Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.56/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_56/2017

Urteil vom 8. März 2017

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Härri.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Föhn,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat,
Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8036 Zürich.

Gegenstand
Untersuchungshaft, Verbot der doppelten Strafverfolgung ("ne bis in idem");

Beschwerde gegen den Beschluss vom 6. Februar 2017 des Obergerichts des Kantons
Zürich, III. Strafkammer.

Sachverhalt:

A. 
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) führt
eine Strafuntersuchung gegen den rumänischen Staatsangehörigen A.________ wegen
des Verdachts des Diebstahls, der Sachbeschädigung und des Hausfriedensbruchs.
Sie wirft ihm vor, er sei in der Nacht vom 24. auf den 25. März 2016 zusammen
mit einem Mittäter in Zürich in ein Musikgeschäft eingebrochen, habe Saxophone
im Wert von 51'610.-- gestohlen und einen Sachschaden von Fr. 42'230.--
verursacht.
Am 25. März 2016 hielt die Polizei in Frankreich A.________ an und stellte die
Saxophone sicher. In der Folge wurde er inhaftiert.
Die Schweiz ersuchte Frankreich um die Auslieferung von A.________. Am 11.
Oktober 2016 bewilligte der Premier ministre die Auslieferung. Am 9. Januar
2017 wurde A.________ an die Schweiz überstellt.

B. 
Mit Verfügung vom 11. Januar 2017 versetzte das Zwangsmassnahmengericht des
Bezirks Zürich A.________ in Untersuchungshaft. Es bejahte den dringenden
Tatverdacht und Fluchtgefahr. Die Haft erachtete es als verhältnismässig.
Die von A.________ hiergegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des
Kantons Zürich (III. Strafkammer) am 6. Februar 2017 ab.

C. 
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, er sei unverzüglich
aus der Haft zu entlassen; die Strafuntersuchung sei einzustellen.

D. 
Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
Die Staatsanwaltschaft hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde
abzuweisen.
A.________ hat eine Replik eingereicht.

Erwägungen:

1. 
Die Eintretensvoraussetzungen sind erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen
Anlass.

2. 
Der Beschwerdeführer bestreitet weder den dringenden Tatverdacht noch die
Fluchtgefahr. Er macht geltend, er sei wegen der ihm vorgeworfenen Tat in
Frankreich rechtskräftig verurteilt worden. Der Grundsatz "ne bis in idem"
stehe damit der erneuten Strafverfolgung in der Schweiz entgegen. Es bestehe
insoweit ein Verfahrenshindernis, weshalb er unverzüglich aus der Haft zu
entlassen sei.

2.1. Art. 11 StPO verbietet die doppelte Strafverfolgung; ebenso Art. 4 des
Protokolls Nr. 7 zur EMRK (SR 0.101.07) und Art. 14 Abs. 7 UNO-Pakt II (SR
0.103.2). Diese Bestimmungen verankern das Verbot "ne bis in idem" jedoch
unstreitig lediglich für den innerstaatlichen Bereich und sind deshalb im
vorliegenden Zusammenhang, wo sich der Beschwerdeführer auf eine rechtskräftige
Verurteilung im Ausland beruft, nicht anwendbar.
Anders verhält es sich bei Art. 54-58 des Übereinkommens vom 19. Juni 1990 zur
Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 (im Folgenden:
Schengener Durchführungsübereinkommen, SDÜ; ABl. der EU L 239 vom 22. September
2000 S. 19-62). Diese Bestimmungen sind gemäss Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Anhang A
Teil 1 des Abkommens vom 26. Oktober 2004 zwischen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft, der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft
über die Assoziierung dieses Staates bei der Umsetzung, Anwendung und
Entwicklung des Schengen-Besitzstandes (SR 0.362.31; im Folgenden:
Schengen-Assoziierungsabkommen, SAA) in der Schweiz anwendbar. Art. 54-58 SDÜ
regeln das Verbot der Doppelbestrafung. Dieses gilt auch im transnationalen
Verhältnis (Urteil 1B_148/2012 vom 2. April 2012 E. 4; WOLFGANG WOHLERS, in:
Donatsch und andere [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung,
2. Aufl. 2014, N. 6 zu Art. 11 StPO; NIKLAUS SCHMID, Schweizerische
Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2. Aufl. 2013, N. 1 zu Art. 11 StPO).
Gemäss Art. 54 SDÜ darf, wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig
abgeurteilt worden ist, durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat
nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die
Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem
Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. Gemäss Art. 55 Abs.
1 lit. a SDÜ kann eine Vertragspartei bei der Ratifikation, der Annahme oder
der Genehmigung dieses Übereinkommens erklären, dass sie (...) nicht durch
Artikel 54 gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde
lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde; im letzteren
Fall gilt diese Ausnahme jedoch nicht, wenn diese Tat teilweise im
Hoheitsgebiet der Vertragspartei begangen wurde, in dem das Urteil ergangen
ist. Die Schweiz hat eine entsprechende Erklärung zu Art. 55 Abs. 1 lit. a SDÜ
abgegeben (vgl. die Erklärungen und Mitteilungen der Schweiz im Anhang des
SAA).
Das Verbot der doppelten Strafverfolgung stellt ein Verfahrenshindernis dar,
das in jedem Verfahrensstadium von Amtes wegen zu berücksichtigen ist (SCHMID,
a.a.O., N. 3 zu Art. 11 StPO; BRIGITTE TAG, in: Schweizerische
Strafprozessordnung, Basler Kommentar, 2. Aufl. 2014, N. 6 zu Art. 11 StPO).

