Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.227/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
1B_227/2017        

Urteil vom 26. Juni 2017

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Härri.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Martin Tobler,

gegen

Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich,
Molkenstrasse 15/17, 8004 Zürich.

Gegenstand
Untersuchungshaft,

Beschwerde gegen den Beschluss vom 30. Mai 2017 des Obergerichts des Kantons
Zürich, III. Strafkammer.

Sachverhalt:

A. 
Die Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich (im Folgenden: Staatsanwaltschaft)
führt eine Strafuntersuchung gegen A.________. Sie wirft ihm vor, an mehrfachem
Mord und Raub beteiligt gewesen zu sein. Überdies habe er sich des versuchten
Betrugs schuldig gemacht.
Am Abend des 3. Juni 2016 habe er sich zusammen mit den Mitbeschuldigten B.
D.________ und dessen Ehefrau C. D.________ zu E.________ begeben, unter dem
Vorwand, Interesse am Kauf eines von diesem zum Verkauf angebotenen Lastwagens
zu haben. Um den Kaufpreis von ca. Fr. 60'000.-- nicht bezahlen zu müssen,
hätten die Beschuldigten nach der Probefahrt E.________ gefesselt und in einem
Anhänger an den Wohnort der Ehegatten D.________ verbracht. Dort habe B.
D.________ E.________ ein Band um den Mund und die Nase geklebt und gewartet,
bis E.________ erstickt sei. Die Leiche hätten die Beschuldigten in einen Wald
gelegt (Dossier 1).
A.________ sei überdies zusammen mit B. D.________ und C. D.________ an der
Tötung von F.________ und der anschliessenden Entwendung dessen "BMW" und des
dessen Vater gehörenden "Mercedes" beteiligt gewesen. A.________ habe am Abend
des 27. April 2016 F.________ wahrheitswidrig gesagt, den "BMW" zwecks
Reparatur auf einem Anhänger in eine Autogarage transportieren zu wollen.
F.________ sei in der Folge zu A.________ ins Fahrzeug eingestiegen, worauf ihn
A.________ zusammen mit dem auf dem Anhänger aufgeladenen "BMW" nicht in eine
Autogarage, sondern zu B. D.________ gebracht habe. Dort sei F.________ zum
Widerstand unfähig gemacht worden. Darauf habe man ihm die Schlüssel für den
"BMW" und den "Mercedes" abgenommen. Anschliessend habe A.________ zusammen mit
C. D.________ am Wohnort der Eltern von F.________ den "Mercedes" abgeholt,
welchen C. D.________ in der Folge an ihren Wohnort verbracht habe. Zu einem
nicht genau bekannten Zeitpunkt zwischen dem 27. und 28. April 2016 habe B.
D.________ F.________ getötet, indem er ihm den Mund und die Nase mit einem
Klebeband verschlossen habe. Die Leiche habe B. D.________ an seinem Wohnort
vergraben (Dossier 2).
Am 29. Juni 2015 habe A.________ ausserdem bei der Polizei wahrheitswidrig den
Diebstahl seines Lieferwagens gemeldet, um von der Versicherung die Auszahlung
von Leistungen zu erwirken, was ihm jedoch nicht gelungen sei (Dossier 4).
A.________ habe überdies B. D.________ beim Betrug einer anderen Versicherung
Hilfe geleistet. B. D.________ habe am 6. Januar 2016 der Versicherung einen
auf seine Mutter eingetragenen Personenwagen wahrheitswidrig als gestohlen
gemeldet. In der Nacht des 28. Januar 2016 sei der Wagen in Deutschland
brennend aufgefunden worden. B. D.________ habe der Versicherung den
Fahrzeugschlüssel abgeben müssen. Um es B. D.________ zu ermöglichen, den Wagen
an den späteren Fundort zu verschieben, habe A.________ versucht, ein neues
Zündschloss in den Wagen einzubauen. Zudem sei A.________ am Anzünden des
Wagens beteiligt gewesen. Im Weiteren habe er über seinen Garagenbetrieb
Rechnungen ausgestellt, welche gegenüber der Versicherung Reparaturen am Wagen
hätten belegen sollen, die nie ausgeführt worden seien. Dies habe A.________
getan, um der Versicherung einen höheren Wert des Wagens vorzuspiegeln (Dossier
5).

B. 
Am 6. Juni 2016 wurde A.________ in Deutschland festgenommen und am 23. Juni
2016 an die Schweizer Behörden überstellt. Gleichentags versetzte ihn das
Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Zürich in Untersuchungshaft.

