Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.700/2016
Zurück zum Index I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2016
Retour à l'indice I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 2016


Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente
dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet.
Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem
Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
                                                               Grössere Schrift

Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_700/2016

Urteil vom 24. Januar 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Wirthlin,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ronald E. Pedergnana,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 29. September 2016.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1971, war im Hausdienst eines Spitals als Reinigungskraft
mit einem Pensum von 25 Prozent beschäftigt, arbeitete zudem als Hauswartin für
die B.________ AG und war bei der Arbeitslosenversicherung angemeldet (50
Prozent). Am 30. Dezember 2009 wurde sie auf dem Weg zur Arbeit ins Spital auf
einem Fussgängerstreifen angefahren. Es wurden eine
Deckenplattenimpressionsfraktur BWK12 und eine LWK1-Fraktur diagnostiziert und
es erfolgte eine stationäre konservative Behandlung bis zum 8. Januar 2010. Am
15. September 2010 meldete sich A.________ unter Hinweis auf den erlittenen
Unfall bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des
Kantons St. Gallen holte die Berichte der behandelnden Ärzte ein und liess die
Versicherte durch die Swiss Medical Assessment- and Business Center SMAB, St.
Gallen, abklären (Medizinische Abklärungsstelle MEDAS; Gutachten vom 13.
Dezember 2012). Mit Verfügung vom 2. September 2013 lehnte sie den Anspruch auf
eine Invalidenrente ab.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 29. September 2016 gut, hob die angefochtene Verfügung
vom 2. September 2013 auf und sprach A.________ mit Wirkung ab dem 1. September
2012 eine halbe Rente zu.

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Antrag, es sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und ihre Verfügung zu
bestätigen. Des Weiteren ersucht sie um Gewährung der aufschiebenden Wirkung
ihrer Beschwerde.
A.________ lässt auf Nichteintreten, eventualiter auf Abweisung der Beschwerde
schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen
lassen.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels
für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art.
105 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art.
106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend
gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann
eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es
kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der
allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG),
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel
nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

2. 
Das kantonale Gericht hat die für den Rentenanspruch massgeblichen Bestimmungen
und Grundsätze zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen.

3. 
Die Vorinstanz hat die medizinischen Akten und insbesondere das SMAB-Gutachten
sowie die dazu ergangene Einschätzung des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD)
eingehend dargelegt. Der Gesundheitszustand der Versicherten sei damit
hinreichend abgeklärt. Aus somatischer Sicht bestehe nach gutachtlicher
Einschätzung wegen Rückenbeschwerden (thorako-lumbovertebrales Syndrom ohne
Radikulopathie, posttraumatische Kyphosierung auf Höhe des thorakolumbalen
Übergangs) in einer leidensangepassten Tätigkeit (etwa im gelernten Beruf als
Näherin) eine 20-prozentige Leistungseinbusse wegen vermehrt notwendiger
Wechsel der Position (sitzend/stehend). Aus psychiatrischer Sicht sei die
Arbeitsfähigkeit ab dem Zeitpunkt der Begutachtung am 28. September 2012 um 50
Prozent eingeschränkt gewesen wegen einer mittelgradigen depressiven Episode.
Das kantonale Gericht ermittelte für die Zeit vor dem 28. September 2012 (unter
Berücksichtigung allein der somatischen Beschwerden mit einer
Arbeitsunfähigkeit von 20 Prozent) einen Invaliditätsgrad von 28 Prozent.
Danach habe die Erwerbseinbusse 55 Prozent betragen wegen zusätzlicher
Einschränkung aus psychischen Gründen mit einer Arbeitsunfähigkeit von
insgesamt 50 Prozent. Es sprach der Versicherten ab dem 1. September 2012 eine
halbe Invalidenrente zu.
Die beschwerdeführende IV-Stelle macht geltend, dass die von den
SMAB-Gutachtern diagnostizierte mittelgradige depressive Episode nicht als
invalidisierend gelte. Es sei (auch nach dem 28. September 2012) allein die
20-prozentige Arbeitsunfähigkeit aus somatischer Sicht zu berücksichtigen,
welche nach den vorinstanzlichen Feststellungen zur Invalidität unter
Berücksichtigung allein dieses Leidens zu einem rentenausschliessenden
Invaliditätsgrad von 28 Prozent führe.

