Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.144/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1C_144/2017

Urteil vom 2. Juni 2017

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Martin Leiser,

gegen

Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau,
Postfach, 5001 Aarau,
Departement Volkswirtschaft und Inneres
des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 12, 5001 Aarau.

Gegenstand
Anordnung einer verkehrspsychiatrischen Begutachtung,

Beschwerde gegen das Urteil vom 1. Februar 2017 des Verwaltungsgerichts des
Kantons Aargau, 1. Kammer.

Sachverhalt:

A.
A.________ stürzte am 19. Dezember 2015 auf dem Trottoir der Aarestrasse in
Döttingen und brach sich dabei den Fuss. Eine Patrouille der von einer
Drittperson um 01.36 Uhr alarmierten Regionalpolizei Zurzibiet liess
A.________, der nicht mehr aufstehen konnte, per Ambulanz ins Spital
überführen. Der durchgeführte Atemalkoholtest ergab einen Wert von 2.27 g/kg.
Da A.________ der Führerausweis wegen Vereitelung der Blutprobe und Fahrens in
angetrunkenem Zustand wiederholt entzogen worden war, meldete die Polizei den
Vorfall dem Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau, obwohl A.________ bei
seinem Sturz zu Fuss unterwegs war.
Am 11. Mai 2016 verfügte das Strassenverkehrsamt, A.________ habe sich einer
verkehrspsychiatrischen Begutachtung zu unterziehen.
Am 24. August 2016 wies das Departement Volkswirtschaft und Inneres (DVI) die
Beschwerde von A.________ gegen diese Verfügung des Strassenverkehrsamts ab.
Am 1. Februar 2017 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau die
Beschwerde von A.________ gegen diese Departementalverfügung ab, soweit es
darauf eintrat, und ordnete an, A.________ habe den vom Strassenverkehrsamt für
die Begutachtung eingeforderten Kostenvorschuss innert 30 Tagen ab Rechtskraft
seines Urteils zu bezahlen.

B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
dieses Verwaltungsgerichtsurteil und damit die Verpflichtung, sich einer
verkehrspsychiatrischen Begutachtung zu unterziehen, aufzuheben. Die Sache sei
zur Neuregelung der Kosten- und Entschädigungsfolgen an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er, seiner Beschwerde aufschiebende Wirkung
zuzuerkennen.

C.
Das Verwaltungsgericht, das Departement und das Strassenverkehrsamt verzichten
auf Vernehmlassung.
A.________ gibt eine Leberwertuntersuchung zu den Akten. Das Bundesamt für
Strassen (ASTRA) beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

D.
Am 30. März 2017 erkannte der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
der Beschwerde aufschiebende Wirkung zu.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in einer
Angelegenheit des öffentlichen Rechts. Dagegen steht die Beschwerde nach Art.
82 ff. BGG offen; ein Ausnahmegrund ist nicht gegeben (Art. 83 BGG). Die
kantonalen Instanzen haben eine verkehrspsychiatrische Begutachtung des
Beschwerdeführers angeordnet. Der angefochtene Entscheid schliesst das
Verfahren nicht ab; er stellt daher einen Zwischenentscheid dar, der nach der
Rechtsprechung anfechtbar ist, da er einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil
im Sinn von Art. 93 Abs. 1 lit a BGG bewirkt. Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde einzutreten ist.

2.

2.1. Führerausweise werden entzogen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen zur
Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen (Art. 16 Abs. 1 SVG). Nach Art. 16d
Abs. 1 lit. b SVG wird der Lernfahr- oder Führerausweis einer Person auf
unbestimmte Zeit entzogen, wenn sie an einer Sucht leidet, welche die
Fahreignung ausschliesst. Ein allfälliger Sicherungsentzug im Sinne dieser
Bestimmung setzt das Vorliegen einer Sucht voraus. Trunksucht wird nach der
Praxis des Bundesgerichtes bejaht, wenn der Lenker regelmässig so viel Alkohol
konsumiert, dass seine Fahrfähigkeit vermindert wird und er keine Gewähr
bietet, den Alkoholkonsum zu kontrollieren und ihn ausreichend vom
Strassenverkehr zu trennen, sodass die Gefahr naheliegt, dass er im akuten
Rauschzustand am motorisierten Strassenverkehr teilnimmt (BGE 127 II 122 E. 3c
S. 126; 124 II 559 E. 3d S. 564, E. 4e S. 567, je mit Hinweisen).

2.2. Eine verkehrsmedizinische Abklärung darf nur angeordnet werden, wenn
konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die ernsthafte Zweifel an der Fahreignung des
Betroffenen wecken. Sie ist nach der Praxis des Bundesgerichtes namentlich dann
angebracht, wenn die Blutalkoholkonzentration 2,5 Promille und mehr beträgt,
auch wenn sich der Betroffene während der letzten fünf Jahre vor der aktuellen
Trunkenheitsfahrt keine einschlägige Widerhandlung zu Schulde kommen liess. Wer
sich mit einer derart hohen Blutalkoholkonzentration noch ans Steuer setzt,
verfügt über eine so grosse Alkoholtoleranz, dass in aller Regel auf eine
Alkoholabhängigkeit geschlossen werden muss. Dasselbe gilt für einen Lenker,
der innerhalb eines Jahres zweimal in erheblich angetrunkenem Zustand - mit
1,74 bzw. 1,79 Promillen - ein Motorfahrzeug führte (BGE 129 II 82 E. 4.2 S.
87; 127 II 122 E. 3c S. 125).

