Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.787/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_787/2016

Urteil vom 8. Februar 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichterinnen Heine, Viscione,
Gerichtsschreiber Lanz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Kübler,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 13. Oktober 2016.

Sachverhalt:

A. 
Der 1968 geborene A.________ meldete sich, nachdem ein früheres Rentenbegehren
mangels eines genügenden Invaliditätsgrades rechtskräftig abgewiesen worden
war, im Juni 2007 unter Hinweis auf eine Rückenproblematik erneut bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich
holte nebst weiteren Abklärungen ein bidisziplinäres Gutachten der
Rheumatologin Dr. med. B.________, und des Psychiaters Dr. med. C.________,
Chefarzt Klinik D.________, vom 3./8. September 2009 ein. Mit Verfügungen vom
21. Mai und 2. Juni 2010 sowie - sich aufs Betragliche beschränkenden -
Verfügungen vom 12. und 24. Januar 2011 sprach sie dem Versicherten rückwirkend
ab 1. Juni 2006 bei einem Invaliditätsgrad von 100 % eine ganze Invalidenrente
und ab 1. März 2007 bei einem Invaliditätsgrad von 60 % eine Dreiviertelsrente
zu. Im Rahmen eines Revisionsverfahrens veranlasste die IV-Stelle ein
bidisziplinäres Verlaufsgutachten der Dres. med. B.________ und C.________,
welches am 16. Juli/7. November 2011 erstattet wurde. Gestützt auf einen
Einkommensvergleich gelangte die Verwaltung zum Ergebnis, dass bei einem
Invaliditätsgrad von 60 % weiterhin Anspruch auf eine Dreiviertelsrente
bestehe. Das teilte sie dem Versicherten am 14. Dezember 2011 schriftlich mit.

Anlässlich eines weiteren Revisionsverfahrens gab die Verwaltung eine
Potenzialabklärung (Arbeitsdiagnostik) bei der Psychiatrischen Klinik
E.________ in Auftrag, welche vom 3. bis 28. März 2014 durchgeführt wurde.
Darüber wurde ihr am 17. April 2014 Bericht erstattet. Sodann traf die
IV-Stelle Abklärungen zur Frage, ob der Versicherte der Pflicht zur
Schadenminderung mittels intensiver fachärztlicher
psychiatrischer-psychotherapeutischer Behandlung, welche sie ihm mit Schreiben
vom 4. Juni 2013 auferlegt habe, nachgekommen sei. Mit Verfügung vom 28. Mai
2015 hob die Verwaltung mit der Begründung, dies sei nicht erfolgt, die Rente
auf das Ende des der Verfügungszustellung folgenden Monats auf.

B. 
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 13. Oktober
2016 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________,
in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der Verwaltungsverfügung vom
28. Mai 2015 sei festzustellen, dass er über den 31. Juli 2015 hinaus Anspruch
auf eine Dreiviertelsrente habe. Zudem wird um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege ersucht.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde, ohne sich weiter zur
Sache zu äussern. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280; vgl. auch BGE 141 V 234 E. 1 S. 236; 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.).

Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat,
indem es die von der Verwaltung verfügte Aufhebung der seit März 2007
ausgerichteten und im Dezember 2011 revisionsweise bestätigten
Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung bestätigte.

Im angefochtenen Entscheid sind die Bestimmungen und Grundsätze zum Gebot der
Selbsteingliederung als Ausdruck der Schadenminderungspflicht der versicherten
Person, zur Zumutbarkeit darauf gerichteter Behandlungs- und
Eingliederungsmassnahmen, zur Kürzung oder Verweigerung von Leistungen bei
Verletzung dieser Pflichten sowie zum Mahn- und Bedenkzeitverfahren zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.

3.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, dem Beschwerdeführer sei im Mahn- und
Bedenkzeitverfahren eine Schadenminderungspflicht auferlegt worden. Es nimmt
dabei Bezug auf ein Schreiben der Verwaltung vom 4. Juni 2013. Darin wurde
festgehalten, die Erwerbsfähigkeit könne mit einer regelmässigen und intensiven
fachärztlichen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung, mit einem
wöchentlichen, allenfalls 14-tägigen Konsultationsrhythmus für die Dauer von
zunächst 3 Monaten, bei Behandlungsindikation gemäss Psychiater bis zu 12
Monaten, wesentlich verbessert werden; insbesondere sollte im Rahmen der
Behandlung eine schlaffördernde Medikation geprüft werden. Die Verwaltung
forderte den Versicherten, unter Hinweis auf dessen Mitwirkungs- und
Schadenminderungspflicht sowie die Folgen der Nichtbeachtung gemäss Art. 21
Abs. 4 und Art. 43 Abs. 3 ATSG, auf, sich dieser Behandlung zu unterziehen. Die
Vorinstanz hat erkannt, von einer auf dieses Schreiben hin erfolgten intensiven
fachärztlichen Behandlung könne keine Rede sein. Die Rente sei daher zu Recht
wegen Nichterfüllung der Mitwirkungs- und Schadenminderungspflicht aufgehoben
worden.

