Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.782/2016
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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 

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8C_782/2016            

 
 
 
Urteil vom 12. Oktober 2017  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiberin Durizzo. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse
11, 8500 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom
14. September 2016 (VV.2016.94/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________ arbeitete als Arztsekretärin zuletzt seit dem 1. März 2006 bei
der Klinik B.________. Im Februar 2007 begab sie sich wegen depressiver
Beschwerden in psychiatrische Behandlung. Sie wurde ab dem 15. März 2007 krank
geschrieben. Die Arbeitgeberin kündigte die Stelle auf den 31. August 2007.
Nach Einweisung durch den behandelnden Arzt hielt sie sich vom 9. Oktober bis
zum 31. Dezember 2007 in der Psychiatrischen Klink C.________ auf, wo sie mit
Antidepressiva sowie, wegen einer Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ADS),
mit Ritalin behandelt wurde. Am 17. Dezember 2007 meldete sich A.________ bei
der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
Thurgau liess sie durch den Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) untersuchen. Am
27. Juli 2009 bescheinigte die RAD-Ärztin eine 80-prozentige
Arbeitsunfähigkeit. Mit Verfügung vom 29. Oktober 2009 sprach die IV-Stelle
A.________ ab dem 1. März 2008 eine ganze Invalidenrente zu.  
 
A.b. Im Zuge eines von Amtes wegen eingeleiteten Revisionsverfahrens holte die
IV-Stelle einen Bericht des behandelnden Arztes Dr. med. D.________, Facharzt
FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 14. Juli 2014 sowie ein Gutachten
des Dr. med. E.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 29. Dezember
2014 ein. Zufolge deutlich remittierter depressiver Symptomatik und Besserung
auch der weiteren psychischen Einschränkungen bescheinigte er für die
angestammte wie auch eine andere leidensangepasste Tätigkeit eine 50-prozentige
Arbeitsfähigkeit.  
 
Die IV-Stelle klärte des Weiteren die Situation im Haushalt ab, nachdem
A.________ am 6. Mai 2014 Mutter geworden war. 
 
Mit Verfügung vom 24. Februar 2016 stellte sie die Rente auf das Ende des
folgenden Monats ein. Dabei ging sie davon aus, dass A.________ als Gesunde
nach der Geburt ihrer Tochter nur noch zu 70 Prozent erwerbstätig und zu 30
Prozent im Haushalt beschäftigt wäre. Bei einer 50-prozentigen
Arbeitsunfähigkeit im Beruf erleide sie eine Erwerbseinbusse von 28,57 Prozent,
gewichtet 20 Prozent. Im Haushalt bestehe ein Invaliditätsgrad von 24,5
Prozent, gewichtet 7,35 Prozent. Insgesamt ergab sich dadurch ein
rentenausschliessender Invaliditätsgrad von 27,35 Prozent. 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
mit Entscheid vom 14. September 2016 ab. 
 
C.   
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihr ab dem 1.
April 2016 eine Viertelsrente und eine entsprechende Kinderrente zuzusprechen. 
 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung. Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels
für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art.
105 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art.
106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend
gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann
eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es
kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der
allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG),
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel
nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen). 
 
2.   
Streitig ist, ob das kantonale Gericht die Rentenaufhebung zu Recht bestätigt
hat. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die nach der Geburt ihrer Tochter
erfolgte Revision sei mit Blick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte (EGMR) in Sachen Di Trizio gegen die Schweiz vom 2. Februar
2016 (7186/09) unzulässig gewesen. 
 
Das kantonale Gericht hat die für die Rentenrevision (Art. 17 ATSG)
massgeblichen Bestimmungen und Grundsätze zutreffend dargelegt. Es wird darauf
verwiesen. 
 
3.  
 
3.1. Dem erwähnten EGMR-Urteil vom 2. Februar 2016 lag der Fall einer
Versicherten zugrunde, welche unter dem Status einer Vollerwerbstätigen eine
Invalidenrente beanspruchen konnte und diesen Anspruch allein aufgrund des
Umstandes verlor, dass sie wegen der Geburt ihrer Kinder und der damit
einhergehenden Reduktion des Erwerbspensums für die Invaliditätsbemessung neu
als Teilerwerbstätige mit einem Aufgabenbereich qualifiziert wurde. Der EGMR
betrachtete es als Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in
Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens), dass die
sich aus dem Statuswechsel ergebende Änderung in den Grundlagen der
Invaliditätsbemessung - anstelle des auf Vollerwerbstätige anwendbaren
Einkommensvergleichs (Art. 28a Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG)
gelangte nun die gemischte Methode (Art. 28a Abs. 3 IVG) zur Anwendung - zur
Aufhebung der Invalidenrente führte und sich damit zu Ungunsten der
Versicherten auswirkte.  
 
