Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 1C.111/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1C_111/2017

Urteil vom 1. Mai 2017

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Störi.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Julian Burkhalter,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, 3011 Bern,
vertreten durch die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region
Bern-Mittelland, Staatsanwalt Klaus Feller, Hodlerstrasse 7, 3011 Bern,
Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern, Kramgasse 20, 3011 Bern.

Gegenstand
Einsichtsrecht,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 16. Januar 2017 des Obergerichts des Kantons
Bern, 1. Strafkammer.

Sachverhalt:

A. 
Der Vorsteher des Amts für Justizvollzug (AJV) des Kantons Bern führt eine
sogenannte "Watch-Liste", auf welcher sich sämtliche verwahrten Straftäter
sowie weitere "Risikotäter" befinden, die sich zum Zeitpunkt der
Deliktsbegehung, der Gerichtsverhandlung oder von Vorfällen im Vollzug mit
einer ausserordentlichen öffentlichen bzw. medialen Aufmerksamkeit konfrontiert
sahen. Aufgeführt werden die Dossiernummer, Name, begangene Delikte, bisherige
Risikoeinschätzung, Strafmass, Vollzugsdaten und bisherige Vollzugslockerungen.
Der Eintrag in der "Watch-Liste" hat zur Folge, dass Vollzugslockerungen nur
mit Zustimmung des Vorstehers des AJV gewährt werden dürfen. Die einfache
Excel-Tabelle sei ein persönliches Arbeitsmittel des Amtsvorstehers und diene
dem amtsinternen Risikomanagement. Zugriffsberechtigt für Mutationen ist einzig
der Amtsvorsteher.
Mit Verfügung vom 13. Oktober 2015 erteilte das Amt für Freiheitsentzug und
Betreuung (heute: AJV) A.________ Einsicht in die "Watch-Liste" in Bezug auf
seine persönlichen Daten, lehnte es indessen ab, ihm umfassende Einsicht in die
anonymisierte Watch-Liste zu gewähren.
A.________ focht diese Verfügung mit Verwaltungsbeschwerde an, wobei er auch
verlangte, die Rechtmässigkeit der "Watch-Liste" zu prüfen.
Am 7. September 2016 wies die Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern
(POM) die Beschwerde von A.________ gegen die Verfügung vom 13. Oktober 2015
ab.
Am 16. Januar 2017 wies das Obergericht des Kantons Bern die Beschwerde von
A.________ gegen die Direktionsverfügung ab, soweit es darauf eintrat
(Dispositiv-Ziffer 1). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung wies es ebenfalls ab (Dispositiv-Ziffer 2) und auferlegte ihm
die Verfahrenskosten (Dispositiv-Ziffer 3).

B. 
Mit Beschwerde vom 20. Februar 2017 beantragt A.________, Dispositiv-Ziffer 1
und 2 des obergerichtlichen Entscheids aufzuheben und wie folgt neu zu fassen:
"Es sei dem Beschwerdeführer Einsicht in die anonymisierte Watch-Liste zu
gewähren." (Dispositiv-Ziffer 1) bzw. "Es sei das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege gutzuheissen und dem Beschwerdeführer sei eine noch zu bestimmende
angemessene amtliche Parteientschädigung auszurichten." (Dispositiv-Ziffer 2).
Eventuell sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache an die
Vorinstanz zu neuem Entscheid zurückzuweisen. Für das bundesgerichtliche
Verfahren ersucht A.________ um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

C. 
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft verzichten auf Vernehmlassung. Die
POM beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
In seiner Replik hält A.________ an der Beschwerde fest.

Erwägungen:

1. 
Der Beschwerdeführer hat sein Akteneinsichtsgesuch ausserhalb bzw. unabhängig
von einem strafrechtlichen Verfahren gestellt. Der Entscheid darüber betrifft
damit eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit, gegen den die Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten grundsätzlich offensteht (Art. 82 lit. a
und Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG). Ein Ausschlussgrund nach Art. 83 BGG liegt
nicht vor, namentlich nicht eine Ausnahme nach lit. a, wonach u.a. Entscheide
auf dem Gebiet der inneren Sicherheit nicht beschwerdefähig sind. Damit sollen
Anordnungen mit vorwiegend politischem Charakter von der richterlichen
Überprüfung ausgenommen werden (BGE 137 I 371 E. 1.2 mit Hinweisen). Die
umstrittene "Watch-Liste" soll zwar verhindern, dass gemeingefährliche Täter
versehentlich freikommen und betrifft damit im weiteren Sinne die innere
Sicherheit. Die angefochtene Verweigerung von Akteneinsicht hat indessen keinen
politischen Charakter und ist einer richterlichen Überprüfung ohne
Einschränkung zugänglich; sie fällt damit nicht unter die restriktiv
anzuwendende Ausnahmeregelung. Mit der Ablehnung des Einsichtsgesuchs ist das
Verfahren abgeschlossen, es handelt sich um einen Endentscheid im Sinn von Art.
90 BGG. Als Adressat des angefochtenen Entscheids ist der Beschwerdeführer
befugt, ihn anzufechten (Art. 89 Abs. 1 BGG), und er rügt die Verletzung von
Bundesrecht, was zulässig ist (Art. 95 lit. a BGG). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, weshalb auf die
Beschwerde einzutreten ist.

