Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.566/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_566/2016

Urteil vom 12. Dezember 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Frésard,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Alex Beeler,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 18. Juli 2016.

Sachverhalt:

A.

A.a. Der 1962 geborene A.________ musste seinen Beruf als Autolackierer wegen
einer Lösungsmittelallergie aufgeben. Mit der Unterstützung der
Invalidenversicherung liess er sich zum Steinbildhauer umschulen (Lehrabschluss
im Jahr 1987). In der Folge war er als selbstständig erwerbender Steinbildhauer
tätig. Am 18. Februar und 8. Oktober 1998 zog er sich bei
Motorfahrzeug-Auffahrunfällen jeweils eine Distorsion der Halswirbelsäule (HWS)
zu. Die IV-Stelle Luzern sprach ihm mit Verfügung vom 25. Juni 2004 rückwirkend
ab 1. Oktober 1999 eine halbe Rente, gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 50
%, und ab 1. Januar 2002 eine unbefristete ganze Rente, basierend auf einem
Invaliditätsgrad von 75 %, zu. Im Rahmen einer Revision von Amtes wegen
bestätigte sie den Anspruch auf eine ganze Rente (Mitteilung vom 26. Oktober
2007). Im Oktober 2010 leitete sie ein weiteres Revisionsverfahren ein. Nach
Durchführung des Vorbescheidverfahrens hob sie die bisherige Rente unter
Hinweis auf lit. a Abs. 1 der am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen
Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision,
erstes Massnahmenpaket [AS 2011 5659; BBl 2011 2723 und 2010 1817];
nachfolgend: SchlB IVG) mit Verfügung vom 16. Mai 2012 per Ende Juni 2012 auf.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (seit 1. Juni 2013: Kantonsgericht
Luzern) bestätigte diese Verfügung (Entscheid vom 31. Mai 2013). In teilweiser
Gutheissung der dagegen geführten Beschwerde hob das Bundesgericht diesen
Entscheid sowie den Verwaltungsakt der IV-Stelle auf und wies die Sache zu
neuer Verfügung an die IV-Stelle zurück; im Übrigen wurde die Beschwerde
abgewiesen (Urteil 8C_505/2013 vom 8. Januar 2014).

A.b. Die IV-Stelle holte in der Folge ein polydisziplinäres Gutachten beim
Begutachtungszentrum BL, Binningen (nachfolgend: BEGAZ) ein, welches am 28.
November 2014 erstattet wurde. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens hob
sie die ganze Invalidenrente mit Verfügung vom 27. Februar 2015 erneut auf.

B. 
In teilweiser Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde bestätigte das
Kantonsgericht Luzern die Rentenaufhebung und wies die Sache an die IV-Stelle
zurück, damit sie gemäss den Erwägungen verfahre (Durchführung von
Wiedereingliederungsmassnahmen und Gewährung einer Übergangsrente; Entscheid
vom 18. Juli 2016).

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, es sei festzustellen, dass eine Revision nach SchlB IVG
unzulässig sei und es sei ihm weiterhin eine ganze Rente auszurichten;
eventualiter sei die ganze Rente ab 1. Februar 2015 auf eine Dreiviertelsrente
herabzusetzen.

Das Bundesgericht hat die Akten eingeholt. Auf die Durchführung eines
Schriftenwechsels wird verzichtet.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht
gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen
Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr aufgegriffen
werden (BGE 134 I 313 E. 2 S. 315, 65 E. 1.3 S. 67 f., je mit Hinweisen). Das
Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz
festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung
nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf
einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens
entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG).

