Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.72/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_72/2017

Urteil vom 3. April 2017

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Eusebio, Chaix,
Gerichtsschreiber Mattle.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Oliver Lücke,

gegen

Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, 3011 Bern.

Gegenstand
Strafverfahren; amtliche Verteidigung,

Beschwerde gegen die Verfügung vom 26. Januar 2017 des Obergerichts des Kantons
Bern, 2. Strafkammer.

Sachverhalt:

A.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern, Region Bern-Mittelland führte eine
Strafuntersuchung gegen A.________ wegen Widerhandlungen gegen das
Betäubungsmittelgesetz. Mit Verfügung vom 28. April 2016 gewährte sie ihm
rückwirkend ab dem 7. April 2016 die amtliche Verteidigung.
Mit Urteil des Regionalgerichts Bern-Mittelland vom 15. September 2016 wurde
A.________ wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer
bedingt ausgesprochenen Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je Fr. 20.-- und einer
Busse von Fr. 400.-- (Ersatzfreiheitsstrafe 20 Tage) verurteilt.
Gegen dieses Urteil erhob A.________ Berufung beim Obergericht des Kantons
Bern. Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern verzichtete auf Teilnahme
am oberinstanzlichen Verfahren. Mit Verfügung vom 26. Januar 2017 entschied das
Obergericht unter anderem, A.________ die amtliche Verteidigung mit Wirkung ab
Eröffnung der Verfügung zu entziehen (Dispositiv-Ziffer 1).

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 23. Februar 2017 beantragt
A.________, Dispositiv-Ziffer 1 der Verfügung des Obergerichts vom 26. Januar
2017 sei aufzuheben und die amtliche Verteidigung nicht zu widerrufen.
Eventualiter sei die amtliche Verteidigung für das kantonale Berufungsverfahren
ab dem 26. Januar 2017 zu gewähren und der ihn vertretende Rechtsanwalt erneut
als amtlicher Verteidiger zuzuordnen. Subeventualiter sei die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Obergericht und die Generalstaatsanwaltschaft verzichteten auf auf eine
Stellungnahme.

Erwägungen:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, mit dem das
Obergericht die amtliche Verteidigung des Beschuldigten widerrief; dagegen ist
die Beschwerde in Strafsachen grundsätzlich zulässig (Art. 78 Abs. 1, Art. 80
BGG). Er schliesst das Verfahren indessen nicht ab; es handelt sich mithin um
einen Zwischenentscheid, gegen den die Beschwerde nach Art. 93 Abs. 1 lit. a
BGG zulässig ist, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil
rechtlicher Natur (BGE 133 IV 139 E. 4 S. 140) bewirken könnte. Das ist bei der
Verweigerung der amtlichen Verteidigung der Fall (BGE 133 IV 335 E. 4 S. 338).
Der Beschwerdeführer, der im Strafverfahren beschuldigt wird und dem die
amtliche Verteidigung entzogen wurde, ist zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1
BGG). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die
Beschwerde in Strafsachen einzutreten.

2. 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 132 StPO. Er ist der
Auffassung, dass die amtliche Verteidigung nicht hätte widerrufen werden
dürfen, da es sich nicht um einen Bagatellfall handle, die besonderen
rechtlichen Schwierigkeiten des Falls eine Verteidigung zur Wahrung seiner
Interessen erforderten und er mittellos sei.

2.1. Die Verteidigung ist in den Art. 128 ff. StPO geregelt. In besonders
schwer wiegenden Straffällen ist sie unter bestimmten Voraussetzungen - etwa
wenn die Untersuchungshaft mehr als 10 Tage gedauert hat oder eine
Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr in Aussicht steht (Art. 130 lit. a und
b StPO) - notwendig, d.h. der beschuldigten Person muss auf jeden Fall ein
Verteidiger zur Seite gestellt werden. Bestimmt sie keinen Wahlverteidiger,
muss ihr diesfalls zwingend ein amtlicher Verteidiger bestellt werden (Art. 132
Abs. 1 lit. a StPO). In Bagatellfällen besteht dagegen grundsätzlich kein
Anspruch auf amtliche Verteidigung (Art. 132 Abs. 2 StPO). Steht für den Fall
einer Verurteilung eine Freiheitsstrafe von über 4 Monaten, eine Geldstrafe von
über 120 Tagessätzen oder gemeinnützige Arbeit von mehr als 480 Stunden in
Aussicht, liegt jedenfalls kein Bagatellfall mehr vor (Art. 132 Abs. 3 StPO).
In den dazwischen liegenden Fällen relativer Schwere ist eine amtliche
Verteidigung anzuordnen, wenn der Beschuldigte nicht über die erforderlichen
Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung seiner Interessen geboten
erscheint (Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO). Letzteres ist dann der Fall, wenn der
Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Probleme aufwirft, denen
der Beschuldigte allein nicht gewachsen ist (Art. 132 Abs. 2 StPO). Fällt der
Grund für die amtliche Verteidigung dahin, so widerruft die Verfahrensleitung
das Mandat (Art. 134 Abs. 1 StPO).