4.

4.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, dass im psychiatrischen Teilgutachten
eine fundierte Auseinandersetzung mit der Arbeitsfähigkeit für die Zeit vor der
Begutachtung fehle. Eine relevante psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit sei
nicht überwiegend wahrscheinlich. Die psychisch bedingten Leiden und
Einschränkungen hätten sich aufgrund der Angaben der Versicherten nach einigen
Therapiesitzungen spätestens ab Januar 2011 kaum mehr auf die Arbeitsfähigkeit
ausgewirkt und sie habe sich in der Folge bis August 2012 nicht mehr in
psychologische Behandlung begeben. Für die Zeit nach der psychiatrischen
Begutachtung vom 28. September 2012 hingegen stellte die Vorinstanz - anders
als die IV-Stelle - auf das Gutachten ab. Für die bescheinigte 50-prozentige
Arbeitsunfähigkeit spreche, dass sich die Versicherte entsprechend den
ärztlichen Empfehlungen nach eigenen Angaben wieder in psychotherapeutische
Behandlung begeben habe. Es könne daraus nicht geschlossen werden, dass die
Depression keinen Krankheitswert gehabt beziehungsweise keine psychisch
bedingte Arbeitsunfähigkeit vorgelegen habe. Überwiegend wahrscheinlich sei die
Versicherte ab dem 28. September 2012 entsprechend der Einschätzung des
psychiatrischen Gutachters wegen einer mittelgradigen depressiven Episode zu 50
Prozent arbeitsunfähig gewesen.

4.2. Der Nachweis der Invalidität setzt nach der Rechtsprechung eine
gesundheitlich bedingte erhebliche und evidente, dauerhafte sowie
objektivierbare Beeinträchtigung voraus. Dieser Massstab gilt für sämtliche
Leiden gleichermassen (BGE 139 V 547 E. 9.4 S. 568). Bei leichten bis
mittelgradigen depressiven Störungen fehlt es praxisgemäss an der
vorausgesetzten Schwere, seien sie im Auftreten rezidivierend oder episodisch.
Sie vermögen in der Regel invalidenversicherungsrechtlich zu keiner
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu führen. Bei mittelschweren depressiven
Episoden verneint das Bundesgericht regelmässig deren invalidisierende Wirkung
(SVR 2016 IV Nr. 30 S. 90, 9C_539/2015 E. 4.1.3.1; Urteile 8C_566/2016 vom 12.
Dezember 2016 E. 3.2.2 und 8C_303/2016 vom 18. Juli 2016 E. 5).