2. 
Bereits im Urteil 8C_505/2013 vom 8. Januar 2014 stellte das Bundesgericht
fest, dass vorliegend die Voraussetzungen für eine Rentenüberprüfung nach
Massgabe der SchlB IVG grundsätzlich gegeben sind (Urteil 8C_505/2013 vom 8.
Januar 2014 E. 2.2.2). Diese Vorgaben der 6. IV-Revision betreffen Renten,
welche bei psychosomatischen Leiden gesprochen wurden (BGE 139 V 547).
Massgeblich und zu beurteilen war, ob bei der Rentenzusprechung ein
pathogenetisch-ätiologisch unklares syndromales Beschwerdebild ohne
nachweisbare organische Grundlage vorlag und damit die Voraussetzungen für die
Anwendbarkeit der erwähnten Bestimmungen gegeben sind. Dies wurde
letztinstanzlich im Urteil 8C_505/2013 vom 8. Januar 2014 bejaht. Darauf kann
im vorliegenden Prozess nicht mehr zurückgekommen werden.

3.

3.1.

3.1.1. Ob im Zeitpunkt der Rentenaufhebung eine Erwerbsunfähigkeit im Sinne von
Art. 7 Abs. 2 ATSG bestand, konnte demgegenüber im Urteil 8C_505/2013 vom 8.
Januar 2014 mangels neuerer und umfassender medizinischer Angaben nicht
beantwortet werden, weshalb die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen wurde,
damit sie eine polydisziplinäre Begutachtung veranlassen konnte (Urteil 8C_505/
2013 vom 8. Januar 2014 E. 4.3). Die Verwaltung holte deshalb in der Folge das
BEGAZ-Gutachten vom 28. November 2014 ein. Darin werden mit Auswirkung auf die
Arbeitsfähigkeit eine rezidivierende depressive Störung, aktuell leichte bis
mittelgradige Episode, ein Verdacht auf Persönlichkeitsakzentuierung oder
Persönlichkeitsstörung, mehrfaktoriell bedingte Testleistungsdefizite, ein
zervikogenes Schmerzsyndrom und eine muskuläre Dysbalance am Schultergürtel
beidseits mit ausgeprägter Tonuserhöhung und schmerzhaften Myogelosen
diagnostiziert. Als Diagnosen ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit sind
eine Schmerzstörung mit körperlichen und psychischen Faktoren, eine
skoliotische Fehlhaltung der Wirbelsäule und Hyperkyphose der Brustwirbelsäule
und ein Status nach Operation einer lateralen Meniskusläsion am linken Knie
(zirka 1982) aufgeführt. In der angestammten (selbstständigen) Erwerbstätigkeit
als Steinbildhauer wird eine 80%ige, in einer leidensadaptierten
(unselbstständigen) Arbeit mit klaren Vorgaben eine 50%ige Arbeitsunfähigkeit
attestiert.

3.1.2. Gestützt auf die BEGAZ-Expertise gelangt das kantonale Gericht zum
Schluss, dass aus somatischer Sicht keine objektivierbaren Befunde nachweisbar
seien, welche die vom Versicherten beklagten Beschwerden erklären könnten. Die
vom psychiatrischen Experten attestierte bloss teilweise Arbeitsfähigkeit von
50 % sei nicht nachvollziehbar und nicht begründbar. In Anwendung der neuen
Schmerzrechtsprechung sei ein invalidenversicherungsrechtlich relevanter
funktioneller Schweregrad anhand der Indikatoren zu verneinen. Eine
Validitätseinbusse sei nicht nachweisbar und daher sei eine vollumfängliche
Arbeitsfähigkeit zumutbar. Ein Rentenanspruch bestehe nicht mehr.

3.2.

3.2.1. Zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit zufolge einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung ist nunmehr BGE 141 V 281 massgeblich. Dabei hat
sich jedoch an der Rechtsprechung zu Art. 7 Abs. 2 ATSG nichts geändert: Es
sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu
berücksichtigen; zu prüfen ist, ob es der versicherten Person objektiv
zuzumuten ist, eine Arbeitsleistung zu erbringen, wobei die materielle
Beweislast bei der rentenansprechenden Person liegt (BGE 141 V 281,
insbesondere E. 3.7 S. 295 f., E. 6 S. 307 f., E. 8 S. 309). Die Rechtsprechung
zu den psychosomatischen Leiden nach BGE 141 V 281 gelangt auch auf
Rentenüberprüfungen gemäss SchlB IVG zur Anwendung (SVR 2016 IV Nr. 20 S. 58,
9C_354/2015 E. 5).

