Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.705/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_705/2016        

Urteil vom 11. Mai 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Wirthlin,
Gerichtsschreiber Lanz.

Verfahrensbeteiligte
Öffentliche Arbeitslosenkasse Baselland, Bahnhofstrasse 32, 4133 Pratteln,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Advokatin Elisabeth Vogel,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Arbeitslosenversicherung (örtliche Zuständigkeit),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Basel-Landschaft
vom 7. Juli 2016.

Sachverhalt:

A. 
Der türkische Staatsangehörige A.________ erhielt am 4. Februar 2015 vom Kanton
Zürich die Niederlassungsbewilligung (C-Bewilligung), gültig bis 24. August
2019, ausgestellt. Er arbeitete zuletzt bis 6. April 2015 bei einem Unternehmen
im Kanton Aargau. Vom 6. April bis 19. August 2015 befand sich A.________ im
Kanton Zürich in Untersuchungshaft. Am 21. August 2015 verfügte das
Bezirksgericht, Zwangsmassnahmengericht, als Ersatzmassnahmen zur
Untersuchungshaft ein Kontaktverbot zur Ehefrau und ein Rayonverbot für den
Kanton Zürich. Anfang September 2015 meldete sich A.________ bei seiner
damaligen Wohnsitzgemeinde im Kanton Zürich ab und in einer Gemeinde im Kanton
Basel-Landschaft an. Am 15. September 2015 beantragte er in diesem Kanton
Arbeitslosenentschädigung. Die Öffentliche Arbeitslosenkasse Baselland
(nachfolgend: Arbeitslosenkasse) richtete vorübergehend Arbeitslosentaggeld
aus. Mit Verfügung vom 16. November 2015 verneinte sie einen Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung ab 15. September 2015 mit der Begründung, sie sei
örtlich nicht zuständig, da A.________ keine Aufenthaltsbewilligung für den
Kanton Basel-Landschaft habe. Mit einer weiteren Verfügung vom gleichen Tag
forderte die Arbeitslosenkasse von A.________ die für den Zeitraum vom 15. bis
30. September 2015 bereits ausbezahlten Taggelder zurück, da diese zu Unrecht
ausgerichtet worden seien. Mit Einspracheentscheid vom 2. Februar 2016 hielt
sie an den beiden Verfügungen fest.

B. 
In Gutheissung der von A.________ hiegegen erhobenen Beschwerde hob das
Kantonsgericht Basel-Landschaft den Einspracheentscheid vom 2. Februar 2016 und
die Verfügungen vom 16. November 2015 auf (Entscheid vom 7. Juli 2016).

C. 
Die Arbeitslosenkasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei
aufzuheben.
A.________ und das kantonale Gericht schliessen je auf Abweisung der
Beschwerde. A.________ beantragt überdies die Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.

Mit Eingabe vom 24. Januar 2017 äussert sich die Arbeitslosenkasse nochmals.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
In der Beschwerde wird geltend gemacht, der vorinstanzliche Entscheid sei als
Präsidialentscheid erfolgt, obschon nach kantonalem Recht aufgrund des
Streitwertes in Dreierbesetzung zu urteilen gewesen wäre. Diese
formellrechtliche Rüge hat die Beschwerdeführerin mit der nachträglichen, auf
diesen Punkt beschränkten Eingabe vom 24. Januar 2017 zurückgezogen. Der
angefochtene Entscheid ist denn auch offensichtlich in Dreierbesetzung
ergangen.

3. 
Mit der Beschwerde werden eine Verfügung des Amtes für Migration
Basel-Landschaft vom 7. Oktober 2016 und eine amtliche Auskunft vom 19. Oktober
2016 aufgelegt. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen indessen nur so weit
vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt
(Art. 99 Abs. 1 BGG). Echte Noven, d.h. Tatsachen und Beweismittel, die wie die
erwähnten Belege erst nach dem angefochtenen Entscheid entstanden sind, sind
gänzlich ausgeschlossen (vgl. statt vieler: Urteil 9C_553/2015 vom 13. Juni
2016 E. 1.3 mit Hinweis, nicht publ. in: BGE 142 V 239, aber in: SVR 2016 BVG
Nr. 41 S. 169).

