Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

II. Sozialrechtliche Abteilung, Revision 9F.8/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
9F_8/2016

Urteil vom 20. Dezember 2016

II. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Procap für Menschen mit Handicap,
Gesuchstellerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Gesuchsgegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Revisionsgesuch gegen das Urteil
des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_49/2008
vom 28. Juli 2008.

Sachverhalt:

A.

A.a. Die 1977 geborene A.________, seit 6. Februar 2004 Mutter von Zwillingen,
meldete sich im Oktober 2003 wegen lumbaler Rückenbeschwerden zum Bezug von
Leistungen der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
prüfte die medizinischen und die erwerblichen Verhältnisse. Im Rahmen der
Invaliditätsbemessung ging sie davon aus, dass A.________ (hypothetisch) ohne
Gesundheitsschaden bis zur Geburt ihrer Kinder einer Erwerbstätigkeit zu einem
Pensum von 100 % nachgegangen wäre und ab 1. Juni 2004 ein erwerbliches Pensum
von 50 % innehätte und daneben im Haushalt beschäftigt wäre. Unter
Zugrundelegung einer Arbeitsfähigkeit von 50 % ermittelte sie gestützt auf
einen Einkommensvergleich für die Zeit vom 1. Juni 2003 (Ablauf der einjährigen
Wartezeit) bis 31. August 2004 einen Invaliditätsgrad von 50 %. Für die Zeit
danach brachte sie die gemischte Bemessungsmethode zur Anwendung, aus welcher
sich ein Invaliditätsgrad von 22 % ergab (bei einer je hälftigen Gewichtung der
erwerblichen Einschränkung von 0 % [Teilinvaliditätsgrad von 0 %] und der
Einschränkung in der Haushalttätigkeit von 44 % [Teilinvaliditätsgrad von 22
%]). Mit Verfügungen vom 26. Mai 2006 sprach die IV-Stelle der Versicherten
demgemäss vom 1. Juni 2003 bis 31. August 2004 eine halbe Invalidenrente nebst
Zusatzrente für den Ehemann und Kinderrenten (ab 1. Februar 2004) zu. Sie
verneinte einen Rentenanspruch für die Zeit ab 1. September 2004.
Auf Einsprache der A.________ anerkannte die IV-Stelle im erwerblichen Bereich
eine Einschränkung von 10 % (gewichtet: 5 %), was unverändert zu einem nicht
rentenbegründenden Invaliditätsgrad von nun 27 statt 22 % führte.
Dementsprechend lehnte sie die von der Versicherten erhobene Einsprache ab
(Entscheid vom 14. Juli 2006).

A.b. Die von A.________ gegen die Befristung des Rentenanspruches eingereichte
Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid
vom 30. November 2007 im Sinne der Erwägungen teilweise gut. Es hob den
Einspracheentscheid auf und wies die Sache zu weiterer Abklärung und neuer
Verfügung an die Verwaltung zurück.

A.c. Die IV-Stelle erhob Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
und beantragte die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und die
Bestätigung ihres Einspracheentscheides. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde
mit Urteil 9C_49/2008 vom 28. Juli 2008 gut und hob den kantonalen Entscheid
vom 30. November 2007 auf.

B.

B.a. Am 3. Februar 2009 liess A.________ gegen das Urteil des Bundesgerichts
vom 28. Juli 2008 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
(nachfolgend: EGMR) Beschwerde nach Art. 34 EMRK wegen Verletzung von Art. 6, 8
und 14 EMRK einreichen (Verfahren 7186/09). Dabei machte sie im Wesentlichen
geltend, sie werde durch die Anwendung der gemischten Methode der
Invaliditätsbemessung in zweifacher Hinsicht - sowohl gegenüber einer nicht-
als auch gegenüber einer vollerwerbstätigen Person - benachteiligt: Als im
Gesundheitsfall hypothetisch Nichterwerbstätige hätte sie aufgrund eines
Invaliditätsgrades von 44 % Anspruch auf eine Viertelsrente und als
hypothetisch Vollerwerbstätige stünde ihr bei einem Invaliditätsgrad von 55 %
eine halbe Invalidenrente zu. Die gemischte Methode führe im Ergebnis zu einer
Benachteiligung teilerwerbstätiger Behinderter wegen ihrer Erwerbstätigkeit.
Des Weitern werde sie aufgrund ihres Geschlechtes diskriminiert, da die Geburt
ihrer Kinder den Anlass zur Anwendung der gemischten Methode gegeben habe.

