Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung, Beschwerde in Strafsachen 1B.130/2017
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
1B_130/2017        

Urteil vom 15. Juni 2017

I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Eusebio, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Dold.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
handelnd durch B.________,
und diese vertreten durch Rechtsanwältin C.________,

gegen

D.________, c/o Kantonale Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Bleichemattstrasse 7, 5001 Aarau,
Beschwerdegegner,

Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau.

Gegenstand
Strafverfahren; Ausstandsgesuch,

Beschwerde gegen den Entscheid vom 27. Februar 2017 des Obergerichts des
Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.

Sachverhalt:

A. 
A.________ (geb. 2008) erstattete am 4. Dezember 2014, handelnd durch seine
Mutter B.________, Strafanzeige bei der aargauischen Staatsanwaltschaft gegen
seinen Vater E.________ wegen Veruntreuung von Kindesvermögen. Gleichzeitig
erstattete er Anzeige gegen dessen Rechtsanwalt, F.________, wegen
Gehilfenschaft zu diesem Delikt. Die Vorwürfe stehen im Zusammenhang mit der
Erbschaft des am 10. Juli 2013 verstorbenen G.________, dem Grossvater von
A.________. A.________ machte geltend, sein Erbanteil sei in zwei Tranchen auf
ein österreichisches Konto seiner Mutter, auf welches sein Vater mittels
Bankomatkarte Zugriff gehabt habe, sowie auf ein schweizerisches Konto seines
Vaters ausbezahlt worden. Rechtsanwalt F.________ habe die beiden Überweisungen
autorisiert. Das Geld habe sein Vater, gegen den in Österreich im Februar 2013
die Geschäftsinsolvenz eröffnet worden sei und gegen den in der Schweiz ein
Wirtschaftsstrafprozess hängig sei, zu eigenen Zwecken verwendet.
Am 13. April 2015 verstarb E.________. Darauf stellte die Staatsanwaltschaft
mit Verfügung vom 29. April 2015 (genehmigt durch die Oberstaatsanwaltschaft am
1. Mai 2015) das Verfahren gegen ihn ein. Mit Verfügung vom 11. Mai 2015
(genehmigt durch die Oberstaatsanwaltschaft am 12. Mai 2015) nahm sie das
Strafverfahren gegen Rechtsanwalt F.________ wegen Gehilfenschaft zu
Veruntreuung nicht anhand.
Auf die Beschwerde A.________s hin hob das Obergericht des Kantons Aargau mit
Entscheid vom 10. Dezember 2015 die Nichtanhandnahmeverfügung auf und wies die
Sache an die Staatsanwaltschaft zurück. Diese eröffnete in der Folge ein
Strafverfahren gegen Rechtsanwalt F.________.
Mit Eingabe vom 19. August 2016 reichte A.________ ein Ausstandsgesuch gegen
die kantonale Staatsanwaltschaft und insbesondere gegen den verfahrensleitenden
Staatsanwalt, D.________, ein. Mit Entscheid vom 27. Februar 2017 wies das
Obergericht des Kantons Aargau das Ausstandsgesuch ab, soweit es darauf
eintrat.

B. 
Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 31. März 2017 beantragt
A.________, der Entscheid des Obergerichts sei aufzuheben und das
Ausstandsgesuch gegen Staatsanwalt D.________ gutzuheissen.
Die Oberstaatsanwaltschaft und das Obergericht haben auf eine Stellungnahme
verzichtet. Staatsanwalt D.________ hat sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.

1.1. Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen selbständig eröffneten
Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren in einer Strafsache (Art. 78 Abs.
1 und Art. 92 Abs. 1 BGG). Das Obergericht hat als letzte und einzige kantonale
Instanz entschieden (Art. 80 BGG i.V.m. Art. 59 Abs. 1 StPO). Der
Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 5 BGG zur
Beschwerde befugt. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen
Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

1.2. Im Gegensatz zum vorinstanzlichen Verfahren verlangt der Beschwerdeführer
im Verfahren vor Bundesgericht nur noch den Ausstand von Staatsanwalt
D.________ und nicht mehr der gesamten kantonalen Staatsanwaltschaft.

2.

2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, der Beschwerdegegner habe eine Reihe
schwerer Verfahrensfehler begangen. Zudem ist er der Auffassung, der
Beschwerdegegner habe versucht, seine Rechtsvertreterin einzuschüchtern, indem
er ihr strafbares Verhalten und eine Verletzung der Standesregeln für Anwälte
vorgeworfen habe.