2. 
In der Sache beantragt der Beschwerdeführer wie schon vor Obergericht einzig,
ihm Einsicht in die anonymisierte "Watch-Liste" zu gewähren. Zur Beurteilung
dieses Antrags braucht die Rechtmässigkeit der "Watch-Liste" nicht
abschliessend geprüft zu werden, dies liegt ausserhalb des Streitgegenstands.
Das Obergericht ist daher keineswegs in überspitzten Formalismus verfallen,
indem es sich auf die Beurteilung des gestellten Antrags beschränkte und die
"Watch-Liste" nicht auf ihre Rechtmässigkeit hin prüfte. Um dies zu erreichen,
hätte der Beschwerdeführer nicht (nur) Einsicht in die Liste beantragen müssen,
sondern deren Vernichtung.

3. 
Der Beschwerdeführer rügt, die Verweigerung der Einsicht in die Daten der
übrigen verzeichneten Gefangenen beruhe auf einer willkürlichen Anwendung des
Berner Informationsgesetzes (IG; BSG 107.1) und des Datenschutzgesetzes (KDSG;
BSG 152.04).

3.1. Nach Art. 14 IG informieren die Behörden über ihre Tätigkeit von Amtes
wegen oder auf Anfrage. Sie informieren über alle Tätigkeiten, die von
allgemeinem Interesse sind, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private
Interessen entgegenstehen (Art. 16 Abs. 1 IG). Nach Art. 27 Abs. 1 IG hat
jedermann das Recht auf Einsicht in amtliche Akten, soweit nicht überwiegende
öffentliche oder private Interessen entgegenstehen. Akteneinsicht in besonders
schützenswerte Personendaten erfordert die ausdrückliche Zustimmung der
betroffenen Person (Art. 28 IG). Überwiegende öffentliche Interessen liegen
u.a. vor, wenn die Gewährung der Akteneinsicht einen übermässigen Aufwand
verursachen würde (Art. 29 Abs. 1 lit. c IG).

3.2. Personendaten sind u.a. Angaben über bestimmte Personen; Datensammlungen
sind Bestände von Personendaten, die so aufgebaut sind, dass die Daten nach den
betroffenen Personen erschliessbar sind (Art. 2 Abs. 1 und 2 KDSG). Besonders
schützenswert sind u.a. Personendaten über Straftaten und die dafür verhängten
Strafen und Massnahmen (Art. 3 lit. d KDSG). Das KDSG gilt für jedes Bearbeiten
von Personendaten durch Behörden (Art. 4 Abs. 1); nicht anwendbar ist es u.a.,
wenn ein Mitarbeiter einer Behörde Personendaten zu ausschliesslich
persönlichem Gebrauch, namentlich als persönliches Arbeitsmittel, bearbeitet
oder auf hängige Verfahren der Zivil- und Strafrechtspflege (Art. 4 Abs. 2
KDSG). Personendaten werden privaten Personen bekanntgegeben, wenn die
verantwortliche Behörde zur Erfüllung ihrer Aufgabe gesetzlich dazu
verpflichtet oder ermächtigt ist oder die betroffene Person ausdrücklich
zugestimmt hat oder es in ihrem Interesse liegt (Art. 11 Abs. 1 KDSG).

3.3. Aus Art. 6 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV ergeben sich keine weitergehenden
Einsichts- und Informationsrechte.

4.

