Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.86/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     

{T 0/2}            
8C_86/2016

Urteil vom 6. Juli 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO),
Direktion, Arbeitsmarkt/Arbeitslosenversicherung, TCRV, Holzikofenweg 36, 3003
Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Silvia Bucher,
Beschwerdegegner,

Unia Arbeitslosenkasse,
Strassburgstrasse 11, 8004 Zürich.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 10. Dezember 2015.

Sachverhalt:

A. 
Der 1962 geborene A.________ war seit 1. Oktober 2003 als Lagerist bei der
B.________ AG tätig. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis aus
gesundheitlichen Gründen auf den 31. Oktober 2014. Der Versicherte meldete sich
am 28. August 2014 bei der Arbeitslosenversicherung zum Leistungsbezug ab 1.
November 2014 an. Die Unia Arbeitslosenkasse leistete Taggelder auf der
Grundlage eines versicherten Verdienstes von Fr. 6'549.- und eines
beabsichtigten Beschäftigungsgrades von 100 %. Die IV-Stelle des Kantons Zürich
stellte A.________ mit Vorbescheid vom 6. Februar 2015 ab 1. Oktober 2014 bei
einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze sowie ab 1. März 2015 bei einem
solchen von 58 % eine halbe Invalidenrente in Aussicht und verneinte ab 1.
April 2015 bei einem Invaliditätsgrad von 36 % einen Rentenanspruch. Hierauf
teilte ihm die Arbeitslosenkasse mit Schreiben vom 5. März 2015 mit, dass der
versicherte Verdienst an den von der Invalidenversicherung festgesetzten
Invaliditätsgrad anzupassen sei. Damit habe er bis Ende Februar 2015 keinen
Anspruch auf Arbeitslosentaggelder mehr; ab März 2015 bestehe ein
Leistungsanspruch bei einem 42%igen "Vermittlungsgrad" und einem versicherten
Verdienst von Fr. 2'751.- sowie ab April 2015 bei einem "Vermittlungsgrad" von
64 % und einem versicherten Verdienst von Fr. 4'191.-. Eine Rückforderung oder
eine Verrechnung von Leistungen werde nach Erhalt des Verrechnungsantrages der
Invalidenversicherung geprüft. Dies bestätigte die Arbeitslosenkasse mit
Verfügung vom 23. März 2015 und Einspracheentscheid vom 12. Juni 2015.

B. 
Die dagegen geführte Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich mit Entscheid vom 10. Dezember 2015 gut und bejahte in der
Hauptsache einen einstweiligen Anspruch des Versicherten auf
Arbeitslosenentschädigung über den 31. Januar 2015 hinaus auf der Basis eines
ungekürzten versicherten Verdienstes in der Höhe von Fr. 6'549.-.

C. 
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) führt Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, in teilweiser Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheides sei der Einspracheentscheid der Unia
Arbeitslosenkasse vollumfänglich zu bestätigen.
Die Unia Arbeitslosenkasse schliesst auf Gutheissung der Beschwerde, A.________
lässt deren Abweisung beantragen und um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen.

Erwägungen:

1. 
Die Legitimation des SECO zur Einreichung der Beschwerde ergibt sich aus Art.
89 Abs. 2 lit. a BGG in Verbindung mit Art. 102 Abs. 2 AVIG. Die übrigen
Voraussetzungen für das Eintreten auf die Beschwerde sind ebenfalls erfüllt.

2. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 und 96 BGG geltend
gemacht werden. Das Bundesgericht wendet das Recht grundsätzlich von Amtes
wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Trotzdem obliegt es dem Beschwerdeführer, sich
in seiner Beschwerde sachbezogen mit den Darlegungen im angefochtenen Entscheid
auseinanderzusetzen (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG). Das Bundesgericht prüft unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht - vorbehältlich
offensichtlicher Fehler - nur die in seinem Verfahren geltend gemachten
Rechtswidrigkeiten (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). Es ist jedenfalls nicht
gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen
Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen
werden (BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389; siehe auch BGE 134 III 102 E. 1.1 S.
104). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

3.