2.2. Art. 56 StPO zählt verschiedene Gründe auf, die zum Ausstand von in einer
Strafbehörde tätigen Personen führen. Nach Art. 56 lit. f StPO trifft dies
namentlich aus anderen (als den in lit. a-e der gleichen Bestimmung genannten)
Gründen zu, insbesondere wenn die in der Strafverfolgung tätige Person wegen
Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand
befangen sein könnte. Art. 56 StPO konkretisiert die Verfassungsbestimmung von
Art. 29 Abs. 1 BV (für nicht richterliche Behörden) und von Art. 30 Abs. 1 BV
(für richterliche Behörden) sowie von Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Hinsichtlich der
Staatsanwaltschaft in ihrer Funktion als Strafuntersuchungs- und Anklagebehörde
konkretisiert Art. 56 StPO mithin den in Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1
EMRK verankerten Anspruch jeder Person auf ein faires Verfahren. Die Garantie
ist verletzt, wenn bei objektiver Betrachtungsweise Gegebenheiten vorliegen,
die den Anschein der Befangenheit zu begründen vermögen. Vom Staatsanwalt als
Untersuchungs- und Anklagebehörde ist dabei Sachlichkeit, Unbefangenheit und
Objektivität namentlich insofern zu erwarten, als er sich vor Abschluss der
Untersuchung grundsätzlich nicht darauf festlegen darf, dass dem Beschuldigten
ein strafbares Verhalten zur Last zu legen sei (BGE 141 IV 178 E. 3.2.1 f. S.
179 f. mit Hinweisen). Auch hat er den entlastenden Indizien und Beweismitteln
ebenso Rechnung zu tragen wie den belastenden (Art. 6 Abs. 2 StPO). Materielle
oder prozessuale Rechtsfehler stellen dagegen nur dann einen Ausstandsgrund
dar, wenn sie besonders krass sind und wiederholt auftreten, sodass sie einer
schweren Amtspflichtverletzung gleichkommen (BGE 141 IV 178 E. 3.2.3 S. 180 mit
Hinweisen).

2.3. Mit seinem Vorwurf, der Beschwerdegegner habe versucht, seine
Rechtsvertreterin einzuschüchtern, bezieht sich der Beschwerdeführer auf die
Stellungnahme des Beschwerdegegners im vorinstanzlichen Verfahren vom 8.
September 2016. Die beanstandete Passage der Stellungnahme des
Beschwerdegegners hat folgenden Wortlaut:

"Des Weiteren ist festzuhalten, dass die Vertreterin des Gesuchstellers den
Verfahrensleiter der Gesuchsgegnerin in ihrem Ausstandsgesuch wider besseres
Wissen mehrfach der Begünstigung (Art. 305 StGB), der Urkundenfälschung (Art.
251 Ziff. 1 StGB) sowie der Unterdrückung von Urkunden (Art. 254 StGB) und
damit eines strafbaren Verhaltens gegenüber einem Dritten, namentlich gegenüber
der Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Aargau,
bezichtigt. Schliesslich sind die Ausführungen der Vertreterin des
Gesuchstellers auch ehrverletzend, da sie den Ruf des Verfahrensleiters, ein
ehrbarer Mensch zu sein, d.h. sich so zu benehmen, wie nach allgemeiner
Anschauung ein charakterlich anständiger Mensch sich zu verhalten pflegt,
herabsetzt (vgl. dazu BGE 116 IV 205, E. 2 ff.). Die vorliegenden Äusserungen
der Vertreterin des Gesuchstellers können augenscheinlich nicht mehr unter die
'professionelle Schärfe', die zwischen Parteien besteht, die auf verschiedenen
Seiten stehen, subsumiert werden.

Alsdann stellt sich unter Berücksichtigung des Verhaltens der Vertreterin des
Gesuchstellers sowie ihren Handlungen im gesamten vorliegenden Verfahren die
Frage, ob diese die nötige professionelle Distanz aufweist, um für den
Gesuchsteller... das beste Resultat erzielen zu können, da unbestritten eine
persönliche Nähe zu den involvierten Personen besteht. Einerseits ist die
Vertreterin des Gesuchstellers die Ex-Frau des verstorbenen E.________ sel.,
mit dem sie drei Kinder hat und andererseits ist die Anzeigeerstatterin die
zweite Ehefrau, unmittelbar nach der Vertreterin des Gesuchstellers, des
Verstorbenen, die mit diesem ein Kind, welches in casu der Gesuchsteller ist,
hat.

Aufgrund dieser Tatsachen entstand bis heute vielmehr der Anschein, dass die
Vertreterin von A.________ sich mit Frau B.________ solidarisierte, um zunächst
gemeinsam gegen E.________ sel., und als dieser verstarb, gegen den
Beschuldigten F.________ unter allen Umständen vorzugehen. Dabei ist
augenscheinlich, dass die Vertreterin des Gesuchstellers damit nicht nur
dessen, sondern vielmehr auch ihre persönlichen Interessen verfolgt... Unter
Berücksichtigung der vorliegenden Tatsachen behält sich der Verfahrensleiter
der Gesuchsgegnerin die Prüfung einer Meldung an die Anwaltskommission
bezüglich eventueller Verletzung der Standesregeln durch die Vertreterin des
Gesuchstellers vor."

