Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.158/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
1B_158/2017

Urteil vom 5. Mai 2017

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Dold.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Christian Meier,

gegen

Staatsanwaltschaft See/Oberland.

Gegenstand
Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug,

Beschwerde gegen die Präsidialverfügung vom 28. März 2017 des Obergerichts des
Kantons Zürich, II. Strafkammer, Präsident.

Sachverhalt:

A.
A.________ wurde vom Obergericht des Kantons Aargau am 18. November 2016 zu
fünf Jahren Freiheitsstrafe und einer bedingten Geldstrafe verurteilt, wobei
783 Tage Haft an die Freiheitsstrafe anzurechnen sind.
Mit Urteil vom 9. März 2017 verurteilte ihn das Obergericht des Kantons Zürich
zudem wegen gewerbsmässigen Betrugs und anderen Delikten zu einer
Freiheitsstrafe von 4.5 Jahren, wovon 303 Tage durch Haft erstanden sind. Mit
Präsidialverfügung desselben Datums versetzte es ihn in Sicherheitshaft. Am 16.
März 2017 wurde A.________ der vorzeitige Strafvollzug bewilligt. Tags darauf
ersuchte er um seine Entlassung. Mit Präsidialverfügung vom 28. März 2017 wies
das Obergericht das Gesuch ab. Es ging davon aus, es bestehe Fluchtgefahr.

B.
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 21. April 2017 beantragt
A.________, die Präsidialverfügung vom 28. März 2017 sei aufzuheben und er
selbst sei unverzüglich aus dem vorzeitigen Strafvollzug zu entlassen.
Eventualiter seien Ersatzmassnahmen anzuordnen. Subeventualiter sei die Sache
an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht haben auf eine Stellungnahme
verzichtet.

Erwägungen:

1.
Der angefochtene Entscheid betrifft die Entlassung aus dem vorzeitigen
Strafvollzug. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG
gegeben. Der Beschwerdeführer ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde
berechtigt. Auf sein Rechtsmittel ist einzutreten.

2.

2.1. Der Beschwerdeführer befindet sich im vorzeitigen Strafvollzug. Dies
hindert ihn nicht daran, ein Gesuch um Haftentlassung zu stellen. Auf Gesuch um
Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug hin ist zu prüfen, ob die
Haftvoraussetzungen gegeben sind (BGE 139 IV 191 E. 4.1 f. S. 194; 117 Ia 72 E.
1d S. 79 f.; Urteil 1B_254/2014 vom 29. Juli 2014 E. 2.1; je mit Hinweisen).

2.2. Nach Art. 221 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter anderem
zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens
dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch
Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Abs. 1
lit. a). An ihrer Stelle sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den
gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff.
StPO).

2.3. Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen eines dringenden
Tatverdachts nicht. Er ist jedoch der Auffassung, dass keine Fluchtgefahr
bestehe bzw. dass einer allfälligen Fluchtgefahr mit Ersatzmassnahmen begegnet
werden könnte.

3.

3.1. Die Vorinstanz legte dar, aufgrund der Verurteilungen durch das
Obergericht Aargau und das Obergericht Zürich seien unter Berücksichtigung der
erstandenen Haft noch rund 74 Monate Freiheitsstrafe zu verbüssen, was ein
gewichtiges Indiz für Fluchtgefahr darstelle. Dass der Beschwerdeführer nicht
geflohen sei, als ihm gemäss den Strafanträgen der Staatsanwaltschaften Aargau
und Zürich insgesamt 23 Monate Freiheitsstrafe drohten, bedeute nicht, dass der
Fluchtanreiz mittlerweile gesunken sei, denn die Wahrscheinlichkeit einer
rechtskräftigen Verurteilung sei aufgrund der nun vorliegenden,
zweitinstanzlichen Urteile grösser. Der Beschwerdeführer sei zwar Schweizer
Bürger, verfüge jedoch über Beziehungen in den Kosovo. Er sei dort geboren
worden und während ca. 16 Jahren aufgewachsen. In den letzten Jahren sei er
mehrmals pro Jahr für mehrere Tage dort hingereist, um gemäss seinen eigenen
Angaben seine drei Bücher zu produzieren und seine kranken, mittlerweile
verstorbenen Grosseltern zu besuchen. Sein Vater besitze dort zudem ein leer
stehendes Haus. An der Berufungsverhandlung habe der Beschwerdeführer
angegeben, keinen Pass von Ex-Jugoslawien zu besitzen. Aus den Akten sei
freilich ersichtlich, dass ein solcher Pass sichergestellt und dem
Beschuldigten am 15. April 2011 wieder persönlich ausgehändigt worden sei. Es
sei davon auszugehen, dass er von den kosovarischen Behörden ohne Weiteres als
Staatsbürger anerkannt werde. Das Bestehen eines Auslieferungsabkommens
zwischen der Schweiz und dem Kosovo schliesse Fluchtgefahr ebenfalls nicht aus.
Die finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers seien unklar, weshalb nicht
ohne Weiteres davon auszugehen sei, dass ihm für ein Untertauchen das Geld
fehle. Er sei arbeitslos und befinde sich offenbar in der Ausbildung zum
Lkw-Fahrer. Dieser Beruf lasse sich überall ausüben. Hinweise darauf, dass er
im Kosovo Racheakten ausgeliefert sein werde, seien nicht ersichtlich.

