Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.581/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]         
8C_581/2016{T 0/2}     

Urteil vom 14. Februar 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
Gerichtsschreiber Nabold.

Verfahrensbeteiligte
 A.A.________,
handelnd durch die Berufsbeistandschaft Thurgau Nordwest, Frau B._________, und
diese vertreten durch Rechtsanwalt Hans Ulrich Grauer,
Beschwerdeführerin,

gegen

 AXA Versicherungen AG,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung (Hinterlassenenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 3. August 2016.

Sachverhalt:

A. 
A.B.________ war bei der AXA Versicherungen AG gegen die Folgen von Unfällen
versichert. Am 21. Mai 2013 wurde er tot in seiner Wohnung aufgefunden. Mit
Verfügung vom 20. Februar 2015 und Einspracheentscheid vom 19. Januar 2016
lehnte es die AXA ab, Leistungen im Zusammenhang mit dem Ableben des
A.B.________ auszurichten, da sein Tod nicht auf ein versichertes Ereignis
zurückzuführen sei.

B. 
Die von A.A.________ als Tochter des Verstorbenen hiegegen erhobene Beschwerde
wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 3. August
2016 ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt
A.A.________, die AXA sei unter Aufhebung des Einsprache- und des kantonalen
Gerichtsentscheides zu verpflichten, im Zusammenhang mit dem Tod des
A.B.________ die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. Gleichzeitig stellt
A.A.________ ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege.

Erwägungen:

1. 

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob der Versicherte als Folge eines versicherten
Ereignisses verstorben ist.

3.

3.1. Die Zusprechung von Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung
setzt grundsätzlich das Vorliegen eines Berufsunfalles, eines
Nichtberufsunfalles oder einer Berufskrankheit voraus (Art. 6 Abs. 1 UVG).
Unfall ist die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines
ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine
Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder
den Tod zur Folge hat (Art. 4 ATSG).

3.2. Hat der Versicherte den Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich
herbeigeführt, so besteht gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG kein Anspruch auf
Versicherungsleistungen, mit Ausnahme der Bestattungskosten. Wollte sich der
Versicherte nachweislich das Leben nehmen oder sich selbst verstümmeln, so
findet Art. 48 UVV Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn der Versicherte zur
Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln,
oder wenn die Selbsttötung, der Selbsttötungsversuch oder die
Selbstverstümmelung die eindeutige Folge eines versicherten Unfalles war.

3.3. Rechtsprechungsgemäss ist aufgrund der Macht des Selbsterhaltungstriebes
in der Regel von einer natürlichen Vermutung der Unfreiwilligkeit einer
Selbsttötung und damit vom Vorliegen eines Unfalles auszugehen, wenn Zweifel
bestehen, ob der Tod eines Versicherten durch Unfall oder Suizid herbeigeführt
worden ist. Dass der Versicherte willentlich aus dem Leben geschieden ist, darf
daher nur dann als nachgewiesen gelten, wenn gewichtige Indizien jede andere
den Umständen angemessene Deutung ausschliessen. Deshalb ist in solchen Fällen
zunächst von der durch den Selbsterhaltungstrieb gegebenen Vermutung
auszugehen, es liege keine Selbsttötung vor, und sodann zu fragen, ob derart
überzeugende Umstände vorliegen, dass diese Vermutung widerlegt wird (Urteil
8C_550/2010 vom 6. September 2010 E. 2.3 mit Hinweis auf RKUV 1996 Nr. U 247 S.
168 E. 2b). Eine solche Vermutung führt faktisch zu einer Umkehr der Beweislast
(vgl. Urteil 8C_271/2012 vom 17. Juli 2012 E. 3.2.1 mit weiteren Hinweisen).
Damit ist im Falle einer Beweislosigkeit zur Frage, ob eine versicherte Person
eine Selbsttötung beging oder ob sie der Tod unfreiwillig erlitten hat, von
einem unfreiwilligen Tod auszugehen. Die Vermutung verbietet aber nicht, aus
dem Umstand, dass aufgrund der Sachlage ein unfreiwilliger Tod als weniger
wahrscheinlich als ein Suizid erscheint, auf das Vorliegen einer Selbsttötung
zu schliessen. So bejahte das Bundesgericht etwa trotz fehlender vorgängiger
Hinweise auf eine Suizidialität des Versicherten eine Selbsttötung bei einem
Mann, der trotz eines einfahrenden Zuges auf dem Gleis verharrte, da sein
Verhalten sich nur mit suizidialen Absichten erklären liess und die möglichen
Sachverhaltsalternativen als unplausibel erschienen (vgl. erwähntes Urteil
8C_550/2010 vom 6. September 2010 E. 4.3).