C. 
Am 27. April 2017 ersuchte A.________ um Haftentlassung.
Am 9. Mai 2017 wies das Zwangsmassnahmengericht das Gesuch ab und stellte fest,
die Untersuchungshaft dauere noch bis zum 23. Juni 2017.
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons
Zürich (III. Strafkammer) am 30. Mai 2017 ab. Es bejahte nebst dem dringenden
Tatverdacht Kollusionsgefahr. Mildere Ersatzmassnahmen anstelle der Haft
erachtete es als untauglich. Deren Dauer beurteilte es als verhältnismässig.

D. 
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, den Beschluss des
Obergerichts aufzuheben und ihn unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu
entlassen. Eventualiter sei der Beschluss des Obergerichts aufzuheben und
anstelle von Untersuchungshaft eine Ersatzmassnahme anzuordnen. Subeventualiter
sei der Beschluss des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung
an dieses zurückzuweisen.

E. 
Das Obergericht und die Staatsanwaltschaft haben auf Vernehmlassung verzichtet.

Erwägungen:

1. 
Gegen den angefochtenen Beschluss ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde
in Strafsachen gegeben.
Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach
Art. 80 BGG somit zulässig.
Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur
Beschwerde befugt.
Der angefochtene Beschluss stellt einen Zwischenentscheid dar, der dem
Beschwerdeführer einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art.
93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann. Die Beschwerde ist deshalb auch insoweit
zulässig.
Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt und geben zu
keinen Bemerkungen Anlass.

2. 
Das Bundesgericht hat die vorinstanzlichen Akten beigezogen. Dem entsprechenden
Verfahrensantrag ist damit Genüge getan.

3.

3.1. Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. b StPO ist Untersuchungshaft zulässig, wenn
die beschuldigte Person einen Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig
ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie Personen beeinflusst oder auf
Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen
(Kollusionsgefahr).
Der Beschwerdeführer bestreitet den dringenden Tatverdacht nicht. Er macht
geltend, es fehle an der Kollusionsgefahr.

3.2. Die Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass die
beschuldigte Person die Freiheit dazu missbrauchen würde, die wahrheitsgetreue
Abklärung des Sachverhalts zu vereiteln oder zu gefährden. Die theoretische
Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, genügt
nicht, um die Fortsetzung der Haft unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es
müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr
sprechen. Das Vorliegen des Haftgrundes ist nach Massgabe der Umstände des
jeweiligen Einzelfalles zu prüfen. Konkrete Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr
können sich namentlich ergeben aus dem bisherigen Verhalten des Beschuldigten
im Strafprozess, aus seinen persönlichen Merkmalen, aus seiner Stellung und
seinen Tatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhaltes sowie aus den
persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen. Bei der
Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des
Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der
von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der
untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen. Je
weiter das Strafverfahren fortgeschritten ist und je präziser der Sachverhalt
bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind an den
Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen (BGE 137 IV 122 E. 4.2 S. 127 f.;
132 I 21 E. 3.2 S. 23 f. mit Hinweisen).