2.2. Mit der Regelung der amtlichen Verteidigung in Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO
wird die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 3 BV und
Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK für den Bereich des Strafprozessrechts umgesetzt (BGE
139 IV 113 E. 4.3 S. 119). Diese Rechtsprechung unterscheidet nach der Schwere
der Strafdrohung drei Fallgruppen. Falls das in Frage stehende Verfahren
besonders stark in die Rechtsposition des Betroffenen eingreift, ist die
Bestellung eines amtlichen Rechtsbeistands grundsätzlich geboten. Falls kein
besonders schwerer Eingriff in die Rechte des Gesuchstellers droht (sog.
relativ schwerer Fall), müssen besondere tatsächliche oder rechtliche
Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller, auf sich allein gestellt,
nicht gewachsen wäre. Als besondere Schwierigkeiten, die eine Verbeiständung
rechtfertigen können, fallen auch Gründe in der Person des Gesuchstellers in
Betracht, insbesondere dessen Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden. Bei
offensichtlichen Bagatelldelikten, bei denen nur eine Busse oder eine
geringfügige Freiheitsstrafe in Frage kommt, verneint die Bundesgerichtspraxis
einen verfassungsmässigen Anspruch auf einen amtlichen Rechtsbeistand (zum
Ganzen: BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232 f. mit Hinweisen).

2.3. Aus dem Wortlaut von Art. 132 Abs. 3 StPO ("jedenfalls dann nicht") folgt,
dass nicht automatisch von einem Bagatellfall auszugehen ist, wenn die im
Gesetz genannten Schwellenwerte nicht erreicht sind. Weiter ist zu
berücksichtigen, dass die Formulierung von Art. 132 Abs. 2 StPO durch die
Verwendung des Worts "namentlich" zum Ausdruck bringt, dass nicht
ausgeschlossen ist, neben den beiden genannten Kriterien (kein Bagatellfall;
tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten, denen die beschuldigte Person
allein nicht gewachsen wäre) weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Mithin
ist eine Beurteilung der konkreten Umstände des Einzelfalls notwendig, die sich
einer strengen Schematisierung entzieht. Immerhin lässt sich festhalten, dass
je schwerwiegender der Eingriff in die Interessen der betroffenen Person ist,
desto geringer die Anforderungen an die erwähnten tatsächlichen und rechtlichen
Schwierigkeiten sein müssen, und umgekehrt (zum Ganzen: Urteile 1B_167/2016 vom
1. Juli 2016 E. 3.5 sowie 1B_23/2016 vom 8. Februar 2016 E. 2.5; je mit
Hinweisen).

2.4. Die Vorinstanz ging in der angefochtenen Verfügung davon aus, dass es sich
um einen Bagatellfall handle. Zudem sei der Sachverhalt einfach, die
Tatbestände seien überschaubar und würden in juristischer Hinsicht keine
besonderen Herausforderungen bieten, die ohne fachlichen Beistand nicht zu
bewältigen wären.

2.4.1. Würde die im Urteil des Regionalgerichts ausgesprochene Busse in eine
Ersatzfreiheitsstrafe von 20 Tagen Haft umgewandelt und an die (bedingt
ausgesprochene) Geldstrafe von 70 Tagessätzen angerechnet, lägen die daraus
resultierenden 90 Tage bzw. Tagessätze immer noch deutlich unter der in Art.
132 Abs. 3 StPO genannten Schwelle von 120 Tagessätzen, über welcher jedenfalls
kein Bagatellfall mehr vorliegt. Da die Generalstaatsanwaltschaft kein
Rechtsmittel ergriffen hat, darf die Vorinstanz die erstinstanzliche Strafe
aufgrund des Verschlechterungsverbots nicht erhöhen (vgl. Art. 391 Abs. 2
StPO). Zu prüfen bleibt, ob eine amtliche Verteidigung für das weitere
Verfahren - wie der Beschwerdeführer vorbringt - unter den gegebenen Umständen
trotzdem geboten ist.

