Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.58/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_58/2017

Urteil vom 5. April 2017

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Chaix,
Gerichtsschreiberin Pedretti.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Rainer Riek,

gegen

Bruno Meyer, c/o Bezirksgericht Baden, Mellingerstrasse 2a, 5400 Baden,
Beschwerdegegner,

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau.

Gegenstand
Strafverfahren; Ausstand,

Beschwerde gegen das Urteil vom 3. Januar 2017 des Obergerichts des Kantons
Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A. 
A.________ wurde mit Strafbefehl vom 19. Mai 2015 wegen Tätlichkeiten,
Sachbeschädigung und -entziehung, Drohung und Beschimpfung zu einer bedingt
aufgeschobenen Geldstrafe und einer Busse verurteilt. Dagegen erhob er
Einsprache, woraufhin die Staatsanwaltschaft Baden die Strafsache dem
Bezirksgericht Baden zur Durchführung des Hauptverfahrens überwies.
Nach bewilligtem Akteneinsichtsgesuch stellte das Präsidium des Strafgerichts
die Akten im Original dem Verteidiger von A.________ zu mit der Aufforderung,
sie nach Gebrauch zurückzusenden. Dieser informierte den
Bezirksgerichtspräsidenten am 24. Februar 2016, es sei ihm nicht möglich, die
Akten umgehend zu retournieren, da sie sich bei seinem dannzumal ferienhalber
abwesenden Mandanten befunden hätten. Mit Schreiben vom 2. März 2016 teilte der
Bezirksgerichtspräsident dem Verteidiger mit, er habe mit grösster Empörung die
Weiterleitung der Verfahrensakten an A.________ zur Kenntnis genommen. Solches
sei klar untersagt, was sich schon aus dem allgemeinen Grundsatz der
Vertraulichkeit der Akten ergäbe. Es werde um Rücksendung innert 10 Tagen
ersucht; eine Anzeige an die Anwaltskommission bleibe vorbehalten. Zukünftig
werde er keine Akten mehr zugesandt erhalten und müsse das Einsichtsrecht am
Gericht wahrnehmen.
Die Akten wurden sodann retourniert. Die von A.________ am 18. März 2016
fristgerecht gestellten Beweisanträge wies der Bezirksgerichtspräsident mit
Verfügung vom 29. Juli 2016 ab. Am 27. Oktober 2016 lud dieser die Parteien zur
Hauptverhandlung vor und gab die Besetzung des Gerichts bekannt.

B. 
Mit Eingabe vom 3. November 2016 verlangte A.________ den Ausstand des
Bezirksgerichtspräsidenten Bruno Meyer. Dieser nahm dazu Stellung und
übermittelte das Begehren an die Beschwerdekammer in Strafsachen des
Obergerichts des Kantons Aargau. Nachdem diese A.________ Gelegenheit zur
Replik eingeräumt hatte, trat sie mit Entscheid vom 3. Januar 2017 auf das
Ausstandsgesuch nicht ein.

C. 
Mit als Beschwerde bezeichneter Eingabe vom 15. Februar 2017 gelangt A.________
an das Bundesgericht und beantragt neben der Aufhebung des obergerichtlichen
Entscheids, dass Bezirksgerichtspräsident Bruno Meyer von der Mitwirkung im
Strafverfahren ST.2015.227 auszuschliessen, eventualiter in den Ausstand zu
versetzen sei. Subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht ersucht er um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Bruno Meyer (Beschwerdegegner) hat sich vernehmen lassen, ohne einen förmlichen
Antrag zu stellen. Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft verzichten
auf eine Stellungnahme.
Mit Verfügung vom 16. Februar 2017 erkannte das präsidierende Mitglied der I.
öffentlich-rechtlichen Abteilung der Beschwerde keine aufschiebende Wirkung zu
und wies das Gesuch um Absetzung der auf den 23. Februar 2017 angesetzten
Hauptverhandlung in dem vor dem Bezirksgericht hängigen Verfahren ST.2015.227
bzw. um gesamthafte Sistierung dieses Verfahrens ab.

Erwägungen:

1.

1.1. Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen selbstständig
eröffneten Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren in einer Strafsache
(Art. 78 Abs. 1 und Art. 92 BGG). Die Beschwerdekammer in Strafsachen des
Obergerichts hat als letzte und einzige kantonale Instanz entschieden (Art. 80
BGG i.V.m. Art. 59 Abs. 1 StPO). Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1
lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Auf das Rechtsmittel ist
grundsätzlich einzutreten.