2.4. Die Vorinstanz hielt dazu fest, der Beschwerdegegner habe das Auftreten
der Vertreterin des Gesuchstellers im Ausstandsverfahren in mehrfacher Hinsicht
pointiert beanstandet, ohne indes diesbezüglich formelle Anträge zu stellen.
Unter den vorliegenden besonderen Umständen vermöge jedoch der Hinweis des
Gesuchgegners, er erwäge eine Meldung an die Aufsichtsbehörde über die Anwälte,
selbstredend keinen Anschein der Befangenheit zu erwecken, da es andernfalls
die Gegenpartei mit einem Ausstandsgesuch als Reaktion auf eine Meldung an die
Aufsichtsbehörde in der Hand hätte, eine unliebsame Justizperson allein dadurch
auszuschalten, bzw. sie von einer Meldung an die Aufsichtsbehörde abzuhalten,
was nicht angehen könne.

2.5. Verbale Anfeindungen, Unterstellungen oder auch das Erheben einer
Strafanzeige durch eine Partei vermögen nicht für sich allein den Anschein der
Befangenheit beim Adressaten zu begründen. Andernfalls hätte es die betreffende
Partei biespielsweise in der Hand, einen Richter in den Ausstand zu versetzen
und so die Zusammensetzung des Gerichts zu beeinflussen (BGE 134 I 20 E. 4.3.2
S. 22; Urteil 1B_303/2008 vom 25. März 2009 E. 2.3.3). Massgeblich ist in
derartigen Fällen die Reaktion des Betroffenen (Urteil 6B_20/2013 vom 3. Juni
2013 E. 2.2 mit Hinweisen, in: RtiD 2014 I S. 139). Antwortet dieser etwa mit
einer Strafanzeige wegen Ehrverletzung und Zivilforderungen, so erhält der
Konflikt dadurch eine persönliche Dimension, welche seine Unbefangenheit
tangiert (BGE 134 I 20 E. 4.3.2 S. 22). Auch andere Formen der Reaktion, welche
nicht mehr sachgerecht sind, können zu einem Ausstandsgrund führen (Urteile
1B_221/2007 vom 16. Januar 2008 E. 4.2, in: AJP 2008 S. 774; 1P.514/2002 vom
13. Februar 2003 E. 2.7 mit Hinweisen; zum Ganzen: Urteil 1B_664/2012 vom 19.
April 2013 E. 3.3 mit Hinweisen).

2.6. Es trifft zu, dass das Verhalten des Beschuldigten bzw. seiner
Rechtsvertreterin für sich allein keinen Anschein der Befangenheit des
verfahrensleitenden Staatsanwalts begründen kann. Ausschlaggebend ist dessen
Reaktion. Der Beschwerdegegner warf der Rechtsvertreterin des Gesuchstellers
mit detaillierter Begründung strafbares Verhalten und eine Verletzung der
Standesregeln vor. Inwiefern diese Vorwürfe zutreffen, braucht vorliegend nicht
beurteilt zu werden. Wesentlich erscheint, dass die betreffenden Ausführungen
nicht einfach nur pointiert waren, sondern klarerweise über eine Stellungnahme
zum Ausstandsgesuch hinausgingen. Insbesondere der Hinweis, er behalte sich
eine Meldung an die Aufsichtsbehörde vor, durfte von der Rechtsvertreterin des
Beschwerdeführers als Warnung verstanden werden, welche im weiteren Verlauf des
Verfahrens aufrechterhalten werden sollte. Mit dem Ausstandsverfahren haben die
betreffenden Ausführungen nichts zu tun und es ist nicht ersichtlich, welchem
schutzwürdigen Zweck sie hätten dienen können. Der Umstand, dass sich der
Beschwerdegegner gerade im Ausstandsverfahren, wo seine eigene Amtsführung zur
Diskussion stand, mit derartigen Bemerkungen zur Wehr setzte, weist darauf hin,
dass er sich persönlich angegriffen fühlte und die Angelegenheit nicht mehr mit
der notwendigen Sachlichkeit betrachtete. Unter diesen Umständen ist der
Ausstandsgrund von Art. 56 lit. f StPO zu bejahen.

2.7. Die Rüge des Beschwerdeführers ist somit begründet und es kann
offenbleiben, wie es sich mit den geltend gemachten Verfahrensfehlern, die der
Beschwerdegegner begangen haben soll, verhält.

3. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid aufgehoben. Das
Ausstandsgesuch gegen Staatsanwalt D.________ wird gutgeheissen (vgl. Art. 107
Abs. 2 BGG).
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG).
Der Kanton Aargau hat den obsiegenden Beschwerdeführer für das
bundesgerichtliche und das vorinstanzliche Verfahren angemessen zu entschädigen
(Art. 68 Abs. 2 und 5 BGG).

 

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid vom 27. Februar 2017 des
Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, wird
aufgehoben. Der Beschwerdegegner hat in den Ausstand zu treten.

2. 
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das kantonale Verfahren eine
Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.

3. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

4. 
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren
eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau
und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 15. Juni 2017

Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Merkli

Der Gerichtsschreiber: Dold

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