3.1. Die versicherte Person hat gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG in Verbindung
mit Art. 15 Abs. 1 AVIG Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, wenn sie
vermittlungsfähig ist, d. h., wenn sie bereit, in der Lage und berechtigt ist,
eine zumutbare Arbeit anzunehmen und an Eingliederungsmassnahmen teilzunehmen.
Der Begriff der Vermittlungsfähigkeit als Anspruchsvoraussetzung schliesst
graduelle Abstufungen aus. Nach Art. 15 Abs. 2 Satz 1 AVIG gilt der körperlich
oder geistig Behinderte als vermittlungsfähig, wenn ihm bei ausgeglichener
Arbeitsmarktlage, unter Berücksichtigung seiner Behinderung, auf dem
Arbeitsmarkt eine zumutbare Arbeit vermittelt werden könnte. Die Kompetenz zur
Regelung der Koordination mit der Invalidenversicherung ist in Art. 15 Abs. 2
Satz 2 AVIG dem Bundesrat übertragen worden. Dieser hat in Art. 15 Abs. 3 AVIV
festgelegt, dass ein Behinderter, der unter der Annahme einer ausgeglichenen
Arbeitsmarktlage nicht offensichtlich vermittlungsunfähig ist, und der sich bei
der Invalidenversicherung (oder einer anderen Versicherung nach Art. 15 Abs. 2
AVIV) angemeldet hat, bis zum Entscheid der anderen Versicherung als
vermittlungsfähig gilt. In diesem Sinn sieht Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG vor,
dass die Arbeitslosenversicherung für Leistungen, deren Übernahme durch die
Arbeitslosenversicherung, die Krankenversicherung, die Unfallversicherung oder
die Invalidenversicherung umstritten ist, vorleistungspflichtig ist.

3.2. Aufgrund dieser Bestimmungen hat die Arbeitslosenversicherung arbeitslose,
bei einer anderen Versicherung angemeldete Personen zu entschädigen, falls ihre
Vermittlungsunfähigkeit nicht offensichtlich ist. Dieser Anspruch auf eine
ungekürzte Arbeitslosenentschädigung besteht namentlich, wenn die ganz
arbeitslose Person aus gesundheitlichen Gründen lediglich noch teilzeitlich
arbeiten könnte, solange sie im Umfang der ihr ärztlicherseits attestierten
Arbeitsfähigkeit eine Beschäftigung sucht und bereit ist, eine neue Anstellung
mit entsprechendem Pensum anzutreten (BGE 136 V 95 E. 7.1 S. 101). Die
Vermutungsregel der grundsätzlich gegebenen Vermittlungsfähigkeit von
Behinderten (Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG und Art. 15 Abs. 2 AVIG in Verbindung
mit Art. 15 Abs. 3 AVIV) gilt lediglich für die Zeit, in welcher der Anspruch
auf Leistungen einer anderen Versicherung abgeklärt wird und somit noch nicht
feststeht. Damit sollen Lücken im Erwerbsersatz vermieden werden. Die
Vorleistungspflicht ist daher auf die Dauer des Schwebezustandes begrenzt,
weshalb sie endet, sobald das Ausmass der Erwerbsunfähigkeit feststeht (vgl.
BGE 136 V 195 E. 7.4 S. 205; ARV 2011 S. 55, 8C_651/2009).

3.3.

3.3.1. Nebst der Frage der Vermittlungsfähigkeit stellt sich in diesem
Zusammenhang auch die Frage nach der Leistungshöhe der Arbeitslosenversicherung
und damit nach dem versicherten Verdienst. Bei Versicherten, die unmittelbar
vor oder während der Arbeitslosigkeit eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung
ihrer Erwerbsfähigkeit erleiden, ist gemäss Art. 40b AVIV der Verdienst
massgebend, welcher der verbleibenden Erwerbsfähigkeit entspricht.