1.2. Mit der Beschwerde an das Bundesgericht kann insbesondere die Verletzung
von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht wendet
das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft die bei ihm
angefochtenen Entscheide aber grundsätzlich nur auf Rechtsverletzungen hin, die
vom Beschwerdeführer geltend gemacht und begründet werden (vgl. Art. 42 Abs. 2
BGG).
Soweit dieser am Anfang seiner Rechtsschrift Ausführungen zum Sachverhalt macht
und diesen ergänzt, zeigt er nicht in rechtsgenüglicher Weise auf, inwiefern
die Feststellungen der Vorinstanz offensichtlich unrichtig oder unvollständig
sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen und
inwiefern deren Berichtigung für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein
kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Ebenso wenig vermögen die vom Beschwerdeführer nur
beiläufig erhobenen Rügen der Verletzung des rechtlichen Gehörs und des
Grundsatzes von Treu und Glauben den Begründungsanforderungen zu genügen. Auf
die Beschwerde ist insoweit nicht einzutreten.

1.3. Streitgegenstand ist einzig, ob das Obergericht zu Recht nicht auf das
Ausstandsgesuch eingetreten ist. Dies stellt keine Tat-, sondern eine von Amtes
wegen zu prüfende Rechtsfrage dar. Soweit der Beschwerdeführer in diesem
Zusammenhang Sachverhaltsrügen erhebt, sind diese unerheblich.

2.

2.1. In der Hauptbegründung des angefochtenen Entscheids ist das Obergericht
auf das Ausstandsgesuch nicht eingetreten, weil dieses verspätet gestellt
worden sei. Der Beschwerdeführer habe insbesondere auf das Schreiben des
Bezirksgerichtspräsidenten vom 2. März 2016, in welchem dieser seine Empörung
zum Ausdruck gebracht habe, nicht reagiert und auch die weiteren
verfahrensleitenden Anordnungen ohne Protest hingenommen. Der anwaltlich
vertretene Beschwerdeführer habe davon ausgehen müssen, dass der Präsident die
Anklage auch materiell und angesichts der zu erwartenden Sanktion als
Einzelrichter beurteilen werde. Indem er sich auf den Prozess eingelassen und
das Ablehnungsgesuch erst nach der Vorladung zur Hauptverhandlung gestellt
habe, sei sein Anspruch, den Ausstand zu verlangen, verwirkt.

2.2. Der Beschwerdeführer bringt dagegen vor, er habe aufgrund der vom
Präsidenten vorgenommenen verfahrensleitenden Anordnungen nicht damit rechnen
müssen, dass dieser zugleich den Spruchkörper darstelle. Es sei durchaus
üblich, dass die Gerichtsbesetzung erst nach Durchführung des Beweisverfahrens
festgelegt werde. Dies sei vorliegend mit der formellen Mitteilung vom 27.
Oktober 2016 geschehen, die es ihm erlaubt habe, Ausstandsgründe geltend zu
machen. Wenn der Argumentation der Vorinstanz gefolgt würde, könnte eine solche
unterbleiben, zumal der Beschuldigte bereits aus dem Verfahrensgang herauslesen
müsste, wer die Anklage materiell behandeln werde. Da das Bezirksgericht Baden
insgesamt über sieben Präsidentinnen und Präsidenten verfüge, sei die
Gerichtsbesetzung mit Bruno Meyer als urteilendem Richter für ihn nicht
voraussehbar gewesen. Als diese aber mit der Vorladung bekannt gegeben worden
sei, habe er umgehend ein Ausstandsbegehren gestellt, weshalb dieses
rechtzeitig erfolgt sei.

2.3. Will eine Person den Ausstand einer in einer Strafbehörde tätigen Person
verlangen, so hat sie der Verfahrensleitung ohne Verzug ein entsprechendes
Gesuch zu stellen, sobald sie vom Ausstandsgrund Kenntnis hat (Art. 58 Abs. 1
StPO). Nach der Rechtsprechung muss der Ablehnungsgrund unverzüglich nach
dessen Kenntnisnahme geltend gemacht werden; andernfalls ist der Anspruch
verwirkt (BGE 140 I 271 E. 8.4.3 S. 275 mit Hinweisen). Der Ausstand ist mithin
so früh wie möglich, d.h. in den nächsten Tagen nach Kenntnisnahme, zu
verlangen. Ein Ablehnungsgesuch, das beispielsweise erst nach zwei Wochen
gestellt wird, ist klarerweise verspätet (Urteile 6B_973/2016 vom 7. März 2017
E. 3.3.2; 1B_252/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 2.3; je mit Hinweisen).