B.b. Mit Urteil vom 2. Februar 2016 trat der EGMR auf die Beschwerde ein,
soweit sie sich nicht auf Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) stützte
(Dispositiv-Ziffern 1 und 2). Er stellte mit vier zu drei Stimmen fest, dass
die Bestimmung des Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8
EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verletzt worden ist
(Dispositiv-Ziffer 3). Weiter lehnte er es mit dem gleichen Stimmenverhältnis
ab, zusätzlich eine Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 6 EMRK oder
eine eigenständige Verletzung des Art. 8 EMRK ("pris isolément") zu prüfen
(Dispositiv-Ziffern 4 und 5). Der Versicherten wurde eine Entschädigung von
5'000 Euro als Genugtuung und 24'000 Euro als Ersatz für ihre Kosten
zugesprochen (Dispositiv-Ziffer 6). Eine darüber hinaus gehende Entschädigung
an die Versicherte lehnte der Gerichtshof einstimmig ab (Dispositiv-Ziffer 7).

B.c. Die Schweiz beantragte am 29. April 2016 die Verweisung an die Grosse
Kammer, was deren Ausschuss am 4. Juli 2016 ablehnte.

C. 
Mit Eingabe vom 8. September 2016 lässt A.________ beim Bundesgericht ein
Revisionsgesuch stellen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihr - gestützt auf die
vorgeschlagene angepasste gemischte Methode - rückwirkend ab 1. September 2004
mindestens eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zuzusprechen. Ausserdem
stellt sie - in Bezug auf das vorliegende Revisionsverfahren - Antrag auf
unentgeltliche Rechtspflege.
Die IV-Stelle verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) beantragt, das Revisionsgesuch sei in dem Sinne
gutzuheissen, als der Gesuchstellerin auch für die Zeit nach dem 1. September
2004 weiterhin eine halbe Rente auszurichten sei. Das Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen schliesst auf Gutheissung des Revisionsgesuchs. Der
Versicherten seien die gesetzlichen Rentenleistungen zuzusprechen. Eventualiter
habe das Bundesgericht ein Gerichtsgutachten einzuholen und danach über den
Rentenanspruch der Versicherten zu befinden.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Gesuchstellerin beruft sich auf den Revisionsgrund gemäss Art. 122
BGG. Danach kann die Revision eines Entscheids des Bundesgerichts verlangt
werden, wenn der EGMR in einem endgültigen Urteil festgestellt hat, dass die
EMRK oder die Protokolle dazu verletzt worden sind (lit. a), eine Entschädigung
nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen (lit. b), und die
Revision notwendig ist, um die Verletzung zu beseitigen (lit. c; vgl. BGE 136 I
158 E. 2.1 S. 163 f. mit Hinweisen). Das Gesuch ist beim Bundesgericht innert
90 Tagen einzureichen, nachdem das Urteil des EGMR gemäss Art. 44 EMRK
endgültig geworden ist (Art. 124 Abs. 1 lit. c BGG). Findet das Bundesgericht,
dass der Revisionsgrund zutrifft, so hebt es den früheren Entscheid auf und
entscheidet neu (Art. 128 Abs. 1 BGG).

1.2. Das die Gesuchstellerin betreffende Urteil vom 2. Februar 2016 ist mit der
am 4. Juli 2016 erfolgten Ablehnung des Antrages der Schweiz auf Verweisung an
die Grosse Kammer endgültig geworden (Art. 42 und Art. 44 Abs. 2 lit. c EMRK).
Mit der Einreichung des Revisionsgesuchs am 8. September 2016 ist die 90-tägige
Frist gewahrt. Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf
das Revisionsgesuch einzutreten. Es ist somit zu prüfen, ob die Revision nach
den Voraussetzungen der lit. a-c von Art. 122 BGG, die kumulativ erfüllt sein
müssen, zulässig ist.

2.