2.3. Wird eine verkehrsmedizinische Abklärung angeordnet, so ist der
Führerausweis nach Art. 30 VZV im Prinzip vorsorglich zu entziehen (BGE 125 II
396 E. 3 S. 401; Entscheide des Bundesgerichts 1C_618/2015 vom 7. März 2016 E.
2; 1C_70/2014 vom 27. Mai 2014 E. 2.2; 1C_748/2013 vom 16. Januar 2014 E. 3.3;
1C_356/2011 vom 17. Januar 2012 E. 2.2; 1C_420/2007 vom 18. März 2008 E. 3.2
und 6A.17/2006 vom 12. April 2006 E. 3.2; vgl. auch 1C_256/2011 vom 22.
September 2011 E. 2.5). Diesfalls steht die Fahreignung des Betroffenen
ernsthaft in Frage, weshalb es unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit
grundsätzlich nicht zu verantworten ist, ihm den Führerausweis bis zum
Vorliegen des Untersuchungsergebnisses zu belassen.

3. 

3.1. Der automobilistische Leumund des Beschwerdeführers ist erheblich getrübt,
insbesondere in Bezug auf Alkohol bzw. Trunkenheitsfahrten. So wurde ihm der
Ausweis 1997 wegen Vereitelung der Blutprobe für zwei Monate, 2005 wegen zwei
Trunkenheitsfahrten mit 0.69 g/kg bzw. 0.56 g/kg Alkohol im Blut für einen
Monat und 2011 wegen einer Trunkenheitsfahrt mit 2.46 g/kg Alkohol im Blut auf
unbestimmte Zeit entzogen. Am 14. März 2012 wurde ihm der Führerausweis mit
sofortiger Wirkung wieder erteilt.
Der Beschwerdeführer hatte somit in der Vergangenheit offensichtlich
verkehrsrelevante Alkoholprobleme bzw. Schwierigkeiten, Alkoholkonsum und
Teilnahme am motorisierten Strassenverkehr zuverlässig zu trennen. Seit der
Wiedererteilung des Führerausweises am 14. März 2012 - mithin seit mehr als 5
Jahren - hat er sich indessen nichts mehr zu Schulden kommen lassen.

3.2. Für das Strassenverkehrsamt bot der schwere Rausch, den sich der
Beschwerdeführer am 19. Dezember 2015 angetrunken hat, Anlass, an seiner
Fahreignung zu zweifeln und eine verkehrspsychiatrische Begutachtung
anzuordnen. In bewusster Abweichung von der oben unter E. 2.3 angeführten
Praxis des Bundesgerichts hat es dem Beschwerdeführer den Ausweis allerdings
nicht vorsorglich entzogen. Es hat dazu ausgeführt, ein vorsorglicher
Führerausweisentzug könne nur dann angeordnet werden, wenn genügend
Anhaltspunkte dafür bestünden, dass der Fahrzeuglenker ein besonderes Risiko
für andere Verkehrsteilnehmer darstelle, die erforderlichen Abklärungen zur
Fahreignung aber nicht der Dringlichkeit entsprechend vorgenommen werden
könnten. Vorliegend ergebe sich, dass bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände
- längerfristig betrachtet - erhebliche Zweifel an der Fahreignung bestünden.
Hingegen lägen zuwenig intensive Anhaltspunkte dafür vor, dass der
Beschwerdeführer als Folge einer allfällig fehlenden Fahreignung andere
Verkehrsteilnehmer in erhöhtem Mass gefährden könnte, wenn er bis zum Vorliegen
der verkehrspsychiatrischen Begutachtung weiterhin am Verkehr teilnehme.

3.3. Geht man mit dem Strassenverkehrsamt davon aus, dass aufgrund des Vorfalls
vom 19. Dezember 2015 ernsthaft zu befürchten ist, der Beschwerdeführer sei in
alte Trinkmuster zurückgefallen und könnte ausserstande sein, exzessiven
Alkoholkonsum und Teilnahme am motorisierten Strassenverkehr zuverlässig zu
trennen, so muss damit gerechnet werden, dass er sich - wie früher mehrmals -
stark alkoholisiert ans Steuer setzt. Solche Trunkenheitsfahrten, besonders mit
hoher Alkoholisierung, stellen unzweifelhaft eine unmittelbare, konkrete und
grosse Gefahr für die Verkehrssicherheit dar. Besteht ein begründeter Verdacht,
dass ein Lenker solche Fahrten unternehmen könnte, ist ihm der Ausweis
vorsorglich abzunehmen und seine Fahreignung abzuklären. Die Auffassung des
Strassenverkehrsamts, dieses Risiko sei kurz- und mittelfristig - bis zum
rechtskräftigen Entscheid über die Anordnung der verkehrspsychiatrischen
Abklärung, was bei zwei Rechtsmittelinstanzen im Kanton und einer im Bund
Monate oder sogar Jahre dauern kann - tragbar, ist nicht nachvollziehbar.
Besteht ein ernsthafter Grund zur Annahme, dass einem Lenker wegen
verkehrsrelevanten Alkoholmissbrauchs die Fahreignung abgeht, so besteht das
Risiko, dass er sich (stark) betrunken ans Steuer setzt, jederzeit bzw. ab
sofort. Ihm ist diesfalls der Ausweis vorsorglich zu entziehen, bis durch ein
verkehrsmedizinisches Gutachten feststeht, dass die Befürchtung unbegründet
ist.

