Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.551/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                [displayimage]  
 
 
1B_551/2017  
 
 
Urteil vom 11. Mai 2018  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Karlen, Eusebio, 
Gerichtsschreiber Dold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
1. A.________, 
2. B.________, 
Beschwerdeführer, 
beide vertreten durch Rechtsanwalt Oliver Lücke, 
 
gegen  
 
Mitglieder der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons
Bern, Hochschulstrasse 17, Postfach 7475, 3001 Bern, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Ausstand, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, 2.
Strafkammer, vom 11. Dezember 2017 (SK 17 483+484). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 20. November 2017 erliess die Staatsanwaltschaft Bern eine
Nichtanhandnahmeverfügung in Bezug auf den gegen die verantwortlichen Personen
der C.________ AG und der D.________ GmbH gerichteten Vorwurf des Betrugs und
anderer Delikte. Dagegen erhoben A.________ und B.________ Beschwerde ans
Obergericht Bern. Vorab machten sie geltend, sie lehnten das Gericht wegen der
Besorgnis der Befangenheit ab. 
Die mit der Sache befasste Verfahrensleitung der Beschwerdekammer in
Strafsachen leitete das mit der Beschwerde verbundene Ausstandsgesuch an die
Strafkammern des Obergerichts weiter. Die 2. Strafkammer beschloss in der Folge
unter Mitwirkung der Oberrichter Niklaus, Geiser und Kiener am 11. Dezember
2017, das Ausstandsgesuch abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. 
 
B.  
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 21. Dezember 2017
beantragen A.________ und B.________, der Beschluss des Obergerichts sei
aufzuheben und das Ausstandsgesuch gutzuheissen. Die Sache sei an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese in einer auf Gesetz beruhenden Besetzung
neu entscheide, wobei die Oberrichter Niklaus, Geiser und Kiener in den
Ausstand zu treten hätten. Die Kosten des Ausstandsverfahrens seien dem Kanton
Bern aufzuerlegen. 
In verfahrensrechtlicher Hinsicht machen die Beschwerdeführer geltend, sie
lehnten die strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts wegen eines Verstosses
gegen den Anspruch auf den gesetzlichen Richter ab. 
Die Präsidentin der Beschwerdekammer verzichtet auf eine Vernehmlassung und
weist darauf hin, dass die vollständige Zusammensetzung des Spruchkörpers noch
nicht feststehe. Die 2. Strafkammer des Obergerichts beantragt, die Beschwerde
sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Der Beschwerdeführer hält in
seiner Stellungnahme dazu an seinen Anträgen und Rechtsauffassungen fest. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen kantonal letztinstanzlichen
Entscheid in einer Strafsache (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG i.V.m. Art. 59
Abs. 1 StPO). Gemäss Art. 92 Abs. 1 BGG ist gegen selbständig eröffnete Vor-
und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren die
Beschwerde zulässig. Der Begriff des Ausstands im Sinne dieser Bestimmung ist
weit zu verstehen. Darunter fallen auch andere Zwischenentscheide über die
Zusammensetzung der entscheidenden Behörde. Es handelt sich dabei um
gerichtsorganisatorische Fragen, die endgültig entschieden werden sollen, bevor
das Verfahren fortgesetzt wird (Urteil 1B_311/2016 vom 10. Oktober 2016 E. 1
mit Hinweisen). Die Beschwerdeführer sind gemäss Art. 81 Abs. 1 BGG zur
Beschwerde befugt (BGE 141 IV 1 E. 1.1 S. 5; 138 IV 78 E. 1.3 S. 80; Urteil
6B_1039/2017 vom 13. März 2018 E. 1.2.2; je mit Hinweisen). Auf ihr
Rechtsmittel ist einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Die Beschwerdeführer machen vorab geltend, sie lehnten die von der
strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts bestimmte Besetzung des
Spruchkörpers wegen eines Verstosses gegen Art. 6 EMRK wegen Besorgnis der
Befangenheit ab. Aus der Begründung dieses Verfahrensantrags geht hervor, dass
sie das ganze Bundesgericht und nicht lediglich die strafrechtliche Abteilung
meint. Auf die Kritik ist deshalb einzugehen, auch wenn im vorliegenden Fall
nicht die strafrechtliche, sondern die erste öffentlich-rechtliche Abteilung
zuständig ist (Art. 29 Abs. 3 des Reglements vom 20. November 2006 für das
Bundesgericht [BGerR; SR 173.110.131]).  
 