2.1. Gemäss Art. 122 lit. a BGG ist für eine Revision zunächst erforderlich,
dass der EGMR in einem endgültigen Urteil eine Verletzung der EMRK oder der
Protokolle dazu festgestellt hat.
In seinem Urteil vom 2. Februar 2016 (Dispositiv-Ziffer 3) hat der EGMR eine
Verletzung der Bestimmung des Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung
mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens)
festgestellt. Das Urteil ist am 4. Juli 2016 endgültig geworden (Art. 42 und 44
Abs. 2 lit. c EMRK). Die Voraussetzung des Art. 122 lit. a BGG ist damit
erfüllt.

2.2. Eine Revision wegen Verletzung der EMRK setzt nach Art. 122 lit. b BGG
weiter voraus, dass eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der
Verletzung auszugleichen.
Nach der Rechtsprechung (BGE 137 I 86 E. 3.2.2 S. 90 mit Hinweisen) besteht für
die Revision eines bundesgerichtlichen Urteils kein Anlass mehr, wenn der EGMR
eine die Folgen der Konventionsverletzung ausgleichende Entschädigung
gesprochen hat. Möglich bleibt die Revision nur insoweit, als sie geeignet und
erforderlich ist, um über die finanzielle Abgeltung hinaus fortbestehende,
konkrete nachteilige Auswirkungen der Konventionsverletzung im Rahmen des
ursprünglichen Verfahrens zu beseitigen. Stehen materielle Interessen zur
Diskussion, bezüglich welcher die Konventionsverletzung zwar mit einer
Entschädigung grundsätzlich vollständig gutgemacht werden könnte, hat der EGMR
aber eine Entschädigung abgelehnt, weil ein Schaden fehlt, oder hat er sich
mangels eines entsprechenden Begehrens über das Vorliegen eines Schadens nicht
ausgesprochen, so kommt die Revision durch das Bundesgericht nicht mehr in
Frage.
Gemäss Dispositiv-Ziffer 6 des Urteils vom 2. Februar 2016 steht der
Versicherten eine Genugtuung von 5'000 Euro und eine Parteientschädigung von
24'000 Euro zu. Den von ihr geforderten Ersatz des als materieller Schaden
geltend gemachten "Rentenverlusts" in der Höhe von Fr. 88'135.- (etwa 85'818
Euro [Urteil Ziff. 116]) für die Zeit vom 1. September 2004 bis 31. März 2011
hat der EGMR nicht zugesprochen, weil die Versicherte selber angegeben hatte,
dass ihr dieser materielle Schaden im Rahmen ihres gestützt auf Art. 122 BGG
einzureichenden Gesuches um Revision des Urteils vom 28. Juli 2008 ersetzt
werden könne (Ziff. 120).
Hat der EGMR der Gesuchstellerin demnach keine die Folgen der
Konventionsverletzung ausgleichende Entschädigung zuerkannt, steht die
Voraussetzung des Art. 122 lit. b BGG einer Revision nicht entgegen.

2.3. Schliesslich setzt eine Revision wegen Verletzung der EMRK nach Art. 122
lit. c BGG voraus, dass die Revision notwendig ist, um die Verletzung zu
beseitigen. Dies ist der Fall, wenn das Verfahren vor Bundesgericht ohne
Konventionsverletzung einen anderen Verlauf genommen hätte oder hätte nehmen
können und somit nachteilige Auswirkungen der Konventionsverletzung
fortbestehen (BGE 142 I 42 E. 2.3 S. 47 f.; 137 I 86 E. 3.2.3 S. 91 und E.
7.3.1 S. 97).
Es steht fest, dass das Verfahren vor Bundesgericht, wenn die gemischte Methode
nicht in der vom EGMR im Urteil vom 2. Februar 2016 beanstandeten Weise
angewendet worden wäre, einen anderen Verlauf genommen hätte. Der in der
Beschwerde an den EGMR als materieller Schaden geltend gemachte "Rentenverlust"
bleibt als konkrete nachteilige Auswirkung der Konventionsverletzung bestehen,
wenn und solange der Invaliditätsgrad der Gesuchstellerin nach dieser Methode
ermittelt wird. Da die Revision in diesem Sinne notwendig ist, um die
Verletzung zu beseitigen, ist auch die Voraussetzung des Art. 122 lit. c BGG
erfüllt.

