Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.275/2017
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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1B_275/2017            

 
 
 
Urteil vom 2. Oktober 2017  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Karlen, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Staatsanwaltschaft Kreuzlingen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.D.________, 
Beschwerdegegner, 
vertreten durch Rechtsanwalt Otmar Kurath, 
 
B.D.________, 
Privatklägerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans Munz. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Verwertung einer Einvernahme, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 18. Mai 2017 des Obergerichts des Kantons
Thurgau. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Am 14. März 2013 zeigte C.D.________ ihren Ex-Mann A.D.________ bei der
Kantonspolizei Thurgau an wegen des Verdachts, an ihrer gemeinsamen Tochter
B.D.________ (geb. 2008) sexuelle Handlungen ausgeführt zu haben. 
Am 20. März 2013 eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen
A.D.________ und liess ihn am 21. März 2013 von der Kantonspolizei befragen.
Diese Einvernahme, bei der sich A.D.________ erheblich belastete, fand ohne
Anwalt statt. Tags darauf vernahm ihn die Staatsanwaltschaft in Beisein seines
notwendigen, amtlichen Verteidigers. Dabei verweigerte A.D.________ jegliche
Aussagen zur Sache. 
Am 20. August 2013 ersuchte A.D.________ die Staatsanwaltschaft, das Protokoll
der Einvernahme vom 21. März 2013 aus den Akten zu entfernen und bis zum
rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens unter Verschluss zu halten. Die
Weigerung der Staatsanwaltschaft, diesem Antrag zu entsprechen, focht
A.D.________ bis vor Bundesgericht an, welches die Staatsanwaltschaft mit
Urteil 1B_445/2013 vom 14. Februar 2014 anwies, dieses Protokoll separat unter
Verschluss zu halten und nach rechtskräftiger Erledigung des Strafverfahrens zu
vernichten. 
Am 15. Juni 2015 entfernte die Staatsanwaltschaft die Protokolle der
Einvernahmen vom 21. und vom 22. März 2013 - in der zweiten Einvernahme waren
A.D.________ seine tags zuvor gemachten Aussagen vorgehalten worden - aus den
Akten. 
 
B.  
Am 16. November 2015 erhob die Staatsanwaltschaft beim Bezirksgericht
Kreuzlingen Anklage gegen A.D.________ wegen mehrfacher Schändung und
mehrfacher sexueller Handlung mit einem Kind und beantragte eine bedingte
Freiheitsstrafe von 18 Monaten. 
Am 29. Dezember 2016 beantragte die Staatsanwaltschaft dem Bezirksgericht, die
Protokolle der Einvernahmen vom 21. und vom 22. März 2013 zu den Akten zu
nehmen und zum Beweis zuzulassen. Sie begründete diesen Antrag an der
Hauptverhandlung vom 11. Januar 2017. B.D.________ schloss sich dem Antrag an,
A.D.________ beantragte, ihn abzuweisen. 
Mit Entscheid vom 11. Januar 2017, den es am 20. März 2017 versandte, beschloss
das Bezirksgericht, die beiden Protokolle zu den Akten zu nehmen und zum Beweis
zuzulassen. 
Am 18. Mai 2017 schützte das Obergericht des Kantons Thurgau die Beschwerde von
A.D.________ gegen diesen Entscheid des Bezirksgerichts, hob ihn auf und
entschied, die Protokolle seien weiterhin separat unter Verschluss zu halten
und nach rechtskräftiger Erledigung des Strafverfahrens zu vernichten. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt die Staatsanwaltschaft, diesen
Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung ans Obergericht
zurückzuweisen. 
 
D.  
Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung. B.D.________ beantragt, die
Beschwerde gutzuheissen und ersucht für das bundesgerichtliche Verfahren um
unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. A.D.________ beantragt, auf die
Beschwerde nicht einzutreten oder sie eventuell abzuweisen. Er ersucht für das
bundesgerichtliche Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein Entscheid des Obergerichts, mit dem es die
vorfrageweise Zulassung zweier Einvernahmeprotokolle als Beweismittel durch das
Bezirksgericht aufhob. Es handelt sich damit um einen kantonal
letztinstanzlichen Entscheid in strafrechtlichen Angelegenheit, gegen den die
Beschwerde in Strafsachen zulässig ist (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 Abs. 1, Art. 90
BGG). Er schliesst das Strafverfahren gegen den Beschwerdegegner allerdings
nicht ab; es handelt sich um einen Zwischenentscheid im Sinn von Art. 93 Abs. 1
BGG. Gegen einen solchen ist die Beschwerde zulässig, wenn er einen nicht
wiedergutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur (BGE 133 IV 139 E. 4) bewirken
kann (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen
Endentscheid herbeiführen und dadurch einen bedeutenden Aufwand an Zeit und
Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). In der
vorliegenden Konstellation fällt die Voraussetzung von lit. b von vornherein
ausser Betracht.  
Nach Art. 42 Abs. 2 BGG hat die Beschwerdeführerin darzulegen, dass die
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind; bei der Anfechtung von
Zwischenentscheiden hat sie die Tatsachen anzuführen, aus denen sich der nicht
wiedergutzumachende Nachteil ergeben sollen, sofern dies nicht offensichtlich
ist (BGE 138 III 46 E. 1.2 S. 47; zum Ganzen: BGE 141 IV 284 E. 2.3 S. 287; 289
E. 1.3 S. 292). 
 