3.2.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, bei der vom psychiatrischen
BEGAZ-Gutachter Dr. med. B.________ diagnostizierten depressiven Störung handle
es sich um ein selbstständiges, von der Schmerzstörung losgelöstes Leiden, auf
welches die Schmerzrechtsprechung nicht anwendbar sei. Es trifft zwar zu, dass
Dr. med. B.________ die rezidivierende depressive Störung, aktuell leichte bis
mittelgradige Episode, unter die Diagnosen mit Auswirkungen auf die
Arbeitsfähigkeit einordnet, während er die Schmerzstörung unter den Diagnosen
ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit auflistet. Daraus allein kann
allerdings entgegen der Ansicht des Versicherten nicht schon der Schluss
gezogen werden, die depressive Episode sei als eigenständiges psychisches
Krankheitsbild zu qualifizieren. In seiner Beurteilung gibt Dr. med. B.________
namentlich an, dass eine chronifizierte längerfristige Störung über mehrere
Jahre nicht bestätigt werden könne, sondern einzig die Tendenz, je nach
Belastung mit depressiven Zuständen zu reagieren. Eine klare Abgrenzung von
depressiver Symptomatik und Schmerzproblematik findet - abgesehen von der
unterschiedlichen Einordnung in der Diagnoseliste - nicht statt. Deshalb ist
der vorinstanzliche Schluss auf ein nach wie vor bestehendes unklares
Beschwerdebild ohne verselbstständigtes psychisches Leiden nicht offensichtlich
unrichtig oder rechtsfehlerhaft.

Psychische Störungen gelten grundsätzlich nur dann als invalidisierend, wenn
sie schwer und therapeutisch nicht (mehr) angehbar sind (BGE 141 V 281 E.
4.3.1.2 S. 299). Bei leichten bis mittelgradigen depressiven Störungen fehlt es
an der vorausgesetzten Schwere, seien sie im Auftreten rezidivierend oder
episodisch (Urteile 9C_13/2016 vom 14. April 2016 E. 4.2; 9C_539/2015 vom 21.
März 2016 E. 4.1.3.1; 8C_104/2014 vom 26. Juni 2014 E. 3.3.4). Das kantonale
Gericht verneint deshalb auf der Grundlage des BEGAZ-Gutachtens
konsequenterweise eine Validitätseinbusse. Die in der Beschwerde dagegen
erhobenen Einwendungen vermögen allesamt keine willkürliche, Bundesrecht
verletzende vorinstanzliche Beweiswürdigung zu begründen. Sie sind nicht
geeignet, die entscheidwesentlichen Sachverhaltsdarstellungen des kantonalen
Gerichts als offensichtlich unrichtig, d.h. unhaltbar, willkürlich (BGE 140 III
264 E. 2.3 S. 266, 137 III 226 E. 4.2 S. 234), oder in anderer Weise
rechtswidrig erscheinen zu lassen.

4. 
Unter diesen Umständen erübrigt es sich, auf die Vorbringen des Versicherten
bezüglich Höhe der Invalidenrente einzugehen. Gemäss dem vorinstanzlichen
Rückweisungsentscheid wird die IV-Stelle somit Wiedereingliederungsmassnahmen
durchzuführen und eine Übergangsrente auszurichten haben.

5. 
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten vom Beschwerdeführer als
unterliegender Partei zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, dem
Bundesamt für Sozialversicherungen und der Ausgleichskasse Luzern schriftlich
mitgeteilt.

Luzern, 12. Dezember 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz

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