2.4. Das Verfahren, das zum Urteil vom 28. Juli 2008 geführt hat, ist demnach
wieder aufzunehmen, und die Rechtslage so zu beurteilen, wie dies ohne die
EMRK-Verletzung geschehen wäre (Art. 128 Abs. 1 BGG; BGE 136 I 158 E. 3 S.
164).

3. 
Im Urteil vom 2. Februar 2016 wird die (von der Mehrheit bejahte)
Konventionsverletzung (Art. 14 [Diskriminierungsverbot] in Verbindung mit Art.
8 EMRK [Achtung des Privat- und Familienlebens]) wie folgt begründet (zur
abweichenden Minderheitsauffassung: E. 3.6 nachfolgend) :

3.1. Vorab rief der EGMR in Erinnerung, dass es sich bei Art. 14 EMRK nicht um
ein selbständiges Diskriminierungsverbot handle und die Konventionsstaaten nur
verpflichtet seien, die in der EMRK garantierten Rechte diskriminierungsfrei zu
gewähren. Die Anwendung des Art. 14 EMRK setze indessen nicht voraus, dass ein
EMRK-Recht substanziell verletzt sei; es genüge vielmehr, wenn der zu
beurteilende Fall in den Schutzbereich eines EMRK-Rechts falle (Ziff. 58).
Andererseits lasse sich aus der EMRK kein Anspruch auf eine (bestimmte)
Sozialleistung ableiten (Ziff. 59). Der Begriff "Familienleben" im Sinne von
Art. 8 EMRK umfasse aber nicht nur soziale, moralische oder kulturelle, sondern
auch wirtschaftliche Aspekte (Ziff. 60). Massnahmen, die einen Einfluss auf die
innerfamiliäre Organisation hätten - indem sie einem Elternteil erlaubten, zu
Hause zu bleiben und sich um die Kinder zu kümmern - fielen ebenfalls in den
Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK (Ziff. 61). In der zu beurteilenden
Streitigkeit sei auch das in Art. 8 EMRK ebenfalls aufgeführte, im Sinne einer
weiten Begriffsumschreibung zu verstehende "Privatleben" betroffen; die
Anwendung der gemischten Methode könne Fragen der Lebensgestaltung hinsichtlich
Erwerbs- und Familienleben beeinflussen (Ziff. 63 f.). Da die gemischte Methode
in der überwiegenden Mehrheit auf Frauen angewendet werde, die nach der Geburt
eines oder mehrerer Kinder ihren Beschäftigungsgrad reduzieren wollten, könne
die Versicherte zu Recht behaupten, Opfer einer Diskriminierung aufgrund des
Geschlechts im Sinne von Art. 14 EMRK geworden zu sein (Ziff. 66). Bei dieser
Sachlage erübrige es sich, eine Ungleichbehandlung auch aufgrund der
Behinderung zu prüfen (Ziff. 67). Die Bestimmung des Art. 14 in Verbindung mit
Art. 8 EMRK sei vorliegend anwendbar (Ziff. 68).

3.2. Nach der Rechtsprechung liege eine indirekte Diskriminierung vor, wenn die
nachteiligen Auswirkungen einer staatlichen Massnahme überproportional eine vor
Diskriminierung geschützte Gruppe treffe (Ziff. 80 am Ende). Die
Mitgliedstaaten hätten zwar einen gewissen Ermessensspielraum zu bestimmen, ob
und inwiefern sich unterschiedliche Behandlungen rechtfertigten (Ziff. 81).
Allerdings sei die Geschlechtergleichheit in den Mitgliedstaaten des
Europarates ein wichtiges Ziel und eine Ungleichbehandlung aufgrund des
Geschlechts nur in sehr engen Grenzen zulässig. Namentlich genüge eine
Bezugnahme auf Traditionen oder allgemeine gesellschaftliche Vorstellungen
hierfür nicht (Ziff. 82). Bewiesen werden könne eine indirekte Diskriminierung
auch unter Berufung auf offizielle Statistiken (Ziff. 86).