3.3.2. Die ratio legis des Art. 40b AVIV besteht darin, über die Korrektur des
versicherten Verdienstes die Koordination zur Eidgenössischen
Invalidenversicherung zu bewerkstelligen, um eine Überentschädigung durch das
Zusammenfallen einer Invalidenrente mit Arbeitslosentaggeldern zu verhindern (
BGE 140 V 89 E. 3 S. 90 f. mit Hinweis). Art. 40b AVIV betrifft allerdings, wie
in BGE 133 V 524 präzisiert wurde, nicht allein die Leistungskoordination
zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung, sondern - in allgemeinerer
Weise - die Abgrenzung der Zuständigkeit der Arbeitslosenversicherung gegenüber
anderen Versicherungsträgern nach Massgabe der Erwerbsfähigkeit. Nach Sinn und
Zweck der Verordnungsbestimmung soll die Leistungspflicht der
Arbeitslosenversicherung auf einen Umfang beschränkt werden, welcher sich nach
der verbleibenden Erwerbsfähigkeit der versicherten Person während der Dauer
der Arbeitslosigkeit auszurichten hat. Da die Arbeitslosenversicherung nur für
den Lohnausfall einzustehen hat, welcher sich aus der Arbeitslosigkeit ergibt,
kann für die Berechnung der Arbeitslosenentschädigung keine Rolle spielen, ob
ein anderer Versicherungsträger Invalidenleistungen erbringt. Durch das
Abstellen auf die verbleibende Erwerbsfähigkeit soll verhindert werden, dass
die Arbeitslosenentschädigung auf einem Verdienst ermittelt wird, den der
Versicherte nicht mehr erzielen könnte (BGE 140 V 89 E. 5.1 S. 91 f. mit
Hinweisen; SVR 2014 ALV Nr. 13 S. 40, 8C_824/2013 E. 3.2). Hinsichtlich der
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit ist der durch die Invalidenversicherung
ermittelte Invaliditätsgrad massgeblich (ARV 2015 S. 165, 8C_746/2014 E. 3.3
mit Hinweis).

4.

4.1. Einig sind sich die Parteien darüber, dass eine Anpassung des versicherten
Verdienstes nach Massgabe von Art. 40b AVIV vorzunehmen ist. Streitig und zu
prüfen ist, ob trotz weiter bestehender Vorleistungspflicht der
Arbeitslosenversicherung der dem Taggeldanspruch zugrunde gelegte versicherte
Verdienst bereits gestützt auf den Vorbescheid der Invalidenversicherung an die
Resterwerbsfähigkeit anzupassen ist.

4.2. Die Vorinstanz erwog, aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gehe
nicht hervor, dass der Schwebezustand stets mit Erlass des
invalidenversicherungsrechtlichen Vorbescheides ende. Indem die IV-Stelle mit
Vorbescheid vom 6. Februar 2015 die Zusprache einer Rente angekündigt habe,
wogegen der Beschwerdegegner am 30. April 2015 Einwände erhoben und u.a. die
Einholung eines psychiatrischen Gutachtens beantragt habe, sei im Zeitpunkt der
Verfügung vom 23. März 2015 und des Einspracheentscheides vom 12. Juni 2015
noch unklar gewesen, ob die Invalidenversicherung weitere Abklärungen tätige
oder nicht. Da das invalidenversicherungsrechtliche Verfahren damit im
Einsprachezeitpunkt noch nicht abgeschlossen gewesen sei - ähnlich wie im
Urteil SVR 2015 ALV Nr. 16 S. 47, 8C_403/2015 -, habe der Schwebezustand
angedauert. Dies gelte für den gesamten Umfang der Erwerbsunfähigkeit, da keine
Teilrechtskraft für die von der Invalidenversicherung im Vorbescheid anerkannte
Teilinvalidität gelte. Die seit Januar 2015 gültige Vorgabe des SECO
(AVIG-Praxis ALE, Rz. C29), wonach generell eine Anpassung des versicherten
Verdienstes bei Erlass des IV-Vorbescheides zu erfolgen habe, sei nicht
rechtsprechungskonform. Es bestehe deshalb ein Anspruch auf
Arbeitslosentaggelder auf der Basis eines ungekürzten versicherten Verdienstes
von Fr. 6'549.-.