3.2. Der Beschwerdeführer bringt vor, er habe gegen das Urteil des Aargauer
Obergerichts Beschwerde ans Bundesgericht erhoben. Weil aus seiner Sicht
beinahe die gesamte Beweiswürdigung auf unverwertbaren Beweisen beruhe, habe er
sehr gute Aussichten darauf, dass die Strafe um mehr als die Hälfte reduziert
werde. Hinsichtlich der vorinstanzlichen Ausführungen zu seinen Beziehungen in
den Kosovo sei zu berücksichtigen, dass er zwischen 2009 und 2013 mehrheitlich
in Haft gewesen sei. Die Besuche seien jeweils kurz gewesen und hätten
geschäftlichen Zwecken gedient. Mit seiner Familie habe er die Ferien nicht im
Kosovo, sondern in Albanien verbracht, was zeige, dass er keine nennenswerten
freundschaftlichen oder familiären Kontakte mehr in seinem Ursprungsland habe.
Seine Familienangehörigen lebten alle in der Schweiz. Es sei vor diesem
Hintergrund willkürlich, von einem engen Beziehungsnetz im Kosovo auszugehen.
Selbst wenn er als kosovarischer Staatsangehöriger anerkannt werden sollte,
müsste er sich dort im Falle einer Flucht verstecken. Denn einerseits
funktioniere die Auslieferung in die Schweiz sehr gut, andererseits müsste er
befürchten, dass die Geschädigten im Strafverfahren Selbstjustiz üben könnten.
Gegen die Fluchtgefahr spreche auch, dass er in der Schweiz verheiratet sei und
drei heranwachsende Töchter habe. Auch wenn er in den letzten Monaten keine
Festanstellung gehabt habe, so unternehme er viel, um dies zu ändern und
insbesondere sein Handicap der schlechten Grundausbildung und mässigen
Deutschkenntnisse zu kompensieren. Jüngst habe er sich auf Prüfungen in der
Fahrzeugkategorie D vorbereitet. Am 9. März 2017 habe er ein Angebot für eine
Stelle als Chauffeur der Kategorie C/CE erhalten. Schliesslich habe er durch
sein Verhalten nach der Haftentlassung im Jahr 2013 bewiesen, dass er nicht
fliehen wolle. Trotz der Anklagen in zwei Kantonen, die gesamthaft eine
Freiheitsstrafe von 23 Jahre gefordert hätten, habe er allen gerichtlichen
Vorladungen Folge geleistet. Dasselbe gelte für die Zeit nach der erst- und
zweitinstanzlichen Verurteilung im Kanton Aargau. Die Vorinstanz sei deshalb
fälschlicherweise von Fluchtgefahr ausgegangen. Zudem habe sie die
Begründungspflicht verletzt, weil sie auf seine Vorbringen nicht oder nur
oberflächlich eingegangen sei.

3.3. Das Obergericht legte dar, weshalb es Fluchtgefahr annahm, und ging dabei
auch auf die Vorbringen des Beschwerdeführers ein. Dass es nicht in jedem Punkt
sämtliche Argumente des Beschwerdeführers aufnahm, verletzt das rechtliche
Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV nicht. Danach ist ausreichend, wenn wenigstens
kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten
lassen und auf die sich ihr Entscheid stützt (BGE 138 IV 81 E. 2.2 S. 84; 136 I
229 E. 5.2 S. 236; je mit Hinweisen). Die Rüge der Verletzung der
Begründungspflicht ist deshalb unbegründet.