4. 
Es steht fest und ist unbestritten, dass der Versicherte an einer Vergiftung in
Folge der Einnahme von Pflanzenteilen des Blauen Eisenhuts (Aconitum napellus)
verstorben ist. Umstritten sind jedoch die Umstände des Verzehrs dieser
Pflanzenteile.

4.1. Die Beschwerdeführerin weist auf die Möglichkeit einer Drittbeteiligung
hin. In der Tat hat die Staatsanwaltschaft in diese Richtung Ermittlungen
getätigt. Da ein Dritteinwirken zwar nicht ausgeschlossen werden konnte, aber
doch als unwahrscheinlich angesehen wurde, hat sie das Strafverfahren
eingestellt. So ist weder ein Motiv ersichtlich, weshalb jemand den
Versicherten hätte vergiften wollen, noch ist klar, wie eine allfällige
Drittperson vorgegangen wäre. Ein Dritteinwirken erscheint somit, wie die
Beschwerdeführerin im Übrigen selber einräumt, nicht als überwiegend
wahrscheinlich. Dass weitere Abklärungen daran noch etwas zu ändern vermöchten,
ist nicht anzunehmen und auch nicht geltend gemacht.

4.2. Es steht weiter fest, dass der Versicherte aufgrund seiner Ausbildung den
Blauen Eisenhut kannte und von der hohen Giftigkeit der Pflanze wusste. Ist
nach dem Gesagten eine Dritteinwirkung nicht überwiegend wahrscheinlich, so
muss der Versicherte die Pflanze mit Wissen und Willen zu sich genommen haben;
es fehlen jegliche Hinweise auf einen anderen Geschehensablauf. Fraglich ist
demnach lediglich, ob der Verzehr in suizidaler Absicht oder zum Zweck eines
Medikamenten- oder Drogenexperimentes erfolgte. Wie die Beschwerdeführerin in
anderem Zusammenhang selber einräumt, erscheint es jedoch als reichlich
ungewöhnlich, dass eine Person ohne suizidale Absichten eine solch giftige
Pflanze wissentlich einnimmt. Es fehlen in den Akten auch jegliche Hinweise
darauf, dass sich der Versicherte für alternativmedizinische
Behandlungsmethoden interessiert oder Erfahrungen mit Drogen (ausser Alkohol)
gemacht hätte. Eine Selbsttötung erscheint damit als bedeutend wahrscheinlicher
als ein misslungenes Drogen- oder Medikamentenexperiment, was unter den
gegebenen Umständen gegen die Vermutung spricht, die versicherte Person sei
unfreiwillig aus dem Leben geschieden. Daran ändert nichts, dass sich das Motiv
für einen Suizid nicht ohne weiteres nachvollziehen lässt, muss doch dies von
vielen Selbsttötungen gesagt werden. Aus dem Fahrradkauf des Versicherten kurz
vor seinem Tod lässt sich entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführerin nichts
ableiten, kann doch dieser auch als Entschluss, sich vor seinem geplanten Tod
noch etwas zu gönnen, interpretiert werden. Im Übrigen dringt die
Beschwerdeführerin bei der gegebenen Sachlage mit ihrer Argumentation nicht
durch, es sei schon deshalb überwiegend wahrscheinlich von einem versicherten
Ereignis auszugehen, weil von den denkbaren Ablebensvarianten eine Mehrheit den
Unfallbegriff erfüllen würde.

4.3. Hat sich der Versicherte somit überwiegend wahrscheinlich selber getötet,
so setzte eine Leistungspflicht der Unfallversicherung für seinen Tod unter
anderem voraus, dass der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich
unfähig war, vernunftgemäss zu handeln oder dass die Selbsttötung die
eindeutige Folge eines versicherten Unfalles war. Beide Tatbestandsvarianten
sind vorliegend unbestrittenermassen zu verneinen. Somit braucht nicht näher
geprüft zu werden, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen der Tod
aufgrund des Verzehrs einer tödlichen Menge von Pflanzenteilen des Blauen
Eisenhuts überhaupt den Unfallbegriff erfüllt. Das kantonale Gericht hat eine
Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin für den Tod des Versicherten somit
jedenfalls im Ergebnis zu Recht verneint; die Beschwerde ist abzuweisen.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um
unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die entsprechenden
gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird
indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn
sie später dazu in der Lage ist.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Hans Ulrich Grauer wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und
dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 14. Februar 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Nabold

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