4.3. Das Beschwerde führende SECO stellt sich dagegen auf den Standpunkt,
bereits aufgrund eines Vorbescheides der Invalidenversicherung habe eine
allfällige Anpassung des versicherten Verdienstes zu erfolgen, auch wenn der
Schwebezustand noch andauere. In Beachtung der höchstrichterlichen
Rechtsprechung, in Einklang mit Art. 40b AVIV sowie aus Gründen der
Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung habe es die für die Verwaltung
verbindlichen Vorgaben entsprechend angepasst. Die vorinstanzliche Beurteilung
verletze Bundesrecht und stehe in Widerspruch zum Normzweck von Art. 40b AVIV.
Die Möglichkeit, den versicherten Verdienst im Zeitpunkt des IV-Vorbescheides
entsprechend dem darin ermittelten Invaliditätsgrad anzupassen, müsse
grundsätzlich für alle Fälle gelten und nicht nur dort, wo bereits aufgrund
einer im Vorbescheid in Aussicht gestellten ganzen Invalidenrente bei einem
Invaliditätsgrad von 100 % die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung
ende (ARV 2014 S. 210, 8C_53/2014 E. 4.2). Mit dem Vorbescheid stehe das
Ausmass der Erwerbsunfähigkeit fest, was eine Anpassung des versicherten
Verdienstes rechtfertige. Die Dauer der Vorleistung falle daher grundsätzlich
nicht mit dem Zeitpunkt der Anpassung des versicherten Verdienstes zusammen. Es
sei nicht zu erwarten, dass die versicherte Person im
Invalidenversicherungsverfahren einen geringeren Invaliditätsgrad beantrage,
als ihr im Vorbescheid mitgeteilt worden sei. Auch im Sinne der
Rechtssicherheit dürfe der Zeitpunkt der Anpassung des versicherten Verdienstes
nicht derart unbestimmt bleiben, wie dies die Vorinstanz formuliert habe,
wonach "der Beschwerdeführer auch über den 31. Januar 2015 hinaus einstweilen
Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung aufgrund eines ungekürzten
versicherten Verdienstes von Fr. 6'549.- hat". In zeitlicher wie in masslicher
Hinsicht sei für die Anwendung von Art. 40b IVV der mit Vorbescheid im
Invalidenversicherungsverfahren festgesetzte Invaliditätsgrad massgebend.

4.4. Der Beschwerdegegner bringt dagegen vor, weder Rechtssicherheit noch
Rechtsgleichheit würden gebieten, dass die Anpassung des versicherten
Verdienstes nach Art. 40b AVIV bereits auf den Zeitpunkt des Erlasses des
IV-Vorbescheides vorzunehmen sei. Beiden Anliegen könne ebenso gut bei
Abstellen auf einen späteren Zeitpunkt entsprochen werden. Die Auffassung des
SECO, der versicherte Verdienst könne bereits in allen Fällen im Zeitpunkt des
Erlasses des Vorbescheides der Invalidenversicherung entsprechend dem
Invaliditätsgrad angepasst werden, widerspreche der Rechtsprechung des
Bundesgerichts. Ausser im Urteil 8C_212/2010 vom 31. Mai 2010 sei die
Kürzungsmöglichkeit des versicherten Verdienstes erst aufgrund einer Verfügung
und des darin festgestellten Erwerbsunfähigkeitsgrades und nicht bereits im
Rahmen des Vorbescheidverfahrens zugelassen worden. Die seit Januar 2015
geltende Fassung von Rz. C29 der AVIG-Praxis ALE des SECO verstosse daher gegen
Bundesrecht. Der Normzweck der Regelung über die Vorleistungspflicht und
derjenige der Anpassung des versicherten Verdienstes seien ausgewogen zu
gewichten. Der "Gesamtnormzweck" werde verfehlt, wenn der Zweck von Art. 40b
AVIV weitaus stärker gewichtet werde und eine Anpassung bereits auf den frühest
denkbaren Zeitpunkt, jenem des Erlasses des Vorbescheids, zugelassen werde.
Dass die Anpassung des versicherten Verdienstes nicht in jedem Fall bereits
anhand des Vorbescheides erfolgen dürfe, entspreche schliesslich dem vom SECO
geäusserten Anliegen der Praktikabilität mehr, da damit der versicherte
Verdienst einmal weniger angeglichen werden müsse, nämlich allenfalls nach
Erlass der Verfügung der IV-Stelle sowie nach rechtskräftiger Erledigung des
Invalidenversicherungsverfahrens und nicht auch noch nach Vorliegen des
Vorbscheids.

5.

5.1. In sachverhaltlicher Hinsicht steht fest, dass der Versicherte im
Invalidenversicherungsverfahren gegen den Vorbescheid vom 6. Februar 2015
Einwendungen erhob und unter anderem weitere medizinische Abklärungen in Form
einer neuen fachärztlichen Begutachtung beantragte. Bis zum Erlass des
Einspracheentscheides der Arbeitslosenkasse am 12. Juni 2015 standen die
weiteren Schritte der zuständigen IV-Stelle noch nicht fest und damit ebenso
wenig das Ausmass der Erwerbsunfähigkeit, weshalb die Vorleistungspflicht der
Arbeitslosenversicherung weiterbesteht, was unbestritten ist.

5.2.