4. 
Die Beschwerdeführerin hat den bei ihr geltend gemachten Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung mit der Begründung verneint, sie sei im Sinne von
Art. 77 Abs. 1 AVIG örtlich nicht zuständig. Deswegen habe der Beschwerdegegner
auch die bereits bezogene Arbeitslosenentschädigung zurückzuerstatten. Das
kantonale Gericht ist zum Ergebnis gelangt, die Beschwerdeführerin sei örtlich
zuständig und habe den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung daher zu Unrecht
verneint. Damit entfalle auch die Rückforderung. In ihrer Beschwerde rügt die
Arbeitslosenkasse diese Beurteilung als bundesrechtswidrig. Der
Beschwerdegegner postuliert, es sei dem kantonalen Gericht zu folgen.

5. 
In der Beschwerde wird als Erstes beanstandet, das kantonale Gericht gehe in
Verkennung der Aktenlage davon aus, der Beschwerdegegner erhebe lediglich
Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung vom 15. September bis 24. Dezember 2015.
Auszugehen sei vielmehr von einem Beurteilungszeitraum bis 25. Januar 2016.
Diesbezüglich hat es mit der Feststellung sein Bewenden, dass der
Beschwerdegegner im vorliegenden Verfahren ausdrücklich bestätigt, nur
Leistungen bis 24. Dezember 2015 zu beanspruchen. Dabei ist er zu behaften,
womit sich Weiterungen zum Anspruchszeitraum erübrigen.

6. 
Die Beschwerdeführerin spricht dem Beschwerdegegner sodann ab 15. September
2015 die Vermittlungsbereitschaft ab. Letztere wurde indessen im
Verwaltungsverfahren nicht in Frage gestellt. Die Beschwerdeführerin hat dem
Versicherten denn auch Arbeitslosenentschädigung ausgerichtet. Sie legt zudem
nicht nachvollziehbar dar, inwiefern der vorinstanzliche Entscheid in dieser
Hinsicht bundesrechtswidrig sein soll. Damit hat es hier sein Bewenden.

7. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem
sie die örtliche Zuständigkeit der Beschwerdeführerin bejahte.

7.1. Gemäss Art. 35 Abs. 1 ATSG prüft der Versicherungsträger seine
Zuständigkeit von Amtes wegen. Nach Art. 77 Abs. 1 Satz 1 AVIG besteht in jedem
Kanton eine öffentliche Kasse, die allen versicherten Einwohnern des Kantons
und den im Kanton arbeitenden versicherten Grenzgängern zur Verfügung steht.

7.2. Die Beschwerdeführerin hat ihre örtliche Zuständigkeit im Sinne von Art.
77 Abs. 1 AVIG mit der Begründung verneint, der Beschwerdegegner verfüge
mangels Bewilligung des Kantonswechsels über keine Aufenthaltsbewilligung für
den Kanton Basel-Landschaft und habe sich deshalb illegal in diesem
aufgehalten. Das kantonale Gericht hat im Wesentlichen erwogen, der
Beschwerdegegner habe gemäss Art. 37 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die
Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005 (Ausländergesetz; AuG; SR
142.20) als Inhaber der Niederlassungsbewilligung Anspruch auf den
Kantonswechsel, wenn keine Widerrufsgründe gemäss Art. 63 AuG vorlägen. Solche
Widerrufsgründe seien hier nicht ersichtlich. Daher sei davon auszugehen, dass
das Amt für Migration Basel-Landschaft dem Beschwerdegegner die
Niederlassungsbewilligung hätte erteilen müssen, wenn es bereits einen
Entscheid darüber gefällt hätte. Sodann sei zwar das Gesuch um Bewilligung des
Kantonswechsel gemäss Art. 37 Abs. 1 AuG, welche Bestimmung entgegen ihrem
Wortlaut auch für Personen mit Niederlassungsbewilligung gelte, vor dem Umzug
in den anderen Kanton zu stellen. Das stehe hier aber einer Annahme der
örtlichen Zuständigkeit der Beschwerdeführerin nicht entgegen.

