Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.846/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_846/2016        

Urteil vom 24. Mai 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichterinnen Heine, Viscione,
Gerichtsschreiber Lanz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Peter F. Siegen,
Beschwerdeführerin,

gegen

Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau, Bahnhofstrasse 78, 5000
Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung
(vorinstanzliches Verfahren, Prozessvoraussetzung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 8. November 2016.

Sachverhalt:

A. 
Mit Verfügung vom 18. März 2016 hob die Öffentliche Arbeitslosenkasse des
Kantons Aargau Abrechnungen über an A.________ (geb. 1952) ausgerichtete
Arbeitslosenentschädigung wiedererwägungsweise auf und verlangte von der
Versicherten Taggelder, welche demnach zu viel ausgerichtet worden seien,
zurück. Das bestätigte die Arbeitslosenkasse mit Einspracheentscheid vom 7.
Juni 2016).

B. 
A.________ erhob gegen den Einspracheentscheid Beschwerde. Auf diese trat das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 8. November 2016
nicht ein, da sie verspätet sei.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
der vorinstanzliche Entscheid, der Einspracheentscheid vom 7. Juni 2016 sowie
die Verfügung vom 18. März 2016 seien aufzuheben und es sei festzustellen, dass
sie die Arbeitslosenentschädigung zu Recht bezogen habe; eventuell sei das
Versicherungsgericht in Aufhebung seines Entscheides zu verpflichten, auf die
Beschwerde einzutreten.

Die Arbeitslosenkasse, das kantonale Gericht (unter Hinweis auf die Erwägungen
im seinem Entscheid) und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) verzichten
je auf eine Vernehmlassung.

Mit Eingabe vom 3. März 2017 nimmt A.________ nochmals Stellung.

Erwägungen:

1. 
Die Vorinstanz, die Beschwerdegegnerin und die Aufsichtsbehörde haben auf eine
Vernehmlassung zur Beschwerde verzichtet. Daher bestand kein Anlass für die
weitere Eingabe der Beschwerdeführerin vom 3. März 2017. Diese Eingabe ist aus
dem Recht zu weisen. Das gilt erst recht für die mit ihr eingereichten Belege.

2. 
Die Beschwerde richtet sich gegen den vorinstanzlichen
Nichteintretensentscheid. Das Bundesgericht hat einzig zu prüfen, ob die
Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie auf das bei ihr erhobene
Rechtsmittel nicht eingetreten ist. Dagegen kann auf den in der
letztinstanzlichen Beschwerde gestellten materiellen Antrag nicht eingetreten
werden (vgl. BGE 132 V 74 E. 1.1 S. 76 mit Hinweis; SVR 2010 UV Nr. 29 S. 117,
8C_556/2009 E. 1).

3. 
Die Vorinstanz hat erwogen, der Einspracheentscheid sei der Beschwerdeführerin
als "A-Post Plus"-Sendung mit der Sendungsnummer zzz am 8. Juni 2016 zugestellt
worden. Die dreissigtägige Beschwerdefrist habe somit am 9. Juni 2016 zu laufen
begonnen und am 8. Juli 2016 geendet. Die am 11. Juli 2016 der Post übergebene
Beschwerde sei demnach verspätet erfolgt, weshalb auf sie nicht einzutreten
sei.

3.1. Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Einspracheentscheid sei ihr
resp. ihrem Rechtsvertreter am 9. Juni 2016 (einem Samstag) zugestellt worden.

Trifft dies zu, wäre die Beschwerdefrist erst am 11. Juli 2016 (einem Montag)
abgelaufen und die an diesem Tag der Post übergebene Beschwerde als
fristgerecht zu betrachten.

3.2. Die Versicherte rügt namentlich auch, das kantonale Gericht habe in diesem
Zusammenhang ihren Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV
verletzt, indem es ihr keine Gelegenheit gegeben habe, zur Fristwahrung
Stellung zu nehmen. Diese Rüge ist aufgrund ihrer formellrechtlichen Natur
vorab zu prüfen.