2.4. Es trifft zwar zu, dass die in Art. 331 Abs. 1 StPO vorgesehene
Mitteilung, in welcher Zusammensetzung das Gericht tagen wird, den Parteien
ermöglichen soll, rechtzeitig Befangenheitsanträge zu stellen (Urteile 1B_377/
2016 vom 25. November 2016 E. 2.4; 6B_526/2016 vom 13. Oktober 2016 E. 3.2). Im
hier zu beurteilenden Fall wurde den Beteiligten in der Vorladung vom 27.
Oktober 2016 eröffnet, dass Bezirksgerichtspräsident Bruno Meyer die
Hauptverhandlung führen werde. Dieser war unbestrittenermassen aber bereits
zuvor mit der Instruktion des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens betraut und
hatte die verfahrensleitenden Anordnungen getroffen. Wenn der Beschwerdeführer
daher insbesondere aufgrund des Schreibens vom 2. März 2016 der Auffassung war,
das gegen ihn gerichtete Strafverfahren werde nicht von einem unparteiischen,
unvoreingenommenen und unbefangenen Richter geführt, hätte er umgehend den
Ausstand des Beschwerdegegners verlangen müssen. Ein Zuwarten während mehrerer
Monate erweist sich als unzulässig. Im Übrigen ist dem Beschwerdeführer zwar
insoweit zuzustimmen, als eine Änderung der Zusammensetzung des Spruchkörpers
im Verlauf des Verfahrens grundsätzlich nicht ausgeschlossen ist. Für eine
Auswechslung des Präsidenten als verfahrensleitendes Gerichtsmitglied, der an
der Hauptverhandlung nicht mitwirkt, und eine Übertragung der präsidialen
Funktionen auf einen anderen Richter müssen nach der Rechtsprechung jedoch
hinreichende sachliche Gründe bestehen (Urteil 1B_311/2016 vom 10. Oktober 2016
E. 2.3). Da einer solchen Veränderung der Besetzung insofern Ausnahmecharakter
zukommt, durfte sie den Beschwerdeführer nicht davon abhalten, einen
allfälligen Ablehnungsgrund unverzüglich geltend zu machen. Dieser musste
entgegen seiner Auffassung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge vielmehr damit
rechnen, dass der Beschwerdegegner an der Hauptverhandlung mitwirken wird.
Es hält daher vor Bundesrecht stand, wenn das Obergericht den Anspruch des
Beschwerdeführers, gegen Bezirksgerichtspräsident Bruno Meyer einen
Ausstandsgrund geltend zu machen, als verwirkt ansah. Überdies bestreitet der
Beschwerdeführer die vorinstanzliche Erwägung nicht, wonach keine
offensichtlichen Befangenheitsgründe vorlägen. Nach dem Gesagten erübrigt es
sich, auf das Vorbringen einzugehen, wonach beim Beschwerdegegner der Anschein
der Voreingenommenheit bestehe. Dasselbe gilt hinsichtlich der in jenem
Zusammenhang erhobenen Sachverhaltsrügen.

3. 
Der Beschwerdeführer ersuchte sowohl im obergerichtlichen als auch im
vorliegenden Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung (Art.
29 Abs. 3 BV). Wie aus den vorangegangenen Erwägungen erhellt, erweist sich das
Ausstandsbegehren, das erst mehrere Monate nach Kenntnisnahme eines allfälligen
Ablehnungsgrundes eingereicht worden ist, klarerweise als verspätet. Eine nicht
bedürftige Person hätte bei dieser Ausgangslage kein Ausstandsgesuch gestellt.
Da die Vorinstanz das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung daher als zum
Vornherein aussichtslos erachten durfte, ist ihr Kostenspruch im Ergebnis nicht
zu beanstanden. Aus dem nämlichen Grund ist das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren abzuweisen
(Art. 64 BGG). Der Beschwerdeführer trägt demnach die Gerichtskosten (Art. 66
Abs. 1 BGG). Dem nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdegegner steht
praxisgemäss kein Parteikostenersatz zu.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Oberstaatsanwaltschaft und dem Obergericht
des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 5. April 2017

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Merkli

Die Gerichtsschreiberin: Pedretti

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