3.3. Gemäss der von der schweizerischen Regierung zur Verfügung gestellten
Statistik sei die gemischte Methode im Jahr 2009 in etwa 7.5 % aller
IV-Rentenentscheide (in 4168 Fällen im Jahr 2009) angewendet worden. Davon
hätten 97 % (4045) Frauen und nur 3 % (123) Männer betroffen (Ziff. 88). In
seinen Urteilen vom 28. Juli 2008 (9C_49/2008) und vom 8. Juli 2011 (BGE 137 V
334) habe im Übrigen auch das Bundesgericht anerkannt, dass die gemischte
Methode hauptsächlich auf Frauen, welche nach der Geburt eines Kindes ihr
erwerbliches Pensum reduzierten, Anwendung finde. Dies bestreite auch die
schweizerische Regierung nicht. Im Übrigen habe auch der Bundesrat in seinem
Bericht vom 1. Juli 2015 (in Erfüllung des Postulates Jans [12.3960
"Schlechterstellung von Teilerwerbstätigen in der Invalidenversicherung"] vom
28. September 2012) angegeben, dass die gemischte Methode zu 98 % auf Frauen
angewendet werde (bei den im Jahr 2013 berechneten Renten [Ziff. 89]).

3.4. Die schweizerische Regierung bemühe sich, die aus der streitigen Regelung
resultierende Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, dies unter Berufung auf Sinn
und Zweck der Invalidenversicherung, welcher darin bestehe, Ersatz für den
versicherten gesundheitsbedingten Erwerbsausfall und/oder die
gesundheitsbedingte Leistungseinbusse im bisherigen Aufgabenbereich zu bieten
(Ziff. 92). Der Gerichtshof anerkannte, dass der vom Gesetz über die
Invalidenversicherung verfolgte Zweck Ungleichbehandlungen grundsätzlich
rechtfertigen könne (Ziff. 93).

3.5. Dieser Zweck sei nun aber vor dem Hintergrund der Gleichstellung von Frau
und Mann zu beurteilen. Unter diesem Blickwinkel könne eine Ungleichbehandlung
nur bei sehr gewichtigen Überlegungen als konventionskonform betrachtet werden;
insofern bestehe vorliegend ein sehr eingeschränkter Ermessensspielraum ("La
Cour en conclut que la marge d'appréciation des autorités était fortement
réduite en l'espèce."; Ziff. 96). Es sei zwar in erster Linie Sache der
nationalen Behörden, insbesondere der gerichtlichen Instanzen, das interne
Recht auszulegen und anzuwenden. Im zu beurteilenden Fall sei es aber
wahrscheinlich, dass die Versicherte, wäre sie (hypothetisch) vollerwerbstätig
gewesen oder hätte sie sich ausschliesslich um den häuslichen Aufgabenbereich
gekümmert, eine Teilrente erhalten hätte. Im Übrigen sei ihr anfänglich,
nachdem sie vollerwerbstätig gewesen war, eine solche zugesprochen worden, dies
bis zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder. Daraus ergebe sich klar, dass ein
Rentenanspruch verneint worden sei, weil die Versicherte angegeben hatte, sie
hätte ihre Erwerbstätigkeit einschränken wollen, um sich um den Haushalt und
die Kinder zu kümmern. Für die Mehrheit der Frauen, die nach der Geburt ihrer
Kinder teilzeitlich erwerbstätig sein möchten, erweise sich die gemischte
Methode damit faktisch als diskriminierend (Ziff. 97). Die gemischte Methode
stehe denn auch seit längerer Zeit in der Kritik (Ziff. 98). Auch der Bundesrat
habe in seinem Bericht vom 1. Juli 2015 anerkannt, dass sie zu tieferen
Invaliditätsgraden führen könne und sich die Frage einer indirekten
Diskriminierung stelle (Ziff. 100). Die von der Regierung vorgebrachten
Argumente vermöchten die aus der Anwendung der gemischten Methode resultierende
Ungleichbehandlung nicht zu rechtfertigen (Ziff. 103 f.).

