Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.572/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_572/2016

Urteil vom 15. Dezember 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Frésard,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Verfahrensbeteiligte
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Advokat Sebastian Laubscher,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Unfallversicherung (Kausalzusammenhang),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Basel-Landschaft
vom 8. Juli 2016.

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________, geboren 1961, war über die B.________ AG, Personal- &
Stellenvermittlung, bei der C.________ AG beschäftigt und bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) für die Folgen von Berufs-
und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Am 1. November 2007
klemmte er sich am Arbeitsplatz in der Halterung für eine etwa zwei bis vier
Tonnen schwere Rolle, welche mit einem Kran abgelegt wird, den kleinen Finger
der rechten Hand ein. Im Spital D.________ wurde ein Quetschtrauma
diagnostiziert und die Endphalanx amputiert. Die ärztliche Behandlung konnte am
17. Dezember 2007 abgeschlossen werden. Bis dahin erbrachte die SUVA die
gesetzlichen Leistungen. A.________ begab sich in der Folge zur Abklärung
anhaltender Nacken- und Armbeschwerden in die Klinik für Orthopädische
Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates des Spitals D.________. Dr.
med. E.________ attestierte ab dem Zeitpunkt seines Konsiliums am 11. Januar
2008 eine volle Arbeitsunfähigkeit. Für diese Beschwerden lehnte die SUVA ihre
Leistungspflicht mit Verfügung vom 24. August 2009 ab und hielt daran auch auf
Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 11. November 2009).

A.b. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft
mit Entscheid vom 30. Juni 2010 gut und wies die Sache zu weiteren Abklärungen
an die SUVA zurück.

A.c. Die SUVA holte ein Gutachten des Dr. med. F.________, Facharzt für
Neurochirurgie FMH, vom 30. Juni 2012 ein. Gestützt darauf schloss sie den Fall
mit Verfügung vom 31. Oktober 2012 und Einspracheentscheid vom 13. März 2013
auf den 29. Februar 2008 hin ab und lehnte eine darüber hinausgehende
Leistungspflicht ab mit der Begründung, dass der Status quo sine zu diesem
Zeitpunkt erreicht gewesen sei. Die danach noch bestehenden Beschwerden seien
nicht mehr unfallbedingt, sondern ausschliesslich krankhafter Natur gewesen.

B. 
A.________ liess dagegen Beschwerde führen. Mit Beschluss vom 5. Dezember 2013
stellte das Kantonsgericht den Fall aus. Es war anlässlich der Urteilsberatung
zur Auffassung gelangt, dass eine abschliessende Beurteilung der Angelegenheit
gestützt auf die vorhandene medizinische Aktenlage nicht möglich sei.
A.________ hatte einen Bericht des PD Dr. med. G.________, Spital D.________,
vom 3. Juni 2013 eingereicht, wozu sich die SUVA mit einer
neurologisch-orthopädischen Beurteilung des PD Dr. med. H.________ sowie des
Dr. med. I.________, SUVA Versicherungsmedizin, vom 3. Juli 2013 hatte
vernehmen lassen. Das Kantonsgericht führte am 20. Mai 2014 einen Augenschein
bei der C.________ AG durch und holte ein Gutachten des Zentrums für
Medizinische Begutachtung, Basel (ZMB), vom 16. März 2015 ein. Die SUVA nahm
dazu Stellung mit den neurologischen und orthopädisch-chirurgischen
Beurteilungen des PD Dr. med. H.________ und des Dr. med. I.________.
Mit Entscheid vom 8. Juli 2016 hiess das Kantonsgericht die Beschwerde gut, hob
den Einspracheentscheid vom 13. März 2013 auf und verpflichtete die SUVA, dem
Beschwerdeführer für den Unfall vom 1. November 2007 über den 29. Februar 2008
hinaus die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. Des Weiteren auferlegte es der
SUVA die Kosten für die gerichtliche Begutachtung in der Höhe von Fr. 25'705.90
und sprach dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 13'671.20 zu.