4.1. Die POM hat in der Begründung ihrer Verfügung vom 7. September 2016 (E. 2b
und c S. 5 f.), der sich das Obergericht im angefochtenen Entscheid
ausdrücklich anschliesst (E. 18 S. 5), ausgeführt, dass die Personendaten, in
die der Beschwerdeführer Einsicht verlange, besonders schützenswert seien. Ihre
Bekanntgabe sei daher nur zulässig, wenn sie gesetzlich vorgesehen sei, die
Zustimmung der betroffenen Personen vorliege oder sie in deren Interesse liege.
Bei überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen könne sie verweigert,
eingeschränkt oder mit Auflagen verbunden werden. Die "Watch-Liste" sei kein
Arbeitsmittel zu ausschliesslich persönlichem Gebrauch, das Datenschutzgesetz
sei darauf anwendbar.
Die Herausgabe der fremden Personendaten der "Watch-Liste" sei weder gesetzlich
vorgesehen noch liege sie im Interesse dieser Personen. Deren Zustimmung liege
nicht vor, und es wäre mit einem unverhältnismässigen Aufwand verbunden, sie
einzuholen. Eine Anonymisierung der Namen reiche nicht aus, da die Medien
teilweise über die aufgeführten Täter bzw. deren Taten und die ausgefällten
Sanktionen berichtet hätten. Deshalb könne aufgrund der aufgelisteten Daten auf
die entsprechenden Personen geschlossen werden, was insbesondere dem
Beschwerdeführer, der sich mit mehreren dieser Personen im Vollzug befinde,
möglich wäre. Die "Watch-Liste" enthalte entgegen der Auffassung des
Beschwerdeführers keineswegs nur Daten, die aufgrund der
Medienberichterstattung einer breiten Öffentlichkeit bereits bekannt seien,
sondern auch solche, bei denen das nicht der Fall sei und die schützenswert
seien, etwa die genauen Vollzugsdaten, bisher gewährte Vollzugslockerungen und
Risikoeinschätzungen. Soweit der Beschwerdeführer herausfinden wolle, ob der
"Watch-Liste" für ihn entscheidrelevante Bedeutung zukomme, z.B. ob den darauf
aufgeführten Personen Vollzugslockerungen grundsätzlich verweigert würden, sei
festzuhalten, dass die Liste für die materielle Beurteilung konkreter
Vollzugsfragen irrelevant sei, diese erfolge ausschliesslich anhand einer
individuellen Prüfung des Einzelfalls anhand der einschlägigen gesetzlichen
Bestimmungen. Der Grund für allfällige Lockerungsverweigerung werde zudem auf
der "Watch-Liste" gar nicht angeführt; sie gebe daher keinen Aufschluss
darüber, ob die darauf aufgeführten Personen - was nicht der Fall sei -
grundsätzlich von Lockerungen ausgeschlossen würden. Die Akteneinsicht sei
damit zu Recht verweigert worden.

4.2. Diese Beurteilung erscheint ohne Weiteres vertretbar und ist jedenfalls
nicht willkürlich.

4.2.1. Die "Watch-Liste" dient nach ihrer Zweckbestimmung in erster Linie der
amtsinternen Organisation. Sie soll sicherstellen, dass die dem Amtsvorsteher
vorbehaltenen Entscheide über Vollzugslockerungen für bestimmte Täter, die für
die öffentliche Sicherheit potentiell besonders risikobehaftet sind, dem
Amtsvorsteher zur Zustimmung unterbreitet werden und dieser gleichzeitig einen
Überblick über die weiteren vergleichbaren Fälle als Grundlage für seine
Entscheidung erhält. Aufgelistet werden damit potentiell gefährliche Täter, bei
denen Vollzugslockerungen besonders sorgfältig geprüft werden müssen und
entsprechend den damit verbundenen Risiken nur zurückhaltend gewährt werden
können. Der Beschwerdeführer verwechselt Ursache und Wirkung, wenn er
behauptet, die Aufnahme in die "Watch-Liste" bewirke den Ausschluss von
Vollzugslockerungen.
Irgendwelche Hinweise für einen Missbrauch der Liste sind weder dargetan noch
ersichtlich. Insbesondere bestehen keine Anzeichen dafür, dass die auf der
Liste aufgeführten Personen von Vollzugslockerungen von vornherein
ausgeschlossen wären und entsprechende Gesuche ohne pflichtgemässe Prüfung
anhand der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen generell abgelehnt würden.

4.2.2. Die auf der "Watch-Liste" festgehaltenen Personendaten, in die der
Beschwerdeführer Einsicht verlangt, sind offenkundig sensibel und besonders
schützenswert. Das Obergericht hat kein Bundesrecht verletzt, indem es die
öffentlichen Interessen am Schutz dieser Daten stärker gewichtete als den
Informationsanspruch des Beschwerdeführers und es auch ablehnte, die dort
verzeichneten Personen um die Freigabe ihrer Daten zu ersuchen. Die Gewährung
von Einsicht in die Liste würde dem Beschwerdeführer keine Klarheit darüber
bringen, ob die Aufnahme in die "Watch-Liste" automatisch den Ausschluss von
Vollzugslockerungen bedeutet, wie er argwöhnt, wofür es allerdings nach dem
Gesagten keine Anzeichen gibt. Im Übrigen ist es auch unter dem Gesichtspunkt
von Art. 16 Abs. 1 IG nicht zu beanstanden, dass die Verantwortlichen des AJV
die Öffentlichkeit nicht von sich aus über die Erstellung der "Watch-Liste"
informierten; die Rüge, die Bestimmung sei willkürlich angewandt worden, ist
unbegründet.

5. 
Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet. Sie ist abzuweisen, soweit
darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der
Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat zwar ein Gesuch
um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches indessen
abzuweisen ist, da die Beschwerde aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).
Aus diesem Grund hat hat auch das Obergericht kein Bundesrecht verletzt, indem
es dem Beschwerdeführer für das obergerichtliche Verfahren die unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung verweigerte.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Generalstaatsanwaltschaft des
Kantons Bern, der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern und dem
Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 1. Mai 2017

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Merkli

Der Gerichtsschreiber: Störi

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