Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.68/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_68/2016

Urteil vom 3. März 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Wirthlin,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Roos,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 10. Dezember 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1956, meldete sich am 16. Dezember 2010 unter Hinweis auf
ein psychisches Leiden bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die
IV-Stelle des Kantons St. Gallen holte die Berichte der behandelnden Ärzte
sowie ein psychiatrisches Gutachten des Dr. med. B.________ vom 12. April 2013
ein. Gestützt darauf lehnte sie den Anspruch auf eine Invalidenrente mit
Verfügung vom 29. Oktober 2013 ab.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 10. Dezember 2015 teilweise gut und sprach A.________
ab 1. Januar 2012 bis 31. Juli 2012 eine halbe Rente zu. Im Übrigen wies es die
Beschwerde ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag auf Zusprechung einer unbefristeten ganzen Invalidenrente ab dem
1. Januar 2012. Des Weiteren ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen
Rechtspflege.
Das Bundesgericht hat die vorinstanzlichen Akten eingeholt und verzichtet auf
einen Schriftenwechsel.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels
für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art.
105 Abs. 2 BGG). Es wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG)
und ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente
noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 134 I 65 E. 1.3 S. 67 f.,
134 V 250 E. 1.2 S. 252, je mit Hinweisen). Unter Berücksichtigung der
Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) prüft es indessen nur die geltend
gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich
sind, und ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle
sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht
nicht mehr aufgegriffen werden (BGE 134 I 313 E. 2 S. 315, 65 E. 1.3 S. 67 f.,
je mit Hinweisen).

2. 
Das kantonale Gericht hat die für den Rentenanspruch massgeblichen Bestimmungen
und Grundsätze zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen.

3. 
Nach den vorinstanzlichen Feststellungen ist gestützt auf das psychiatrische
Gutachten des Dr. med. B.________ eine vollständige Arbeitsunfähigkeit von
November bis Ende Dezember 2010, eine 50-prozentige Arbeitsunfähigkeit von
Januar 2011 bis Ende März 2012 und eine Arbeitsunfähigkeit von 30 Prozent ab
April 2012 ausgewiesen. Dr. med. B.________ führte dazu aus, dass aufgrund der
anamnestischen Angaben und der von ihm erhobenen Befunde von einer leichten bis
zeitweilig mittelgradigen depressiven Episode im Rahmen einer schon langjährig
bestehenden rezidivierenden depressiven Störung auszugehen sei. Die
Leistungsfähigkeit sei bei einem Vollpensum um 30 Prozent eingeschränkt wegen
Verminderung der Ausdauer, Erschöpfbarkeit, Konzentrationsstörungen,
verminderter Stress- und Frustrationstoleranz, Stimmungsschwankungen, Defiziten
der sozialen Kompetenzen bei verminderter Kommunikations-, Konflikt- und
Abgrenzungsfähigkeit, Einschränkungen der Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit,
Verlangsamung des Arbeitstempos und vermehrtem Pausenbedarf.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, nach der Begutachtung sei eine
Verschlechterung eingetreten; sie habe die vom Gutachter bescheinigte
Arbeitsfähigkeit nicht umsetzen können und sei weiterhin nur zu 50 Prozent
leistungsfähig. Massgeblich für die richterliche Überprüfungsbefugnis ist dabei
der Zeitpunkt des Verfügungserlasses (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 220; 129 V 167
E. 1 S. 169). Das kantonale Gericht hat sich zum Gesundheitszustand der
Versicherten eingehend geäussert. Es lagen keine Berichte vor, die konkrete
Indizien gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens begründet hätten, und weitere
medizinische Abklärungen waren daher nicht angezeigt (BGE 137 V 210 E. 1.3.4 S.
227; 135 V 465 E. 4.4 S. 470; 125 V 351 E. 3b/bb S. 353). Die beim
Bundesgericht eingereichten Stellungnahmen des Arbeitgebers und des Hausarztes
können, da aus der Zeit nach dem angefochtenen Entscheid stammend, als echte
Noven zum vornherein keine Beachtung finden (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 133 IV 342
E. 2.1 S. 343 f.; Urteil 5A_115/2012 vom 20. April 2012 E. 4.2.2). Es ist
deshalb für die Rentenzusprechung mit dem kantonalen Gericht auf die von Dr.
med. B.________ bescheinigten Arbeitsunfähigkeiten abzustellen.

4.

4.1. Zu den erwerblichen Auswirkungen der Gesundheitsschädigung hat das
kantonale Gericht erwogen, die Beschwerdeführerin habe die ursprünglich
erlernte Tätigkeit als technische Zeichnerin nach dem Jahr 1983 nicht mehr
ausgeübt und verfüge wegen dieser langen Berufsabwesenheit aus
invaliditätsfremden Gründen nicht mehr über eine verwertbare Leistungsfähigkeit
in diesem Beruf. Es ging beim Validen- und beim Invalideneinkommen jeweils vom
gleichen statistischen Einkommen aus. Dabei erübrigte sich deren genaue
Ermittlung; der Invaliditätsgrad entspricht dem Grad der Arbeitsunfähigkeit
unter Berücksichtigung des Abzuges vom Tabellenlohn (Urteil I 1/03 vom 15.
April 2003 E. 5.2). Dagegen wehrt sich die Beschwerdeführerin.

