bundesrechtlich definiert wird, steht den Luzerner Gemeinden kein relativ
erheblicher Entscheidungsspielraum und damit keine Autonomie zu. Aber auch bei
der Anwendung der erwähnten kantonalen Bestimmungen besteht kein relativ
grosser Beurteilungsspielraum für die Gemeinden (vgl. Urteil 1C_47/2008 vom 8.
August 2008 E. 2.5.2), zumal die kantonale Regelung relativ detailliert ist und
die Beschwerdeführerin auch keine kommunalen Normen anführt, welche die
Vorinstanz zu beachten gehabt hätte. Wenn bestimmte Bauarbeiten nach dem
kantonalen Recht in Verbindung mit Art. 22 RPG bewilligungspflichtig sind, ist
ein Baubewilligungsverfahren durchzuführen. Daran ändert auch der Umstand
nichts, dass die Gemeinde über einen gewissen Ermessensspielraum verfügen mag
bei der Beurteilung der Frage, ob mit dem Bauvorhaben so wichtige räumliche
Folgen verbunden sind, dass ein Interesse der Öffentlichkeit oder der Nachbarn
an einer vorgängigen Kontrolle besteht.  
 
3.3.3. Bei der Beurteilung der Frage, ob die vorliegend bereits ausgeführten
Bauarbeiten baubewilligungspflichtig sind oder nicht, besteht nach dem
Ausgeführten keine im beschriebenen Sinn geschützte Autonomie für die Gemeinde.
Damit dringt die Beschwerdeführerin mit der Rüge, das angefochtene Urteil
verletze die Gemeindeautonomie, nicht durch. Unter diesen Umständen kann sie
sich im Übrigen von vornherein nicht auf eine unrichtige Feststellung des
Sachverhalts berufen (vgl. E. 3.2 hiervor).  
 
4.   
Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des
Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Die
Beschwerdeführerin hat der anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnerin eine
angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'250.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Beschwerdegegnerin, den weiteren
Beteiligten und dem Kantonsgericht Luzern, 4. Abteilung, schriftlich
mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 4. September 2017 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Mattle 

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