3.3. Die Vorinstanz bejaht Kollusionsgefahr gegenüber der Mitbeschuldigten C.
D.________ und der Auskunftsperson G.________.
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Beschwerdeführer insbesondere die Beteiligung
an mehrfachem Mord und Raub vor. Es geht also um sehr schwere Straftaten,
weshalb der Beschwerdeführer im Falle einer Verurteilung mit einer hohen
Freiheitsstrafe rechnen muss. Entsprechend gross ist der Anreiz für
Kollusionshandlungen.
Mit Beschluss vom 25. April 2017 entliess das Obergericht des Kantons Zürich C.
D.________ aus der Untersuchungshaft. Sie belastete den Beschwerdeführer und
gab an, er habe ihr gesagt, wo sie das Mobiltelefon von E.________ wegwerfen
solle. Der Beschwerdeführer hätte damit bei seiner Freilassung ein erhebliches
Interesse, C. D.________ zu einer Rücknahme oder Abschwächung ihrer belastenden
Aussagen zu bewegen.
Die Strafuntersuchung dauert zwar schon länger an. Präzis geklärt werden konnte
der Sachverhalt bisher jedoch nicht. Dies liegt vor allem daran, dass die
Beschuldigten zunehmend von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machten.
Sowohl zum genauen Ablauf der Tötungs- und Raubdelikte als auch zu den
einzelnen Tatbeiträgen bestehen noch Unklarheiten. Unter diesen Umständen ist
zu befürchten, dass sich der Beschwerdeführer bei einer Haftentlassung mit C.
D.________ in Verbindung setzen und sich mit ihr absprechen würde. An der
Verhinderung einer derartigen Absprache besteht ein gewichtiges Interesse, weil
damit zu rechnen ist, dass das urteilende Gericht die Beschuldigten - nebst
wichtigen Zeugen und Auskunftspersonen - nochmals eingehend zur Sache befragen
wird (Art. 343 Abs. 3 StPO). Auch die Beweisabnahme vor dem Gericht muss vor
Verdunkelungshandlungen geschützt werden (BGE 132 I 21 E. 3.2.2 S. 24 mit
Hinweisen).
Der Beschwerdeführer wird, wie gesagt, auch des mehrfachen versuchten Betrugs
beschuldigt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, er habe der Polizei
wahrheitswidrig den Diebstahl seines Lieferwagens gemeldet, um von der
Versicherung Leistungen zu erwirken. Zudem habe er B. D.________ bei einem
anderen versuchten Versicherungsbetrug Hilfe geleistet. Dabei habe er versucht,
beim in Frage stehenden Fahrzeug ein neues Schloss einzubauen. Zudem habe er
beim Anzünden des Fahrzeugs mitgewirkt. Überdies habe er falsche Rechnungen
ausgestellt, um der Versicherung einen höheren Wert des Fahrzeugs
vorzuspiegeln. Diese dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Handlungen lassen auf
seine Bereitschaft schliessen, auch gegenüber Behörden wahrheitswidrige Angaben
zu machen, Tatsachen zu verschleiern und Spuren zu beseitigen. Dies spricht für
Kollusionsgefahr.
In Anbetracht dessen besteht nicht nur die theoretische Möglichkeit, dass der
Beschwerdeführer bei einer Haftentlassung jedenfalls gegenüber C. D.________
Kollusionshandlungen vornehmen könnte. Vielmehr bestehen dafür erhebliche
Anhaltspunkte. Da es um sehr schwere Straftaten geht, besteht an ihrer
Aufklärung und damit der Verhinderung von Kollusionshandlungen ein gesteigertes
öffentliches Interesse (Urteil 1B_261/2013 vom 11. September 2013 E. 2.3). Wenn
die Vorinstanz Kollusionsgefahr bejaht hat, hält das deshalb vor Bundesrecht
stand. Ob die Vorinstanz Kollusionsgefahr zu Recht auch gegenüber G.________
angenommen hat, kann dahingestellt bleiben.
Die Beschwerde erweist sich demnach im vorliegenden Punkt als unbegründet.

4. 
Der Beschwerdeführer macht geltend, mildere Ersatzmassnahmen anstelle der
Untersuchungshaft reichten zur Bannung von Kollusionsgefahr jedenfalls aus.
Das Vorbringen ist unbegründet. Ein Kontaktverbot könnte den Beschwerdeführer
nicht wirksam davon abhalten, mit C. D.________ Verbindung aufzunehmen. Diese
hätte im Übrigen kein Interesse daran, eine Verletzung des Verbots den Behörden
zur Kenntnis zu bringen. Wie die vom Beschwerdeführer vorgeschlagene
Meldepflicht die Kollusionsgefahr vermindern könnte, ist nicht erkennbar. Eine
Meldepflicht kommt - in der Regel in Verbindung mit weiteren Massnahmen
(Kaution, Schriftensperre) - zur Verminderung von Fluchtgefahr in Betracht.
Darum geht es hier nicht. Wenn die Vorinstanz zum Schluss gekommen ist, mildere
Ersatzmassnahmen könnten die Kollusionsgefahr nicht hinreichend bannen, ist das
nicht zu beanstanden.

5. 
Der Beschwerdeführer befindet sich seit rund einem Jahr in Haft. Seine
Mittellosigkeit kann angenommen werden. Da die Untersuchungshaft einen schweren
Eingriff in die persönliche Freiheit darstellt, konnte er sich zur Beschwerde
veranlasst sehen. Die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art.
64 BGG wird daher bewilligt. Es werden keine Gerichtskosten erhoben und dem
Vertreter des Beschwerdeführers wird eine Entschädigung ausgerichtet.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Martin Tobler, wird aus der
Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des Kantons
Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 26. Juni 2017

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Merkli

Der Gerichtsschreiber: Härri

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