2.4.2. Die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Delikte sind in tatsächlicher
Hinsicht einfach gelagert. Ihm wird vorgeworfen, B.________ mit seinem Auto
mehrmals an verschiedene Orte gefahren zu haben, an welchen dieser Drogen
veräusserte. Der Beschwerdeführer habe gewusst, dass er durch diese Fahrdienste
B.________ möglicherweise bei der Veräusserung bzw. dem in Verkehr bringen von
illegalen Betäubungsmitteln (insbesondere Heroin oder Kokain) behilflich sei.
Da der Beschwerdeführer jeweils pro Fahrt mit Fr. 100.-- entlöhnt worden sei,
habe er dies billigend in Kauf genommen. Bei den Fahrten habe B.________ das
Heroin entweder bei sich gehabt oder es in U.________ geholt und sich in der
Folge damit vom Beschwerdeführer an die Treffen fahren lassen. Der
Beschwerdeführer ist weitgehend geständig. Bestritten ist lediglich, was er in
Bezug auf den Drogenverkauf von B.________ gewusst bzw. dass er (eventual-)
vorsätzlich gehandelt hat. In rechtlicher Hinsicht steht die Frage im Raum, ob
der Beschwerdeführer den Tatbestand von Art. 19 Abs. 1 lit. b des
Betäubungsmittelgesetzes (BetmG; SR 812.121) selbstständig erfüllt hat oder
Gehilfenschaft zu den Tathandlungen von B.________ gemäss Art. 19 Abs. 1 lit. c
BetmG vorliegt.
Die sich stellenden Fragen erweisen sich weder tatsächlich noch rechtlich als
so schwierig, dass es mit Blick auf die relativ geringe zu erwartende Strafe
geboten wäre, einen amtlichen Verteidiger zu mandatieren. Gründe in der Person
des Beschwerdeführers, die eine amtliche Verteidigung gebieten würden, sind
auch nicht ersichtlich, zumal sprachliche Barrieren mit Hilfe eines Übersetzers
überwunden werden können.

2.4.3. Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, dass eine Verurteilung
ausländerrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte, da aufgrund von Art.
121 Abs. 3 BV "Drogenhandel" automatisch zu einem Widerruf der
ausländerrechtlichen Bewilligung führen könnte, ist festzuhalten, dass Art. 121
Abs. 3 BV nicht direkt anwendbar ist und eine rückwirkende Anwendung von Art.
66a Abs. 1 StGB für vor dem 1. Oktober 2016 begangene Taten nicht in Frage
kommt (vgl. Urteil 2C_822/2016 vom 31. Januar 2017 E. 3.3.1 mit Hinweisen).
Inwiefern ihm sonst ausländerrechtliche Konsequenzen drohen könnten, legt der
Beschwerdeführer nicht dar.

2.5. Die Vorinstanz liess im angefochtenen Entscheid offen, ob der
Beschwerdeführer im Sinne von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO bedürftig sei. Auf
die entsprechenden Ausführungen des Beschwerdeführers ist nicht weiter
einzugehen, da die Vorinstanz die amtliche Verteidigung nach dem Ausgeführten
ohnehin entziehen durfte.

3.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der
Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (vgl. Art. 66 Abs. 1 BGG). Er
ersucht indes um unentgeltliche Rechtspflege inklusive Verbeiständung. Dem
Gesuch kann entsprochen werden, zumal der Beschwerdeführer im
bundesgerichtlichen Verfahren glaubhaft dargelegt hat, dass er im Sinne von
Art. 64 Abs. 1 BGG bedürftig ist und auch die weiteren Voraussetzungen von Art.
64 Abs. 1 und 2 BGG erfüllt sind.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

2.2. Rechtsanwalt Oliver Lücke wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung
von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Generalstaatsanwaltschaft des
Kantons Bern und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 3. April 2017

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Merkli

Der Gerichtsschreiber: Mattle

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