3.4. Das Strassenverkehrsamt hat das Risiko einer neuerlichen Trunkenheitsfahrt
als so gering eingestuft, dass dem Beschwerdeführer der Ausweis belassen werden
könne. Diese Einschätzung ist vertretbar. Einmal ist der beim Beschwerdeführer
am 19. Dezemer 2015 gemessene Wert zwar hoch, liegt aber unter dem vom
Bundesgericht festgelegten Grenzwert von 2,5 Promillen, bei dem eine
Fahreignungsabklärung in jedem Fall als angezeigt erscheint. Zum anderen lagen
die Werte des indirekten Alkoholmarkers GGT, anders als bei zwei früheren
Messungen, am 29. September 2015, am 29. Oktober 2015, am 26. November 2015
sowie am 10. März 2016 im Referenzbereich. Das gilt nach der vom
Beschwerdeführer im bundesgerichtlichen Verfahren neu eingereichten
Untersuchung des Universitätsspitals Zürich auch für den 27. März 2017. Das ist
zwar, wie das Strassenverkehrsamt zu Recht ausführt, kein Beweis dafür, dass
der Beschwerdeführer keinen verkehrsrelevanten Alkoholmissbrauch mehr betreibt,
aber immerhin ein deutlicher Hinweis dafür. Dazu kommt, dass er sich im
Strassenverkehr seit über fünf (bzw. nunmehr sechs) Jahren bewährt hat. Damit
erscheint es plausibel, dass es sich beim Rauschtrinken vom 19. Dezember 2015,
welches keinen Bezug zu einer allfälligen Teilnahme am motorisierten
Strassenverkehr hatte, um ein isoliertes Ereignis handelt und damit auch nicht
die Annahme rechtfertigt, dass der Beschwerdeführer erneut einen
verkehrsrelevanten Alkoholüberkonsum betreiben könnte. Nachdem das
Strassenverkehrsamt den Beschwerdeführer nach dem Vorfall unbehelligt
weiterfahren liess und er dies offenbar seit rund 1 ½ Jahren auch tut, ohne
dass er Anlass zu Beanstandungen geboten hätte, haben sich die Zweifel an
seiner Fahreignung jedenfalls soweit zerstreut, dass sich die Anordnung einer
verkehrspsychiatrischen Abklärung nicht (mehr) rechtfertigen lässt. Die
Beschwerde ist begründet.

4.
In Gutheissung der Beschwerde ist somit der angefochtene Entscheid aufzuheben
und von einer verkehrspsychiatrischen Untersuchung abzusehen. Dementsprechend
sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Aargau hat dem
Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene
Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
Die Kosten des kantonalen Verfahrens stehen fest und können vom Bundesgericht
daher ohne Rückweisung selber neu verlegt werden (Art. 67 BGG). Das
Strassenverkehrsamt hat in seiner Verfügung vom 11. Mai 2016 keine
Verfahrenskosten erhoben. Das Departement und das Verwaltungsgericht hätten die
Beschwerden gutheissen müssen, weshalb der Kanton Aargau deren Verfahrenskosten
von Fr. 1'203.80 (Departement) und Fr. 1'738.-- (Verwaltungsgericht) zu tragen
hat. Für die kantonalen Beschwerdeverfahren steht dem Beschwerdeführer eine
angemessene Entschädigung zu; mit Blick darauf wird im bundesgerichtlichen
Verfahren eine höhere Entschädigung zugesprochen, als das sonst der Fall wäre,
womit auf die Rückweisung der Akten an die Vorinstanz zur neuen Festsetzung der
Entschädigungsfolgen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens verzichtet werden
kann (Art. 68 Abs. 5 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.

1.1. Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts
des Kantons Aargau vom 1. Februar 2017 aufgehoben. Der Beschwerdeführer hat
sich keiner verkehrspsychiatrischen Begutachtung zu unterziehen.

1.2. Der Kanton Aargau trägt die vor dem Departement Volkswirtschaft und
Inneres und dem Verwaltungsgericht angefallenen Kosten von Fr. 1'203.80 und Fr.
1'738.--.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für die beiden kantonalen und das
bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren eine Parteientschädigung von Fr.
6'000.-- zu bezahlen.

4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrsamt des Kantons
Aargau, dem Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau, dem
Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1. Kammer, und dem Bundesamt für
Strassen schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 2. Juni 2017

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Merkli

Der Gerichtsschreiber: Störi

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