2.2. Der Beschwerdeführer bringt vor, am 29. März 2016 habe ihn das Tribunal
correctionnel in Nancy wegen Hehlerei ("recel") im Zusammenhang mit den
gestohlenen Saxophonen zu 12 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Dies habe das
Berufungsgericht in Nancy mit Urteil vom 19. Juli 2016 bestätigt. Er verweist
dazu auf eine von ihm ins Recht gelegte "Fiche pénale - volet 5" (act. 3/2) und
einen Entscheid der französischen "Juge de l'application des peines" vom 14.
Oktober 2016 (act. 3/3).
Die Staatsanwaltschaft hat die Urteile der Gerichte in Nancy von den
französischen Behörden auf dem Rechtshilfeweg angefordert. Die Urteile waren
zum Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids noch nicht eingetroffen. Die
Vorinstanz kommt zum Schluss, die Fortsetzung der Strafverfolgung und die
Anordnung von Zwangsmassnahmen seien zumindest bis zur Kenntnisnahme des
Inhalts der Urteile der französischen Gerichte nicht zu beanstanden.
Der Anwalt des Beschwerdeführers hat das Berufungsgericht in Nancy um Zusendung
des Urteils vom 19. Juli 2016 gebeten und dieses dem Bundesgericht mit der
Replik in Kopie eingereicht. Wie sich dem Urteil (S. 5 Ziff. II.) entnehmen
lässt, standen dagegen Rechtsmittel ("voies de recours") zur Verfügung. Die
Staatsanwaltschaft hat über den Beschwerdeführer unter anderem einen
französischen Vorstrafenbericht eingeholt. Wie sich aus dem Bericht des
französischen Justizministeriums (Casier judiciaire national) vom 1. Februar
2017 ergibt, ist der Beschwerdeführer im französischen Strafregister nicht
verzeichnet ("néant"; Untersuchungsakten act. 29/5). Dies legt die Annahme
nahe, dass das Urteil des Berufungsgerichts von Nancy nicht in Rechtskraft
erwachsen ist. Zumindest eine rechtskräftige Verurteilung müsste im
französischen Strafregister enthalten sein.
Das Verbot der Doppelbestrafung gemäss Art. 54 SDÜ kommt nur bei einer
rechtskräftigen Aburteilung zur Anwendung (TAG, a.a.O., N. 6 und 8 zu Art. 11
StPO). Nach dem Gesagten ist die Rechtskraft des Urteils des Berufungsgerichts
in Nancy zweifelhaft. Die Staatsanwaltschaft wird beförderlich zu klären haben,
wie es sich damit verhält.

2.3. Ist eine Person im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei wegen einer Straftat
angeschuldigt und haben die zuständigen Behörden dieser Vertragspartei Grund zu
der Annahme, dass die Anschuldigung dieselbe Tat betrifft, derentwegen der
Betreffende im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei bereits rechtskräftig
verurteilt wurde, so ersuchen sie gemäss Art. 57 SDÜ, sofern sie es für
erforderlich halten, die zuständigen Behörden der Vertragspartei, in deren
Hoheitsgebiet die Entscheidung ergangen ist, um sachdienliche Auskünfte (Abs.
1). Die erbetenen Auskünfte werden sobald wie möglich erteilt und sind bei der
Entscheidung über eine Fortsetzung des Verfahrens zu berücksichtigen (Abs. 2).
Die Staatsanwaltschaft wird mit Blick auf das Gebot der besonderen
Beschleunigung in Haftsachen (Art. 5 Abs. 2 StPO) darauf hinzuwirken haben,
dass die französischen Behörden - wie das Art. 57 Abs. 2 SDÜ vorschreibt - die
Urteile der Gerichte in Nancy sobald wie möglich übermitteln und sich zur
Rechtskraft äussern. Sollte das Urteil des Berufungsgerichts in Nancy
rechtskräftig geworden (und der französische Strafregisterauszug vom 1. Februar
2017 somit falsch bzw. zumindest nicht auf dem aktuellen Stand) sein, wird sich
die Staatsanwaltschaft in Auseinandersetzung mit den Erwägungen der Gerichte in
Nancy dazu zu äussern haben, ob es im schweizerischen Strafverfahren um
dieselbe Tat im Sinne von Art. 54 SDÜ geht. Es besteht hier kein Anlass, dazu
gewissermassen auf Vorrat rechtliche Erwägungen anzustellen (zur Tatidentität
gemäss Art. 54 SDÜ vgl. TAG, a.a..O, N. 17 zu Art. 11 StPO, mit Hinweisen auf
die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union).

3. 
Nach dem Gesagten kommt aufgrund der derzeitigen Aktenlage die
Verfahrenseinstellung und Haftentlassung nicht in Betracht. Die Beschwerde ist
daher abzuweisen.
Die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers kann angenommen werden. Da die
Untersuchungshaft einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit
darstellt, konnte er sich zur Beschwerde veranlasst sehen. Die unentgeltliche
Rechtpflege und Verbeiständung nach Art. 64 BGG wird deshalb bewilligt. Es
werden keine Gerichtskosten erhoben und dem Anwalt des Beschwerdeführers wird
eine Entschädigung ausgerichtet.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Roger Föhn, wird aus der
Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat
und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 8. März 2017

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Merkli

Der Gerichtsschreiber: Härri

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