3.4. Die Annahme von Fluchtgefahr setzt ernsthafte Anhaltspunkte dafür voraus,
dass die beschuldigte Person sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu
erwartenden Sanktion entziehen könnte. Im Vordergrund steht dabei eine mögliche
Flucht ins Ausland, denkbar ist jedoch auch ein Untertauchen im Inland. Bei der
Bewertung, ob Fluchtgefahr besteht, sind die gesamten konkreten Verhältnisse zu
berücksichtigen. Es müssen Gründe bestehen, die eine Flucht nicht nur als
möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Schwere der
drohenden Strafe ist zwar ein Indiz für Fluchtgefahr, genügt jedoch für sich
allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Miteinzubeziehen sind die familiären
und sozialen Bindungen, die berufliche und finanzielle Situation und die
Kontakte zum Ausland. Selbst bei einer befürchteten Reise in ein Land, welches
die beschuldigte Person grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw.
stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht
ausgeschlossen. Die Wahrscheinlichkeit einer Flucht nimmt in der Regel mit
zunehmender Verfahrens- bzw. Haftdauer ab, da sich auch die Dauer des
allenfalls noch abzusitzenden strafrechtlichen Freiheitsentzugs mit der bereits
geleisteten prozessualen Haft, die auf die mutmassliche Freiheitsstrafe
anzurechnen wäre (Art. 51 StGB), kontinuierlich verringert (zum Ganzen: zur
Publ. vorgesehenes Urteil 6B_73/2017 vom 16. Februar 2017 E. 4.3 mit
Hinweisen).

3.5. Aufgrund der beiden zweitinstanzlichen Verurteilungen hat der
Beschwerdeführer auch unter Berücksichtigung der bereits erstandenen Haft noch
mit einem mehrjährigen Freiheitsentzug zu rechnen. Dies ist als gewichtiges
Fluchtindiz einzustufen (vgl. Urteil 1B_237/2016 vom 13. Juli 2016 E. 3.5 mit
Hinweis). Dass sich der Beschwerdeführer im Rechtsmittelverfahren eine
wesentliche Reduktion dieser Strafe erhofft, ändert daran nichts.
Der Beschwerdeführer ist insofern in der Schweiz verankert, als dass er schon
länger hier lebt und eine Familie hat. Indessen ist er regelmässig in den
Kosovo zurückgekehrt. Die Vorinstanz hielt fest, dies diene durchaus dazu, enge
Kontakte zu knüpfen. Diese Feststellung ist entgegen der Kritik des
Beschwerdeführers keineswegs willkürlich (Art. 9 BV), auch wenn auf der Hand
liegt, dass derartige Reisen während der Zeit der Untersuchungshaft nicht
möglich waren. Ebenfalls nicht zu beanstanden ist, wenn die Vorinstanz davon
ausging, dass die theoretische Möglichkeit von Retorsionsmassnahmen seitens der
Geschädigten den Beschwerdeführer kaum von einer Flucht abhalten dürften.
Dasselbe gilt nach dem Ausgeführten für die Möglichkeit einer Auslieferung an
die Schweiz.
Ein Indiz gegen die Annahme von Fluchtgefahr besteht dagegen im Verhalten des
Beschwerdeführers nach seiner Haftentlassung im Jahr 2013. Dieser hielt sich
nicht nur bis zum erstinstanzlichen Hauptverfahren im Aargau zur Verfügung der
Behörden, sondern auch nach der dortigen erst- und zweitinstanzlichen
Verurteilung und nach der erstinstanzlichen Verurteilung im Kanton Zürich.
Indessen hat sich die Aussicht auf die Verbüssung einer langjährigen
Freiheitsstrafe mit dem Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich weiter
konkretisiert.
Zu berücksichtigen ist schliesslich die wirtschaftliche Situation des
Beschwerdeführers. Nach seinen eigenen Angaben hat er rund Fr. 300'000.--
Schulden und war vor seiner Inhaftierung ohne feste Anstellung. Beim erwähnten,
angeblichen Stellenangebot handelt es sich zudem in Tat und Wahrheit lediglich
um die Einladung zur Einreichung einer Bewerbung. Die hohe Schuldenlast und die
unsicheren Aussichten bezüglich der beruflichen Situation stellen einen Anreiz
dar, sich nicht nur der Strafjustiz, sondern auch den Gläubigern zu entziehen.
Die hohe zu erwartende Strafe, die Verbundenheit mit dem Kosovo sowie die
schlechte wirtschaftliche Lage des Beschwerdeführers fallen insgesamt stärker
ins Gewicht als der Umstand, dass er in der Schweiz eine Familie besitzt und
bis anhin keinen Fluchtversuch unternommen hat. Die Fluchtgefahr kann unter
diesen Voraussetzungen bejaht werden, und es ist nicht ersichtlich, inwiefern
sie mit Ersatzmassnahmen gebannt werden könnte.

4.
Die Beschwerde ist aus diesen Gründen abzuweisen.
Der Beschwerdeführer ersucht um unentgeltliche Prozessführung und
Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann
dem Gesuch entsprochen werden (Art. 64 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.

2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

2.2. Rechtsanwalt Christian Meier wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand
ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse
mit Fr. 1'500.-- entschädigt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft See/Oberland
und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, Präsident, schriftlich
mitgeteilt.

Lausanne, 5. Mai 2017

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Merkli

Der Gerichtsschreiber: Dold

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