3.2.1. Zur durch Art. 29 BV geschützten Verfahrensfairness gehört der in Art.
29 Abs. 2 BV besonders aufgeführte Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieser dient
der Sachaufklärung und garantiert den Verfahrensbeteiligten ein
persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht. Sie haben insbesondere Anspruch auf
Äusserung zur Sache vor Fällung des Entscheids, auf Abnahme ihrer erheblichen,
rechtzeitig und formrichtig angebotenen Beweise und auf Mitwirkung an der
Erhebung von Beweisen oder zumindest auf Stellungnahme zum Beweisergebnis (BGE
140 I 99 E. 3.4 S. 102 f.; vgl. auch BGE 141 V 557 E. 3.1 S. 564; je mit
Hinweisen). Der Gehörsanspruch wird verletzt, wenn dem Verfahrensbeteiligten
vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids keine
Gelegenheit gegeben wird, sich zu einer von der Behörde hinsichtlich der
Fristwahrung eingeholten Auskunft zu äussern, obwohl diese Abklärung für die
Willensbildung der Behörde wesentlich war (BGE 115 Ia 8; Urteil 5A_28/2015 vom
22. Mai 2015 E. 3.1.1).

3.2.2. Das kantonale Gericht verweist in seiner Erwägung, wonach der
Einspracheentscheid am 8. Juni 2016 zugestellt worden sei, auf die in seinem
Verfahren eingereichte Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin. In dieser
Vernehmlassung wurde indessen lediglich festgehalten, der Einspracheentscheid
sei am 7. Juni 2016 mit der Sendungsnummer zzz versandt worden. Dass die
Vorinstanz auf das Zustelldatum 8. Juni 2016 schliesst, lässt sich daher nur
damit erklären, dass sie eine Abfrage in Track & Trace vorgenommen hat (zur
Zustellung mittels der Versandmethode "A-Post Plus" siehe: BGE 142 III 599 E.
2.2 S. 601 f.; Urteil 4A_10/2016 vom 8. September 2016 E. 2.2.1, nicht publ.
in: BGE 142 III 671). Andere Anhaltspunkte für ein Zustelldatum 8. Juni 2016
sind jedenfalls nicht ersichtlich. Das kantonale Gericht hat diese Abfrage,
welche der Einholung einer Auskunft gleichzusetzen ist, nicht in den Akten
festgehalten, obschon es offensichtlich seinen Entscheid auf sie stützt. Und
obschon sie die Abfrage offensichtlich als wesentlich erachtet, hat sie der
Beschwerdeführerin keine Gelegenheit eingeräumt, dazu Stellung zu nehmen. Dazu
wäre sie unter den gegebenen Umständen verpflichtet gewesen. Das gilt erst
recht, wenn berücksichtigt wird, dass die Versicherte bereits in ihrer
vorinstanzlichen Beschwerde geltend gemacht hat, der Einspracheentscheid sei
ihrem Rechtsvertreter (erst) am 9. Juni 2016 zugegangen. Die Vorinstanz hat im
Übrigen im vorliegenden Verfahren nicht Stellung genommen zur Rüge der
Gehörsverletzung. Bei dieser Ausgangslage ist der kantonale Entscheid
aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie den
formellen Mangel behebe und anschliessend neu entscheide. In diesem Sinne ist
die Beschwerde gutzuheissen.

4. 
Die Beschwerdegegnerin hat als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung
zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Eine qualifizierte Verletzung der
Justizgewährleistung, welche in Anwendung des Verursacherprinzips rechtfertigen
würde, ausnahmsweise die Vorinstanz resp. den Kanton Aargau zur Bezahlung von
Gerichtskosten und Parteientschädigung zu verpflichten (vgl. SVR 2017 BVG Nr.
12 S. 48, 9C_150/2016 E. 5 mit Hinweisen; 2010 ALV Nr. 6 S. 15, 8C_830/2009 E.
3.1 mit Hinweis), liegt nicht vor.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 8. November 2016
wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. Mai 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Lanz

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