3.6. In ihrer "opinion dissidente" erklärte die unterliegende
Gerichtsminderheit, die Rügen der Versicherten fielen nicht in den
Schutzbereich von Art. 8 EMRK. Es fehle an einem hinreichenden Zusammenhang mit
dem Privat- und Familienleben. Die Vorbringen der Versicherten seien in erster
Linie vermögensrechtlicher Natur und fielen somit unter die Eigentumsgarantie
des ersten Zusatzprotokolls vom 20. März 1952 zur EMRK, welches die Schweiz
allerdings nicht ratifiziert habe.

4.

4.1. Das Urteil des EGMR vom 2. Februar 2016 betrifft eine versicherte Person,
welche unter dem Status einer Vollerwerbstätigen eine Invalidenrente
beanspruchen konnte und diesen Anspruch zu einem späteren Zeitpunkt allein
aufgrund des Umstandes  verliert, dass sie wegen der Geburt ihrer Kinder und
der damit einhergehenden Reduktion des Erwerbspensums für die
Invaliditätsbemessung neu als Teilerwerbstätige mit einem Aufgabenbereich
qualifiziert wird. Denn diese als Revisionsgrund geltende Statusänderung
(Urteil 8C_441/2012 vom 25. Juli 2013 E. 3.1.1, in: SVR 2013 IV Nr. 44 S. 134;
MEYER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 3. Aufl.
2014, Rz. 27 zu Art. 30-31 IVG) hat zur Folge, dass der Invaliditätsgrad nicht
mehr anhand eines (auf Vollerwerbstätige anwendbaren) Einkommensvergleichs im
Sinne von Art. 28a Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG ermittelt wird,
sondern nach der (auf Teilerwerbstätige mit einem Aufgabenbereich anwendbaren)
gemischten Methode im Sinne von Art. 28a Abs. 3 IVG, was im Falle der am Recht
stehenden Versicherten zur revisionsweisen  Aufhebung der Invalidenrente bzw.
zur Befristung der rückwirkend zugesprochenen Rente führt (BGE 131 V 164 und
125 V 413 E. 2d S. 417 f.; MEYER/REICHMUTH, a.a.O., Rz. 11 und 19 zu Art. 30-31
IVG).
Als Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK ist demnach zu
betrachten, wenn die von der versicherten Person getroffenen, in den
Schutzbereich des Art. 8 EMRK fallenden Dispositionen - die Geburt von Kindern
und die damit (hypothetisch) verbundene teilweise Aufgabe der Erwerbstätigkeit
- die einzige Grundlage des Statuswechsels bilden und aus der Änderung der
Invaliditätsbemessungsmethode (Anwendbarkeit der gemischten statt der
Einkommensvergleichsmethode) die revisionsweise Aufhebung der Invalidenrente
(bzw. die Befristung der rückwirkend zugesprochenen Rente) resultiert.

4.2. Zur Herstellung des konventionskonformen Zustandes ist in der in E. 4.1
beschriebenen Konstellation auf die Aufhebung der Invalidenrente im Sinne von
Art. 17 Abs. 1 ATSG alleine zufolge eines Statuswechsels von "vollerwerbstätig"
zu "teilerwerbstätig mit Aufgabenbereich" zu verzichten. In  diesem Fall ist
die Aufhebung der Invalidenrente EMRK-widrig. Für die Gesuchstellerin bedeutet
dies, dass sie über den 31. August 2004 hinaus unverändert Anspruch auf eine
halbe Rente der Invalidenversicherung hat; Sachverhalt (vgl. lit. A.a) und
geltende Rechtslage belassen keinen Spielraum.