5.2.1. In dem vom Beschwerdegegner erwähnten Urteil 8C_212/2010 vom 31. Mai
2010 zugrunde liegenden Sachverhalt erhob der Versicherte gegen den Vorbescheid
(vom 23. April 2009) keinen Einwand (vgl. lit. A des Sachverhalts), weshalb der
darin festgehaltene Invaliditätsgrad von 20 % bereits Grundlage bilden konnte,
um den versicherten Verdienst an die veränderten Verhältnisse anzupassen (E.
5.3 des soeben zitierten Urteils). Werden keine Einwände gegen den Vorbescheid
erhoben oder bleibt die Verfügung unbestritten, endet der Schwebezustand, da
damit der Erwerbsunfähigkeitsgrad feststeht. Daher kann zum selben Zeitpunkt
die (rückwirkende) Anpassung des versicherten Verdienstes an die verbleibende
Erwerbsfähigkeit erfolgen (vgl. THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung,
in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 3. Aufl.
2016, S. 2352 Rz. 283; BORIS RUBIN, Commentaire de la loi sur
l'assurance-chômage, 2014, N 31 zu Art. 23). Mit Blick auf das Ende des
Schwebezustandes besteht weiter dann kein Anlass, eine Verfügung über den
Rentenanspruch abzuwarten, wenn bereits vor oder mit dem Vorbescheid eine
vollständige Erwerbsunfähigkeit mit offensichtlicher Vermittlungsunfähigkeit
feststeht (ARV 2014 S. 210, 8C_53/2014 E. 4.2). Wegen der fehlenden
Vermittlungsfähigkeit besteht in diesem Fall kein Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung mehr, womit die versicherte Person (innerhalb der
Grenzen des Art. 95 Abs. 1bis Satz 2 AVIG) allenfalls rückerstattungspflichtig
wird. Eine Korrektur des versicherten Verdienstes ist hinfällig. Wird mit
Vorbescheid (für die massgebliche Zeitspanne) eine ganze Rente der
Invalidenversicherung auf der Basis eines Invaliditätsgrades von mindestens 70
% angekündigt, endet der Schwebezustand ebenfalls zu diesem Zeitpunkt. Bei
hinreichender Resterwerbsfähigkeit ist diesfalls hingegen eine Anpassung des
versicherten Verdienstes nicht obsolet.

5.2.2. Es ist jedoch möglich, dass das Ende des Schwebezustandes und der
Zeitpunkt der Anpassung des versicherten Verdienstes auseinanderfallen. Vor
Beendigung des Schwebezustandes kann eine Anpassung des versicherten
Verdienstes aber nur dann erfolgen, wenn - wie im Urteil ARV 2015 S. 157,
8C_401/2014 E. 2-4 - das exakte Ausmass der Erwerbsunfähigkeit noch nicht
geklärt ist und daher der Schwebezustand bis zum rechtskräftigen Entscheid
hierüber im Invalidenversicherungsverfahren anhält, die Arbeitslosenkasse und
die versicherte Person sich indes bereits über ein Mindestmass des
Invaliditätsgrades einig sind. In diesem Umfang des von der Sozialversicherung
ermittelten Invaliditätsgrades kann der versicherte Verdienst bereits
korrigiert werden, um so einen Ausgleich zur weiter andauernden
Vorleistungspflicht zu schaffen.

5.3. Nach dem Gesagten geht die Annahme fehl, in jedem Fall stünde mit dem
IV-Vorbescheid das Ausmass der Erwerbsunfähigkeit fest, weshalb bereits
aufgrund dieses Entscheides eine allfällige Anpassung des versicherten
Verdienstes zu erfolgen habe, wie dies das SECO postuliert und in seiner
Verwaltungsweisung in Rz. C29 der AVIG-Praxis ALE in der Version vom Januar
2015 festschreibt. Entgegen dieser Ansicht steht im Zeitpunkt des Vorbescheides
eine solche Mindesthöhe des Invaliditätsgrades gerade dann noch nicht fest,
wenn die versicherte Person - wie hier - gegen den Vorbescheid Einwände erhebt
und weitere medizinische Abklärungen fordert. Der Ausgang des Verfahrens ist
aufgrund der möglicherweise durchzuführenden weiteren Beweismassnahmen ungewiss
und kann durchaus auch zu Ungunsten des Versicherten ausfallen. Die Einwände im
Vorbescheidverfahren sind kein Rechtsmittel, das zurückgezogen werden könnte
mit der Konsequenz, dass der Vorbescheid rechtskräftig würde. Diese stellen
vielmehr eine Möglichkeit zur Äusserung im Rahmen des Gehörsanspruchs dar. Das
Vorbescheidverfahren geht insoweit über den verfassungsrechtlichen
Mindestanspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) hinaus, als die
versicherte Person Gelegenheit erhält, sich nicht nur zur Sache, sondern auch
zum vorgesehenen Endentscheid zu äussern (Art. 57a Abs. 1 IVG und Art.73 ter
Abs. 1 IVV; BGE 134 V 97 E. 2.8.2 S. 107 mit Hinweisen; Urteil 9C_617/2009 vom
15. Januar 2010 E. 2.1). Die Verwaltung ist aber nicht verpflichtet, gemäss dem
Vorbescheid zu verfügen, weshalb in der Verfügung auch ein tieferer
Invaliditätsgrad als der im Vorbescheid angezeigte, festgestellt werden darf.