7.3. Die Beschwerdeführerin macht geltend, das kantonale Gericht sei, wie auch
sie selber, für ausländerrechtliche Fragen nicht zuständig. Sie habe sich
deshalb auf die mehrfache Auskunft des Amtes für Migration verlassen, wonach
dem Beschwerdegegner die Niederlassungsbewilligung für den Kanton
Basel-Landschaft nicht erteilt werde. Mit der Vorinstanz ist indessen davon
auszugehen, dass sich aus diesen telefonisch und per E-Mail erteilten
Auskünften nicht verlässlich darauf schliessen liess, es liege ein
Widerrufsgrund im Sinne von Art. 63 AuG vor. Das kantonale Gericht hat auch
zutreffend als stossend beurteilt, dass das Zuwarten des Amtes für Migration
mit seinem Entscheid dem Beschwerdegegner im Verfahren gegen die
Arbeitslosenkasse zum Nachteil gereichen soll, und er im Ergebnis weder im
Kanton Zürich (wegen des Rayonverbotes) noch im Kanton Basel-Landschaft
(mangels Bewilligung resp. örtlicher Zuständigkeit) Anspruch auf
Arbeitslosenentschädigung hätte erheben können.

7.4. Die Beschwerdeführerin bringt vor, das für den ganzen Kanton Zürich
ausgesprochene Rayonverbot sei am 24. November 2015 teilweise aufgehoben
worden. Ob dies eine andere Beurteilung zu rechtfertigen vermöchte, erscheint
fraglich, kann aber offenbleiben. Denn diese Tatsache war im vorinstanzlichen
Verfahren nicht aktenkundig und ist novenrechtlich unzulässig (Art. 99 Abs. 1
BGG).

7.5. Eine weitere Rüge betrifft den Zeitpunkt, in welchem die Bewilligung des
Kantonswechsels zu beantragen ist. Das kantonale Gericht hat hiezu erkannt,
zwar sei der Antrag im Voraus zu stellen; er werde aber praxisgemäss oft erst
mit der Anmeldung in der neuen Wohnsitzgemeinde gestellt. Unter
Berücksichtigung des Rayonverbots wäre es auch stossend, dem Beschwerdegegner
vorzuwerfen, er habe sich beim Wohnsitzwechsel nicht praxisgemäss verhalten.
Die Beschwerdeführerin wendet ein, die Vorinstanz sei den Beweis für die
angenommene Praxiskonformität schuldig geblieben. Dass eine solche Praxis
besteht, entspricht aber offenbar den Erfahrungen verschiedener kantonaler
Migrationsämter (vgl. DANIELA TREMP, in: Caroni/Gächter/Thurnherr [Hrsg.],
Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG], Bern 2010, N. 9 mit
Fn. 10 zu Art. 37 AuG). Die Beschwerdeführerin äussert sich überdies nicht zu
der weiteren Erwägung, wonach das Verhalten des Beschwerdegegners unter den
gegebenen Umständen nicht vorwerfbar sei. Weiterungen erübrigen sich, zumal das
Amt für Migration Basel-Landschaft den Antrag offenbar nicht als verspätet
betrachtet hat.

7.6. Nach dem Gesagten ist die vorinstanzliche Beurteilung, wonach die
Beschwerdeführerin im massgeblichen Zeitraum örtlich zuständig war, nicht
bundesrechtswidrig. Es liesse sich fragen, ob diese Beurteilung auch mit der
Begründung geschützt werden könnte, für die Begründung des für die
Zuständigkeit nach Art. 77 Abs. 1 AVIG erforderlichen Einwohnerqualität seien
fremdenpolizeiliche Bewilligungen letztlich nicht massgebend (vgl. zum
restriktiveren zivilrechtlichen Wohnsitz: HOTZ/SCHLATTER, in: Kurzkommentar
ZGB, 2012, N. 6 zu Art. 24 ZGB; EUGEN BUCHER, Berner Kommentar, 3. Aufl. 1976,
N. 38 zu Art. 23 ZGB, je mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Das kann
indessen offenbleiben, da die Beschwerde ohnehin abzuweisen ist.

8. 
Die unterliegende Beschwerdeführerin hat die Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1
BGG) und dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68
Abs. 1 und 2 BGG). Damit ist sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege
gegenstandslos.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdegegners für das
bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO)
schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 11. Mai 2017
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Lanz

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