C. 
Die SUVA lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen. Sie
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides, insbesondere auch
hinsichtlich der Regelung der Kosten, und Rückweisung an das Kantonsgericht.
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen und um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege ersuchen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet
auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2. 
Das kantonale Gericht hat die für die Leistungspflicht des Unfallversicherers
massgeblichen Bestimmungen und Grundsätze zutreffend dargelegt. Es wird darauf
verwiesen. Hervorzuheben ist, dass die Leistungspflicht des Unfallversicherers
nebst anderem einen natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem
Unfall und dem eingetretenen Schaden voraussetzt. Liegt eine
Gesundheitsschädigung mit einem klaren organischen Substrat vor, kann der
adäquate Kausalzusammenhang in der Regel ohne Weiteres zusammen mit dem
natürlichen Kausalzusammenhang bejaht werden. Bei natürlich unfallkausalen,
aber organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerden ist die Adäquanz
gesondert zu prüfen (zum Ganzen: BGE 134 V 109 E. 2.1 S. 112 mit Hinweisen; SVR
2008 UV Nr. 36 S. 137, 8C_637/2007 E. 1).

3. 
Die Vorinstanz hat erwogen, dass keine zwingenden Gründe bestünden, vom
Gerichtsgutachten abzuweichen (BGE 135 V 465 E. 4.4 S. 469). Sie ist gestützt
darauf davon ausgegangen, dass der Unfall vom 1. November 2007 zu einer
richtunggebenden Verschlimmerung des Vorzustandes im Bereich der
Halswirbelsäule geführt habe. Der Versicherte sei in einer leidensangepassten
Tätigkeit nur noch zu 60 Prozent arbeitsfähig.
Die SUVA rügt, dass das kantonale Gericht und die Gerichtsgutachter
hinsichtlich des Unfallhergangs zu Unrecht davon ausgegangen seien, der
Versicherte sei gestürzt, als er seinen eingeklemmten Finger habe befreien
wollen. Er habe sich aber erst nach dem Rückweisungsurteil entsprechend
geäussert. Es sei des Weiteren nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
erstellt, dass die Beschwerden an der Halswirbelsäule bereits unmittelbar nach
dem Unfall aufgetreten seien. Die Experten vermöchten sich bei ihren
Schlussfolgerungen hinsichtlich der natürlichen Kausalität lediglich auf
Hypothesen und insbesondere auf die subjektiven Angaben des Versicherten zu
stützen, womit aber ein natürlich-kausaler Zusammenhang zwischen den erhobenen
Befunden und dem Unfall nicht mit der erforderlichen überwiegenden
Wahrscheinlichkeit erstellt sei. Schliesslich stehe die Konsensusbeurteilung
mit der Bescheinigung einer Arbeitsfähigkeit von nur 60 Prozent im Widerspruch
zu den Teilgutachten, denn allein aus orthopädischer wie auch aus
neurologischer Sicht habe sich keine Einschränkung begründen lassen.