5.4. Im Lichte der Sach- und Rechtslage ist die in Rz. C29 der ALE-Praxis
festgehaltene Verwaltungsweisung insoweit verordnungs- und bundesrechtswidrig,
als darin der Vorbescheid in jedem Fall, ohne Würdigung der
Einzelfallkonstellationen, als hinreichende Grundlage für die Anwendung von
Art. 40b IVV angesehen wird. Sie lässt eine dem Einzelfall angepasste und
gerecht werdende Auslegung der anwendbaren Bestimmungen nicht zu. Das
vorinstanzliche Gericht hat damit diese zu Recht nicht berücksichtigt (BGE 138
V 346 E. 6.2 S. 362; 137 V 1 E. 5.2.3 S. 8; 133 V 257 E. 3.2 S. 258 mit
Hinweisen; vgl. 133 II 305 E. 8.1 S. 315).

5.5. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass grundsätzlich erst die (noch nicht
rechtskräftige) Verfügung der Invalidenversicherung oder einer anderen
Sozialversicherung hinreichende Grundlage für die Anpassung des versicherten
Verdienstes an den damit erkannten Grad der Erwerbsunfähigkeit oder zumindest
an den nicht umstrittenen Prozentsatz des errechneten Invaliditätsgrades
bildet. Vorbehalten bleiben die zuvor skizzierten Konstellationen, in denen
bereits vor Verfügungserlass der Invalidenversicherung mit deren Vorbescheid
der Grad der Erwerbsunfähigkeit absehbar feststeht. Dies betrifft Fälle, wo
keine Einwände gegen den Vorbescheid zu erwarten sind bzw. erfolgen; oder wenn
eine ganze Invalidenrente bei verbleibender Restarbeitsfähigkeit in Aussicht
gestellt wird. Diese Sichtweise steht in Einklang mit der bisherigen
Rechtsprechung (BGE 133 V 524 E. 5 S. 526 ff.; SVR 2014 ALV Nr. 13 S. 40,
8C_824/2013 E. 5; vgl. auch Urteile 8C_918/2012 vom 29. Januar 2013 E. 3 und
8C_ 40/2011 vom 4. März 2011 E. 4.1), woran festzuhalten ist. Diese läuft einer
rechtsgleichen und praktikablen Verwaltungspraxis nicht zuwider, zumal damit -
wie der Beschwerdegegner zu Recht festhält - allenfalls weniger Nachkorrekturen
vorzunehmen sind, als wenn stets auf den im Vorbescheid angegebenen
Erwerbsunfähigkeitsgrad abgestellt würde.

5.6. Der Beschwerdegegner wendet schliesslich zutreffend ein, dass bis zum
Erlass des Einspracheentscheides nicht feststand, wie sich der Sachverhalt
bezüglich der Resterwerbsfähigkeit bis zum Verfügungszeitpunkt der IV-Stelle
entwickeln wird. Daher ist hier die offene Formulierung des kantonalen Gerichts
hinsichtlich des über den 31. Januar 2015 einstweilen andauernden Anspruchs auf
Taggelder der Arbeitslosenentschädigung auf der Basis eines ungekürzten
versicherten Verdienstes von Fr. 6'549.- nicht zu beanstanden. Das SECO dringt
mit seiner Beschwerde nicht durch.

6. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Das SECO hat dem
Beschwerdegegner eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2
BGG). Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist somit gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3. 
Der Beschwerdeführer hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdegegners für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Unia Arbeitslosenkasse und dem
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. Juli 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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