2.2. Die Beschwerdeführer machen entgegen dem Wortlaut ihres Antrags nicht die
Befangenheit einzelner Richter oder einen sonstigen Ausstandsgrund im Sinne von
Art. 34 BGG geltend, sondern kritisieren das Verfahren der
Spruchkörperbesetzung. Konkret bringen sie vor, das Bundesgericht verfüge über
keinen Geschäftsverteilungsplan für die Besetzung des Spruchkörpers im
Einzelfall. Anders als am Bundesverwaltungsgericht erfolge diese nicht
ausschliesslich nach dem Zufallsprinzip. Die in Art. 40 BGerR vorgesehenen
Kriterien würden keine Gewähr dafür bieten, dass der Spruchkörper gegen
Einflussnahme von Aussen hinreichend geschützt sei. Der Abteilungspräsident
habe weitgehend freie Hand, was konventionswidrig sei.  
 
2.3. Das Bundesgericht hat im zur Publikation bestimmten Urteil 6B_1356/2016
vom 5. Januar 2018 E. 2 ausführlich dargelegt, dass die Besetzung des
Spruchkörpers am Bundesgericht verfassungs- und konventionskonform geregelt
ist. Es bestätigte damit seine Ausführungen im Urteil 1B_491/2016 vom 24. März
2017 E. 1.4. Insbesondere legte es dar, dass in Art. 40 BGerR sachliche
Kriterien vorgesehen sind, welche der Abteilungspräsident bei der Besetzung des
Spruchkörpers berücksichtigen muss, und dass eine weitere Objektivierung der
Besetzung aufgrund der EDV-Applikation "CompCour" erfolgt, welche die weiteren
mitwirkenden Richter automatisch bestimmt. Das Bundesgericht hat weiter
aufgezeigt, dass weder die Bundesverfassung noch die EMRK verlangen, bei der
Spruchkörperbesetzung jegliches Ermessen auszuschliessen. Die Kritik der
Beschwerdeführer weckt keine Zweifel an der Richtigkeit dieser Darlegungen und
bietet deshalb auch keinen Anlass, darauf zurückzukommen. Die Rüge der
Verletzung von Art. 6 EMRK ist unbegründet, und der Spruchkörper ist in der
dargestellten üblichen Weise zu besetzen.  
 
3.  
 
3.1. Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung der Begründungspflicht (Art. 29
Abs. 2 BV) und des Rechts auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK). Der
angefochtene Beschluss setze sich nicht mit der Frage der Verletzung von Art. 6
EMRK auseinander, was dem Ausstandsgesuch die Wirksamkeit im Sinne von Art. 13
EMRK nehme.  
 
3.2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt, dass die Behörde die
Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch
tatsächlich hört, prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt. Daraus
folgt die Verpflichtung der Behörde, ihren Entscheid zu begründen. Dabei ist es
nicht erforderlich, dass sie sich mit allen Parteistandpunkten einlässlich
auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Vielmehr
kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken. Die
Begründung muss so abgefasst sein, dass sich der Betroffene über die Tragweite
des Entscheids Rechenschaft geben und ihn in voller Kenntnis der Sache an die
höhere Instanz weiterziehen kann. In diesem Sinne müssen wenigstens kurz die
Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und
auf die sich ihr Entscheid stützt (BGE 143 III 65 E. 5.2 S. 70 f. mit
Hinweisen).  
 
3.3. Die Vorinstanz ist auf die Vorbringen der Beschwerdeführer insofern nicht
eingetreten, als diese die Besetzung der Beschwerdekammer ablehnten, ohne
konkret darzutun, weshalb der Anschein der Befangenheit gegeben sei. Ihr
Entscheid ist in dieser Hinsicht hinreichend begründet. Insofern, als die
Beschwerdeführer eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter im
Sinne von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend gemacht hatte, trat
die Vorinstanz auf das Gesuch ein und setzte sich mit der
beschwerdeführerischen Kritik auch eingehend auseinander. Aus dem angefochtenen
Beschluss ist ohne Weiteres ersichtlich, aus welchen Erwägungen sie zum Schluss
kam, der Anspruch sei nicht verletzt. Die Begründungspflicht wurde damit
erfüllt. Ebenfalls unbegründet ist die Rüge der Missachtung von Art. 13 EMRK.
Dass das vorliegende Verfahren dem Beschwerdeführer keine wirksame Beschwerde
ermöglichen soll, ist nicht nachvollziehbar. Art. 13 EMRK ist nicht verletzt,
nur weil die von Art. 13 EMRK geforderte Beschwerdeinstanz der Rechtsauffassung
der Beschwerdeführer nicht folgt.  
 
4.  
 
4.1. Die Beschwerdeführer kritisieren, am Obergericht bestünden keine
gesetzlichen Bestimmungen, die die Richterzuteilung im Voraus abstrakt
regelten. Auch gebe es keinen Geschäftsverteilungsplan. Art. 6 EMRK verlange
indessen, dass die Besetzung des Gerichts klar und eindeutig geregelt sei. Es
sei unzulässig, wenn der Gerichtspräsident insofern über einen weiten Spielraum
verfüge. Der Mangel einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage betreffe auch
den Einsatz von Oberrichter Niklaus, Geiser und Kiener im Ausstandsverfahren.
Es sei insbesondere nicht klar, auf welcher Grundlage Oberrichter Niklaus als
Präsident i.V. eingesetzt worden sei.  
 