4. 
Die Gerichtsgutachter haben den Versicherten allgemeinmedizinisch und
internistisch, orthopädisch, neurologisch sowie psychiatrisch abgeklärt. Aus
allgemeinmedizinischer und internistischer sowie aus psychiatrischer Sicht
bestanden keine Erkrankungen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit. Der
Orthopäde bescheinigte eine volle Arbeitsfähigkeit für leichte Tätigkeiten
(unter Vermeidung von Überkopfarbeiten, häufigem Knien und Kauern sowie
Besteigen von Leitern und Gerüsten). Gleiches galt aus neurologischer Sicht
(bei Vermeidung von Tätigkeiten, welche mit Arbeiten über Kopf sowie
Zwangshaltungen verbunden sind). In der Konsenskonferenz wurde die
Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit auf lediglich 60 Prozent
festgelegt. Es wird ausdrücklich angeführt, dass keinerlei Beeinträchtigungen
im intellektuellen oder emotionalen Bereich bestünden, welche eine
Verlangsamung, eine Erschwerung der Willensbildung ("und so weiter")
rechtfertigen würden. Der Versicherte sei in der zeitlichen Präsenz, weniger im
Rendement, eingeschränkt aufgrund des Schmerzerlebens.
Es findet sich für diese Einschränkung keine Begründung und es ist nicht
nachvollziehbar, weshalb insgesamt eine lediglich 60-prozentige
Arbeitsfähigkeit bescheinigt wird, während in allen Einzelgutachten eine volle
Arbeitsfähigkeit bei leidensangepasster Tätigkeit als zumutbar erachtet wird.
Diese Ungereimtheit ist nicht ohne Weiteres auszuräumen und die
Widersprüchlichkeit in den Arbeitsfähigkeitseinschätzungen nicht zu klären.
Soweit die Gerichtsgutachter hiezu das Schmerzerleben anführen, ist darauf
hinzuweisen, dass subjektive Schmerzangaben der versicherten Person nicht
genügen für die Begründung einer Invalidität (BGE 139 V 547 E. 5.4 S. 556).
Nach Art. 7 Abs. 2 ATSG liegt eine Erwerbsunfähigkeit nur dann vor, wenn sie
aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist (BGE 139 V 547 E. 5.7 S. 557). Die
fehlende Begründung der von den Gerichtsexperten bescheinigten
Arbeitsunfähigkeit ist ein zwingender Grund, vom Gerichtsgutachten abzuweichen
(BGE 135 V 465 E. 4.4 S. 469). Die Ausführungen der Gutachter erlauben
diesbezüglich keine schlüssige Beurteilung. Der Untersuchungsgrundsatz und die
Beweiswürdigungsregeln gebieten eine ergänzende Abklärung und Rückfrage bei den
ZMB-Ärzten.

5.

5.1. Nach dem Gerichtsgutachten klagt der Versicherte über konstante Schmerzen
am rechten Arm bis in die Hand, ein Brennen beziehungsweise Druckgefühl im
Nacken sowie eine Sensibilitätsverminderung und Missempfindungen am Vorderarm
und an der Hand, verbunden mit einer leichten Kraftverminderung. Gestützt auf
die orthopädische sowie die neurologische Einschätzung scheinen diese
Beschwerden (cervicoradikuläre Symptome) durch eine Diskushernie mit
Beeinträchtigung der Wurzel C7 verursacht zu werden. Nach der gemeinsamen
Beurteilung kamen die Gutachter zum Schluss, dass sich beim Unfall vom 1.
November 2007 ein (angeborener beziehungsweise posttraumatischer, durch einen
früheren Unfall bedingter) Vorzustand im Bereich der Halswirbelsäule
richtunggebend verschlimmert habe. Beschwerden seien erst nach dem Unfall vom
1. November 2007 aufgetreten.

5.2. Das kantonale Gericht hat sich im Einzelnen nicht dazu geäussert, ob diese
Beschwerden - soweit unfallbedingt - organisch objektiv ausgewiesen sind (BGE
138 V 248 E. 5.1 S. 251 und oben E. 2). Es wird prüfen, ob sich diese Frage
anhand des Gerichtsgutachtens schlüssig beantworten lässt, die ZMB-Gutachter
allenfalls auch diesbezüglich ergänzend Stellung nehmen lassen und gestützt
darauf über die Beschwerde neu entscheiden.

6. 
Die Sache ist aus diesen Gründen dem Antrag der SUVA entsprechend an das
kantonale Gericht zurückzuweisen. Nach erfolgter ergänzender Abklärung und
neuem Entscheid über die Ansprüche des Versicherten wird die Vorinstanz auch
über die Kosten des Gerichtsgutachtens erneut befinden.

7. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
Prozessausgang entsprechend dem Beschwerdegegner auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz
1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne der vorläufigen Befreiung von
den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung, Art. 64 Abs. 1 und
Abs. 2 BGG) kann gewährt werden. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs.
4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse
Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 8. Juli 2016
aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.

2. 
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Advokat
Sebastian Laubscher wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners wird aus der Bundesgerichtskasse eine
Entschädigung von Fr. 1'200.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 15. Dezember 2016
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Durizzo

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