4.3. Das kantonale Gericht folgte der Bescheinigung der depressiv bedingten
Arbeitsunfähigkeit durch den psychiatrischen Gutachter mit der Begründung, dass
sich die Versicherte - nach einer zunächst eingetretenen Besserung - erneut in
psychotherapeutische Behandlung begeben habe. Dabei stützte es sich auf die
Angaben der Versicherten im Vorbescheid- und im vorinstanzlichen Verfahren.
Ärztliche Berichte dazu wurden nicht eingereicht.
Nach der dargelegten Rechtsprechung fällt eine Arbeitsunfähigkeit bei
depressiven Störungen jedoch nur dann in Betracht, wenn es sich um ein schweres
und therapieresistentes Leiden handelt, wobei es einer mittelgradigen
depressiven Episode, wie hier gutachtlich diagnostiziert, an der
vorausgesetzten Schwere und damit auch an der invalidisierenden Wirkung
grundsätzlich fehlt. Das kantonale Gericht hat sich dazu nicht geäussert. Im
psychiatrischen Teilgutachten werden als Befunde eine "typische Symptomatik"
mit Verlust des Selbstwertgefühls, wiederkehrenden Gedanken an den Tod,
vermindertem Aufmerksamkeits- und Konzentrationsvermögen sowie
psychomotorischer Gehemmtheit und deutlicher depressiver Verstimmung,
Schlafstörungen sowie Nachlassen des Geschmacksempfindens genannt. Die
Versicherte sei in der Lage, leichte Tätigkeiten ohne erhöhte Zeitanforderung,
Umstellungsfähigkeit sowie Konzentration und Ausdauer durchzuführen. Eine
nähere Begründung für die bescheinigte 50-prozentige Arbeitsunfähigkeit findet
sich nicht. Daraus ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür und es wird auch
nicht geltend gemacht, dass das Leiden entgegen der praxisgemässen Regel so
schwer wäre, dass es auch in den vom Gutachter genannten leidensangepassten
Tätigkeiten eine Arbeitsunfähigkeit zu begründen vermöchte. Dies gilt umso
mehr, als der Gutachter die unterbliebene Behandlung als klaren Hinweis darauf
wertete, dass der Leidensdruck der Versicherten nicht erheblich sein könne.
Darüber hinaus wird weder im Gutachten noch im vorinstanzlichen Entscheid
ausgeführt, dass und weshalb nach der anfänglichen Besserung bis zur
Begutachtung plötzlich wieder eine Verschlechterung eingetreten wäre. Der
angefochtene Entscheid erweist sich in diesem Punkt als rechtsfehlerhaft und
ist aus diesem Grund aufzuheben.
Anzufügen bleibt dennoch, dass eine Therapieresistenz bis zu dem für die
richterliche Überprüfungsbefugnis massgeblichen Zeitpunkt der Verfügung vom 2.
September 2013 nicht als ausgewiesen gelten kann (BGE 129 V 167 E. 1 S. 169).
Der psychiatrische Gutachter geht davon aus, dass die angestammte Tätigkeit als
Reinigungskraft wie auch der Beruf als Näherin möglich seien und unter einer
konsequenten Therapie eine 100-prozentige Arbeitsfähigkeit zumutbar sei. Nach
Lage der Akten hat die Versicherte nach der psychiatrischen Begutachtung im
September 2012 jedoch über Monate mit der empfohlenen Behandlung zugewartet und
erst nach Erlass des Vorbescheides im Juni 2013 mitgeteilt, dass sie "jetzt"
mit einer spezialisierten Traumatherapie begonnen habe.

4.4. Eine Abweichung vom Grundsatz, dass mittelgradige depressive Störungen
weder hinreichend schwer noch therapieresistent sind und
invalidenversicherungsrechtlich deshalb zu keiner Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit führen, lässt sich unter diesen Umständen nicht begründen. Auf
die Zulässigkeit des neu eingereichten Beweismittels (Bericht des Dr. med.
C.________, FMH Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, FMH
Psychiatrie und Psychotherapie, und der Frau D.________, eidg. anerkannte
Psychotherapeutin, Zentrum E.________, vom 20. Januar 2015) ist bei diesem
Ergebnis nicht weiter einzugehen (Art. 99 Abs. 1 BGG).

5. 
Zusammengefasst ist auch für die Zeit nach der Begutachtung allein von einer
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aus somatischer Sicht auszugehen, welche das
kantonale Gericht gestützt auf die gutachtliche Einschätzung auf 20 Prozent
festgesetzt hat. Die vorinstanzlichen Feststellungen zu den erwerblichen
Auswirkungen werden nicht beanstandet und geben keinen Anlass zu Weiterungen.
Bei einer    80-prozentigen Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten
Tätigkeit resultiert ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad von 28
Prozent.

6. 
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde wird mit dem heutigen Urteil
gegenstandslos.

7. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der
unterliegenden Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 29. September 2016 wird aufgehoben und die Verfügung der
IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 2. September 2013 bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. Januar 2017
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Durizzo

Navigation

Neue Suche

ähnliche Leitentscheide suchen
ähnliche Urteile ab 2000 suchen

Drucken nach oben