4.2. Beim Valideneinkommen ist nach Art. 16 ATSG massgeblich, was die
Beschwerdeführerin verdienen würde, wenn sie nicht invalid geworden wäre.
Weshalb dafür der Lohn als technische Zeichnerin beizuziehen sei, begründet die
Beschwerdeführerin nicht näher. Insbesondere wird nicht bestritten, dass sie
ihren erlernten Beruf aus familiären und nicht aus gesundheitlichen Gründen
aufgegeben und seit über dreissig Jahren nicht mehr ausgeübt hat. Es ist daher
mit der Vorinstanz nicht mit der erforderlichen überwiegenden
Wahrscheinlichkeit erstellt, dass die Beschwerdeführerin als Gesunde nach
langen Jahren der Abwesenheit vom Erwerbsleben wieder eine Stelle als
technische Zeichnerin finden würde und damit oder auch in einem anderen Beruf
den von ihr geltend gemachten Verdienst von 69'524 Franken erzielen könnte.

4.3. Beim Invalideneinkommen ist nach Ansicht der Beschwerdeführerin auf ihr
aktuelles Einkommen von 18'621 Franken pro Jahr abzustellen. Bei Stellenantritt
am 1. Januar 2012 war jedoch noch nicht abzusehen, dass die Beschwerdeführerin
nach der dreimonatigen Einarbeitung eine Festanstellung erhalten würde. Die ihr
verbleibende Arbeitsfähigkeit von 70 Prozent ab April 2012, wie oben (E. 3)
beschrieben (von der Vorinstanz berücksichtigt ab dem 1. August 2012, Art. 88a
Abs. 1 IVV), schöpft sie nicht in zumutbarer Weise voll aus. Der tatsächlich
erzielte Verdienst kann unter diesen Umständen nicht als Invalidenlohn gelten (
BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475).
Die Beschwerdeführerin beantragt einen 20-prozentigen Abzug vom Tabellenlohn
statt der gewährten zehn Prozent. Die Bestimmung der Höhe einer solchen
Reduktion (BGE 129 V 472 E. 4.2.3 S. 481; 126 V 75 E. 5 S. 78 ff.) stand im
Ermessen des kantonalen Gerichts (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399). Eine
Angemessenheitskontrolle ist dem Bundesgericht verwehrt (Art. 95 lit. a BGG;
BGE 134 V 322 E. 5.3 S. 328; 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 8C_644/2008 vom
19. August 2009 E. 6.1, nicht publ. in: BGE 135 V 353, aber in: SVR 2010 IV Nr.
6 S. 13). Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass neben dem Alter auch die
Anzahl der Dienstjahre, der Beschäftigungsgrad und die Wohnregion hätten
berücksichtigt werden müssen. Fehlende Dienstjahre an einer neuen
(leidensangepassten) Arbeitsstelle führen jedoch nicht zu einem Abzug, weil
diesem Kriterium bei einfachen und repetitiven Tätigkeiten im privaten Sektor
keine grosse Bedeutung zukommt (BGE 126 V 75 E. 5a/cc S. 79; SVR 2015 IV Nr. 1
S. 18, 8C_97/2014 E. 4.2). Der Umstand, dass die grundsätzlich vollzeitlich
arbeitsfähige Versicherte krankheitsbedingt lediglich reduziert leistungsfähig
ist, rechtfertigt praxisgemäss keinen Abzug, der über die Berücksichtigung der
eingeschränkten Leistungsfähigkeit und damit des Rendements hinausgeht (Urteil
8C_20/2012 vom 4. April 2012 E. 3.2 und 3.3). Ein allfälliger regional
unterdurchschnittlicher Invalidenlohn hat beim Vergleich mit einem
statistischen gesamtschweizerischen Lohn auch auf der Seite des Validenlohnes
unberücksichtigt zu bleiben (SVR 2012 UV Nr. 26 S. 93, 8C_744/2011 E. 5.2 und
6.1; 8C_683/2009 vom 26. Februar 2010 E. 4.1).

5. 
Zusammengefasst vermögen die Einwände der Beschwerdeführerin sowohl die
vorinstanzliche Beurteilung ihrer Arbeitsfähigkeit als auch der erwerblichen
Auswirkungen der Gesundheitsschädigung nicht als offensichtlich unrichtig oder
rechtsfehlerhaft erscheinen zu lassen.

6. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der
unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in
Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne
der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen
Verbeiständung, Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG) kann gewährt werden, weil die
Bedürftigkeit aktenkundig ist. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4
BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz
zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Markus Roos wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 3. März 2016
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Durizzo

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