4.3. Diese Erwägungen führen zur Gutheissung des Revisionsgesuches der
Versicherten vom 8. September 2016 und zur Aufhebung von Dispositiv-Ziffer 1
des Urteils des Bundesgerichts 9C_49/2008 vom 28. Juli 2008, mit welcher die
damalige (mit dem Antrag auf Bestätigung des Einspracheentscheides
eingereichte) Beschwerde der IV-Stelle gutgeheissen und der Entscheid des
Versicherungsgerichtes des Kantons St. Gallen vom 30. November 2007 aufgehoben
wurde, so dass es bei der Verneinung eines Rentenanspruchs der Versicherten für
die Zeit ab 1. September 2004 blieb (mit Einspracheentscheid vom 14. Juli 2006
bestätigte Verfügungen vom 26. Mai 2006). Die damalige Beschwerde der IV-Stelle
ist abzuweisen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St.
Gallen vom 30. November 2007 insoweit abzuändern, als die Rückweisung an die
IV-Stelle aufgehoben und festgestellt wird, dass die Versicherte über den 31.
August 2004 hinaus Anspruch auf eine halbe Rente der Invalidenversicherung hat.
Das Bundesgericht geht damit nicht über das Begehren der Gesuchstellerin hinaus
(vgl. Art. 107 Abs. 1 BGG). Abgesehen davon, dass ihr Hauptantrag im
Revisionsgesuch - wie bereits ihr Antrag im Einspracheverfahren - auf
Zusprechung  mindestenseiner IV-Viertelsrente lautet, beruht er auf einer
rechtlichen Begründung, die von der geltenden Rechtslage abweicht und das
Bundesgericht nicht bindet. Dazu kommt, dass es der Versicherten aus
prozessualen Gründen nicht möglich war, den kantonalen Entscheid vom 30.
November 2007 anzufechten. Ob und inwieweit die gemischte Bemessungsmethode als
solche rechtlich neu zu ordnen ist, ist nicht im vorliegenden Verfahren zu
beantworten. Weiterungen zu den diesbezüglichen Ausführungen der
Gesuchstellerin erübrigen sich daher.

4.4. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass das EGMR-Urteil vom 2. Februar 2016
unter der geltenden Rechtslage nichts daran ändert, dass die gemischte Methode
in Fällen, welche ausserhalb der in E. 4.1 beschriebenen Konstellation (vgl.
IV-Rundschreiben Nr. 355 des BSV vom 31. Oktober 2016) weiterhin Anwendung
finden kann. Zu denken ist beispielsweise an eine versicherte Person, deren
Statusfestsetzung als Teilerwerbstätige mit einem Aufgabenbereich nicht
familiär bedingt ist (Urteile 9C_179/2016 vom 11. August 2016 E. 5 und 9C_650/
2015 vom 11. August 2016 E. 5.5), oder an die erstmalige Rentenzusprache an
eine während des ganzen massgebenden Beurteilungszeitraums als teilerwerbstätig
mit Aufgabenbereich zu qualifizierende versicherte Person (in diesem Sinne auch
Urteil 8C_633/2015 vom 12. Februar 2016 E. 4.3).

5. 
Der EGMR hat der Gesuchstellerin im Verfahren, das zum Urteil vom 2. Februar
2016 geführt hat, die ihr vor den nationalen Instanzen in der Schweiz
entstandenen Kosten in dem von ihm unter den gegebenen Umständen für angemessen
gehaltenen Umfang bereits ersetzen lassen (Dispositiv-Ziffer 6 und Ziff.
123-125 des Urteils vom 2. Februar 2016). Insoweit erübrigt sich eine Revision
des Bundesgerichtsurteils vom 28. Juli 2008 in Bezug auf die Dispositiv-Ziffern
2 bis 5, welche Kosten- und Entschädigungsfragen betreffen.

6. 
Bei diesem Verfahrensausgang gehen die Gerichtskosten für das
Revisionsverfahren zu Lasten der Gesuchsgegnerin (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese
hat die Gesuchstellerin zudem angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Das Revisionsgesuch wird gutgeheissen und Dispositiv-Ziffer 1 des Urteils 9C_49
/2008 vom 28. Juli 2008 wird aufgehoben. Das Verfahren wird neu wie folgt
entschieden:

"1. Die Beschwerde wird abgewiesen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 30. November 2007 wird insoweit abgeändert, als die
Rückweisung an die Verwaltung aufgehoben und festgestellt wird, dass die
Beschwerdegegnerin über den 31. August 2004 hinaus Anspruch auf eine halbe
Rente der Invalidenversicherung hat."

2. 
Die Gerichtskosten des Revisionsverfahrens in Höhe von Fr. 500.- werden der
Gesuchsgegnerin auferlegt.

3. 
Die Gesuchsgegnerin hat der Gesuchstellerin im Revisionsverfahren eine
Parteientschädigung von Fr. 2'800.- zu bezahlen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und dem Bundesamt für Justiz
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 20. Dezember 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Die Präsidentin: Glanzmann

Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann

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