4.2. Nach Art. 30 Abs. 1 BV hat jede Person, deren Sache in einem gerichtlichen
Verfahren beurteilt werden muss, Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes,
zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht. Ausnahmegerichte sind
untersagt. Mit ähnlichen Worten garantiert Art. 6 Abs. 1 EMRK das Recht jeder
Person, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche
und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage
von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in
einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt
wird.  
 
4.3. Die Besetzung der Richterbank am Obergericht Bern ist in Art. 44 f. des
Gesetzes des Kantons Bern vom 11. Juni 2009 über die Organisation der
Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft (GSOG; BSG 161.1) geregelt. Die
beiden Bestimmungen haben, soweit vorliegend von Interesse, folgenden Wortlaut:
 
Art. 44 Abteilungspräsidentin oder Abteilungspräsident 
1 Die Abteilungspräsidentin oder der Abteilungspräsident führt die Abteilung
und ist verantwortlich für die Fallzuteilung und den Belastungsausgleich. 
2 Sie oder er entscheidet über den Beizug von Ersatzrichterinnen und
Ersatzrichtern. 
 
Art. 45 Spruchkörper 
1 Die Urteilsfindung erfolgt in Dreierbesetzung, soweit das Gesetz nichts
anderes bestimmt. 
 
 
4.4. Die Vorinstanz führt aus, Rechtsanwalt Lücke, der eine ganze Reihe von
Ausstandsgesuchen in verschiedenen Verfahren eingereicht habe, sei die
Anwendung von Art. 44 und 45 GSOG bereits einlässlich erläutert worden. Mit
Schreiben vom 25. September 2017 habe ihm Oberrichterin Schnell erklärt, dass
sie als Präsidentin der Beschwerdekammer in der Regel sowohl in der
Instruktions- als auch in der Entscheidphase beteiligt sei. Welche weiteren
Kammermitglieder zum Entscheid beigezogen werden könnten, zeige sich in der
Regel erst im Zeitpunkt des Beginns der Zirkulation, weil erst dann sicher sei,
wer von den in der Beschwerdekammer tätigen Oberrichtern anwesend und auch
tatsächlich verfügbar sei. Mit Schreiben vom 3. Oktober 2017 habe Oberrichterin
Schnell festgehalten, dass es keine Listenplätze oder "Excel"-Tabellen gebe und
dass sie die Kammerzusammensetzung im betreffenden Verfahren nach dem Kriterium
der Verfügbarkeit vorgenommen habe.  
In ihrer Vernehmlassung im Verfahren vor Bundesgericht ergänzt die Vorinstanz,
Rechtsanwalt Lücke habe im Oktober und im November 2017 bei der Strafabteilung
insgesamt 13 Ausstandsgesuche in unterschiedlichen Verfahren eingereicht, was
ein koordiniertes Vorgehen erfordert habe. Bei den Oberrichtern Niklaus, Geiser
und Kiener habe es sich um die einzigen verbleibenden Mitglieder der
Strafkammern gehandelt, die von den Ausstandsbegehren nicht betroffen gewesen
seien. 
 
4.5. Im zur Publikation vorgesehenen Urteil 1B_517/2017 vom 13. März 2018, das
ebenfalls das Obergericht Bern betrifft, hat das Bundesgericht ausführlich
dargelegt, dass die kritisierte Spruchkörperbildung mit den verfassungs- und
konventionsrechtlichen Vorgaben vereinbar ist. Ausschlaggebend war, dass sich
die Kriterien für die Spruchkörperbildung in hinreichender Klarheit aus Art. 44
Abs. 1 GSOG und der dazugehörigen Praxis ergeben. Das Bundesgericht setzte sich
auch mit der Kritik an der Wahl der für das Ausstandsverfahren zuständigen
Richter auseinander und stellte fest, dass sich das Obergericht auch in dieser
Hinsicht von sachlichen Gesichtspunkten hatte leiten lassen, nämlich der Regel,
dass konnexe Fälle im Allgemeinen vom gleichen Spruchkörper zu behandeln sind
sowie der Regel, dass von einem Ausstandsgesuch betroffene Personen am
Entscheid über dessen Begründetheit nicht mitwirken (zum Ganzen: a.a.O., E.
5-6, insbesondere E. 6.3). Die von den Beschwerdeführern vorgetragene Kritik an
den betreffenden Erwägungen, die auch im vorliegenden Verfahren Gültigkeit
beanspruchen, gibt keinen Anlass, darauf zurückzukommen.  
 
5.  
Die Beschwerde ist abzuweisen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten den Beschwerdeführern
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es ist keine Parteientschädigung
zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1-3 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden den Beschwerdeführern auferlegt. 
 
3.  
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2.
Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 11. Mai 2018 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Dold 

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