3.2. Der Beschwerdeführer bestreitet, das Schreiben vom 4. Juni 2013 erhalten
zu haben resp. über dessen Inhalt informiert worden zu sein. Soweit die
Vorinstanz zu einem anderen Ergebnis gelangt sei, beruhe dies u.a. auf einer
bundesrechtswidrigen Beweislastverteilung. In der Tat hat das kantonale Gericht
erwogen, mangels eines Unzustellbarkeitsnachweises sei nicht davon auszugehen,
dass das Schreiben vom 4. Juni 2013 dem Versicherten nicht zugegangen sei. Das
widerspricht dem bundesrechtlichen Grundsatz, wonach die Verwaltung die
Beweislast dafür trägt, dass die Zustellung tatsächlich erfolgt ist (BGE 136 V
295 E. 5.9 S. 309 mit Hinweisen, vgl. auch BGE 142 IV 125 E. 4.3 S. 128).
Sodann weist das von der Verwaltung aufgelegte Schreiben vom 4. Juni 2013 zwar
den Vermerk "Einschreiben" auf. Der Beschwerdeführer macht aber zu Recht
geltend, dass kein Beleg dafür vorliegt, dass das Schreiben tatsächlich an ihn
versandt und ihm zugestellt wurde. Es ist unbestrittenermassen weder ein
Barcode auf einem Couvert aktenkundig noch liegt ein Zustellnachweis über Track
&Trace der Post oder durch ein anderweitiges Dokument vor. Dieser Nachweis
ergibt sich nicht auch aus dem Schreiben der - mit einer Kopie des Schreibens
vom 4. Juni 2013 bedienten - Sozialversicherungsfachstelle der Stadt Winterthur
vom 26. Juni 2013. Darin hat die Sozialversicherungsfachstelle unter Bezugnahme
auf die geführte Korrespondenz lediglich festgehalten, der Beschwerdeführer sei
bei der F.________ in psychiatrischer Behandlung. Zwar mag die
Sozialversicherungsfachstelle die Information über diese Behandlung vom
Versicherten erhalten haben. Daraus kann aber entgegen der vorinstanzlichen
Beurteilung nicht abgeleitet werden, der Beschwerdeführer sei über die
Schadenminderungspflicht informiert worden resp. habe deswegen die Behandlung
angetreten, hatte doch die psychiatrisch-psychotherapeutische Therapie bei der
F.________ gemäss deren Bestätigung vom 23. Mai 2014 bereits am 14. Mai 2013,
mithin vor dem Verwaltungsschreiben vom 4. Juni 2013, begonnen. Der Versicherte
rügt daher zu Recht als willkürlich, dass das kantonale Gericht trotz fehlenden
Nachweises geschlossen hat, er sei über die mit Schreiben vom 4. Juni 2013
auferlegte Schadenminderungspflicht und die Androhung der Folgen bei
Nichtbeachtung informiert gewesen. Damit kann offen bleiben, ob der
Versicherte, wie von ihm geltend gemacht, sich nicht ohnehin aus eigenem
Antrieb einer Therapie unterzogen hat, welche der Schadenminderungspflicht
gemäss dem besagten Schreiben genügen würde.

4. 
Nach dem Gesagten hat das kantonale Gericht bundesrechtswidrig entschieden, der
Versicherte sei über die mit Verwaltungsschreiben vom 4. Juni 2013 auferlegte
Schadenminderungspflicht informiert gewesen. Damit hat auch kein rechtsgültiges
Mahn- und Bedenkzeitverfahren stattgefunden. Zu prüfen bleibt, ob die
Rentenaufhebung dennoch rechtsgültig erfolgt ist.

Die Vorinstanz hat ergänzend erwogen, die Rente wäre auch ohne Auferlegung
einer Schadenminderungspflicht zu Recht aufgehoben worden. Denn eine
invalidisierende Wirkung der gesundheitlichen Beeinträchtigung und damit ein
Rentenanspruch sei ohnehin zu verneinen. Das kantonale Gericht legt aber nicht
dar, dass eine erhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten
ist, welche eine revisionsweise Aufhebung der Rente nach Art. 17 Abs. 1 ATSG
begründen könnte. Es scheint denn auch einen Rentenanspruch eher von Beginn weg
zu verneinen, legt aber nicht dar, inwiefern sich dies auf einen
Rückkommenstitel im Sinne einer prozessualen Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG)
resp. einer Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) stützen liesse. Ein
Rechtsgrund für die substituierte Begründung ist daher nicht gegeben. Dies
führt zur Gutheissung der Beschwerde. Der Versicherte verweist im Übrigen zu
Recht darauf, dass ihm zu einer solchen neuen Entscheidsbegründung vorab das
rechtliche Gehör hätte gewährt werden müssen.

5. 
Die unterliegende Beschwerdegegnerin hat die Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1
BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68
Abs. 1 und 2 BGG). Damit ist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
gegenstandslos.
 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 13. Oktober 2016 und die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Zürich vom 28. Mai 2015 werden aufgehoben.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. Februar 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Lanz

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