In seinem zur Umsetzung des EGMR-Urteils vom 2. Februar 2016 ergangenen, in BGE
143 I 50 publizierten Urteil 9F_8/2016 vom 20. Dezember 2016 (E. 4.1 und 4.2)
entschied das Bundesgericht, dass zwecks Herstellung eines konventionskonformen
Zustandes in derartigen Konstellationen fortan auf die Aufhebung der
Invalidenrente im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG allein zufolge eines
Statuswechsels von "vollerwerbstätig" zu "teilerwerbstätig" (mit
Aufgabenbereich) zu verzichten ist (vgl. auch IV-Rundschreiben Nr. 355 des BSV
vom 31. Oktober 2016, mit Aktualisierung per 26. Mai 2017). Für die
Versicherte, die damals am Recht stand, hatte dies zur Folge, dass sie
unverändert Anspruch auf die bisher ausgerichtete Invalidenrente hatte.
Gleiches gilt, wenn der beschriebene Statuswechsel nicht zu einer
vollständigen, sondern lediglich zu einer teilweisen Aufhebung der
Invalidenrente im Sinne einer Rentenherabsetzung führt; auch diesfalls besteht
der Anspruch auf die bisher ausgerichtete Rente fort (BGE 143 I 60; Urteil
9C_752/2016 vom 6. September 2017 E. 4.1 und 4.2, zur Publikation vorgesehen). 
 
3.2. Gestützt auf die dargelegte Rechtsprechung ist festzustellen, dass die von
der Vorinstanz bestätigte Aufhebung der Rente wegen der Geburt der Tochter der
Beschwerdeführerin und der dadurch bedingten hypothetischen Reduktion des
Arbeitspensums auf 70 Prozent unzulässig war. Im Folgenden ist daher die
Versicherte als Vollerwerbstätige zu behandeln.  
 
4.  
 
4.1. Nach der Vorinstanz war seit der Rentenzusprechung ab dem 1. März 2008 mit
Verfügung vom 29. Oktober 2009 eine wesentliche Verbesserung des
Gesundheitszustandes eingetreten. Sie stellte dabei auf das Gutachten des Dr.
med. E.________ ab, welches sie als voll beweiskräftig erachtete. Danach seien
die in den früheren Berichten beschriebenen ausgeprägten psychischen Symptome
aktuell nicht mehr festzustellen. Diagnostiziert seien eine rezidivierende
depressive Störung, gegenwärtig leichte depressive Episode, ohne
Chronifizierungstendenz (ICD-10 F 33.0), im Sinne einer teilremittierten
mittelgradigen depressiven Episode, eine einfache Aktivitäts- und
Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F90.0) sowie akzentuierte Persönlichkeitszüge
mit histrionischen, emotional-instabilen und dependenten Zügen (ICD-10 Z73.1).
Vermerkt seien des Weiteren ein Status nach Bulimia nervosa (ICD-10 F50.2)
sowie nach schädlichem Gebrauch von Sedativa und Hypnotika, insbesondere
Benzodiazepinen (ICD-10 F13.1). Mit dem Gutachter nahm die Vorinstanz eine
50-prozentige Arbeitsfähigkeit an.  
 
4.2. Dass seit der ursprünglichen Rentenzusprechung am 29. Oktober 2009 eine
gesundheitliche Verbesserung mit Steigerung der Arbeitsfähigkeit (von damals 20
Prozent auf 50 Prozent) eingetreten ist, bleibt letztinstanzlich unbestritten.
Die vorinstanzlichen Feststellungen geben diesbezüglich keinen Anlass zu
Weiterungen. Die Voraussetzungen für eine Rentenrevision aus gesundheitlichen
Gründen sind daher erfüllt.  
 
4.3. Das kantonale Gericht stellte hinsichtlich der erwerblichen Auswirkungen
fest, dass die Beschwerdeführerin als Gesunde ein Einkommen von 62'675 Franken
erzielen würde. Mit Rücksicht auf die psychisch bedingte Einschränkung sei ihr
bei einem zumutbaren 50-Prozent-Pensum ein statistischer Durchschnittsverdienst
von 32'327 Franken anzurechnen (Tabellenlohn nach der vom Bundesamt für
Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung, LSE). Dies ist unbestritten
geblieben und der vorinstanzliche Entscheid gibt diesbezüglich keinen Anlass zu
Weiterungen. Aus dem Vergleich dieser beiden Einkommen resultiert ein
Invaliditätsgrad von 48 Prozent. Der Anspruch der Beschwerdeführerin ist ab dem
1. April 2016 von einer ganzen auf eine Viertelsrente herabzusetzen (Art. 28
Abs. 2 IVG; Art. 85 Abs. 2 und Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV).  
 
5.   
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
Prozessausgang entsprechend der IV-Stelle auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG
); des Weiteren hat sie der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Thurgau vom 14. September 2016 und die Verfügung der IV-Stelle des
Kantons Thurgau vom 24. Februar 2016 werden aufgehoben. Die Beschwerdegegnerin
hat der Beschwerdeführerin ab dem 1. April 2016 eine Invalidenrente bei einem
Invaliditätsgrad von 48 Prozent auszurichten. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 12. Oktober 2017 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo 

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