1.2. Das Eintreten auf die Beschwerde erscheint, wie der Beschwerdegegner zu
Recht ausführt, unter drei Gesichtspunkten als fraglich:  
 
1.2.1. Die Generalstaatsanwaltschaft trägt im Kanton Thurgau die
Gesamtverantwortung für die Strafverfolgung, ist gegenüber den
Staatsanwaltschaften weisungsberechtigt, sorgt für Einheitlichkeit in der
Strafverfolgung und kann Rechtsmittel einlegen (§§ 28 und 30 des Gesetzes vom
17. Juni 2009 über die Zivil- und Strafrechtspflege; ZSRG). Sie ist damit nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 142 IV 196 E. 1; Urteil 6B_949/2013
vom 3. Februar 2014 E. 2, je mit Hinweisen) allein befugt, als
"Staatsanwaltschaft" im Sinn von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG Beschwerde
ans Bundesgericht zu erheben. Vorliegend hat dies die dafür nicht zuständige
Staatsanwaltschaft Kreuzlingen selber getan. Allerdings legt sie dar, sie
handle "namens und im Auftrag der Generalstaatsanwaltschaft" (Beschwerde S. 2
Ziff. 2). Der Generalstaatsanwalt bestätigt auf einem Anhang der Beschwerde
unterschriftlich, sie nach § 28 Abs. 2 ZSRG "eingesehen und genehmigt" zu
haben. Nach dieser Bestimmung hat er u.a. die Kompetenz, "die Zuständigkeit,
Rechtsmittel einzureichen oder zurückzuziehen", zu regeln. Sie kann sich
naturgemäss nur auf das kantonale Verfahren beziehen; wer zur Beschwerde ans
Bundesgericht befugt ist, bestimmt das Bundesrecht. Nach der dargelegten Praxis
ist das allein die Gerneralstaatsanwaltschaft, die in eigenem Namen
prozessieren muss und diese Befugnisse gerade nicht an die Staatsanwaltschaften
delegieren kann. Ob man vorliegend die Beschwerde der Staatsanwaltschaft als
solche der Generalstaatsanwaltschaft entgegennehmen könnte, da sie sie immerhin
auch unterzeichnet hat, kann indessen offenbleiben, da auf die Beschwerde
ohnehin nicht eingetreten werden kann.  
 
1.2.2. Beantragt wird einzig, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die
Sache an die Vorinstanz zu neuem Entscheid zurückzuweisen. Die
Beschwerdeführerin stellt damit keinen Antrag in der Sache, was bei einem
reformatorischen Rechtsmittel wie der Beschwerde in Strafsachen (Art. 107 Abs.
2 BGG; z.B. BGE 138 IV 232 E. 7 S. 249) unzulässig ist (BGE 133 II 409 E.
1.4.2; 130 III 136 E. 1.2).  
 
1.2.3. Mit dem angefochtenen Entscheid steht fest, dass die beiden umstrittenen
Protokolle vom Bezirksgericht für die Urteilsfindung nicht verwertet werden
dürfen. Das erstinstanzliche Strafurteil hat somit auf der Grundlage der
übrigen Beweismittel zu ergehen. Ob die Beschwerdeführerin deswegen mit ihrer
Anklage nicht durchdringt und dadurch einen Nachteil erleidet, ist offen und
vom Bundesgericht im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen. Auf jeden Fall
erleidet sie keinen Nachteil rechtlicher Natur, der im Rechtsmittelverfahren
nicht behoben werden könnte, weil das Berufungsgericht das erstinstanzliche
Strafurteil in allen angefochtenen Punkten umfassend überprüfen kann (Art. 398
Abs. 2 StPO), mithin auch in Bezug auf die Frage, ob die beiden gemäss dem
ersten in dieser Sache ergangenen Urteil des Bundesgerichts 1B_445/2013 vom 14.
Februar 2014 an sich nicht verwertbaren Beweismittel nicht nach Art. 141 Abs. 2
letzter Satzteil StPO ausnahmsweise doch verwertbar sind. Darüber hatte das
Bundesgericht damals nicht zu befinden. Der angefochtene Entscheid kann somit
keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur bewirken. Auf die
Beschwerde ist nicht einzutreten.  
 
2.  
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4
BGG). Hingegen hat der Kanton Thurgau dem Beschwerdegegner eine angemessene
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG); damit wird dessen
Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung gegenstandslos. Das
Gesuch der Privatklägerin um unentgeltliche Verbeiständung ist gutzuheissen und
ihr für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung
zuzusprechen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.   
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Thurgau hat dem Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen. 
 
4.   
Das Gesuch der Privatklägerin um unentgeltliche Verbeiständung wird
gutgeheissen. Sie wird mit Fr. 1'500.-- aus der Bundesgerichtskasse
entschädigt. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, B.D.________ und dem Obergericht des Kantons
Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 2. Oktober 2017 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Störi 

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