Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.559/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_559/2016

Urteil vom 13. Dezember 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsdienst Inclusion Handicap,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 20. Juni 2016.

Sachverhalt:

A. 
Am 15. Januar 2003 meldete sich die 1959 geborene A.________ bei der IV-Stelle
des Kantons Zürich zum Leistungsbezug an. Die Verwaltung sprach ihr mit
Verfügung vom 14. November 2003 bei einem Invaliditätsgrad von 50 % eine halbe
Rente ab 1. März 2003 zu. Am 3. Oktober 2006 verneinte sie einen Anspruch auf
Rentenerhöhung. Anlässlich des im Jahr 2011 eingeleiteten Revisionsverfahrens
veranlasste die IV-Stelle ein psychiatrisches Gutachten bei Prof. Dr. med.
B.________, FMH Neurologie, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, vom 3. Juni
2013. Gestützt hierauf hob sie mit Verfügung vom 1. Juni 2015 die
Invalidenrente auf Ende des der Zustellung der Verfügung folgenden Monats auf.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich ab (Entscheid vom 20. Juni 2016).

C. 
A.________ lässt Beschwerde erheben mit dem Rechtsbegehren, es seien der
vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung vom 1. Juni 2015 aufzuheben und es
sei die Sache zur ergänzenden Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Ferner wird um unentgeltliche Prozessführung ersucht.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der
angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell-
und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a
BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften
Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.

2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin weiterhin Anspruch
auf eine Invalidenrente hat. Nicht mehr bestritten ist das Vorliegen eines
Revisionsgrundes sowie die Anwendbarkeit der Schlussbestimmungen der Änderung
des IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket, in Kraft
getreten am 1. Januar 2012 [AS 2011.5659]; vgl. BGE 139 V 547 E. 6 f. S. 559
ff.).

2.2. Die Vorinstanz schützte die angefochtene Rentenaufhebung in Anwendung der
Rechtsprechung gemäss BGE 141 V 281 und der Schlussbestimmungen. Gestützt auf
das unbestritten beweiswertige psychiatrische Gutachten des Prof. Dr. med.
B.________ vom 3. Juni 2013 sowie die EFL-Testung, Reha C.________, vom 8. März
2013, ging das kantonale Gericht von einem Ausschlussgrund aus.

2.3. Beschwerdeweise wird geltend gemacht, der Versicherten seien zu Unrecht
wegen Aggravation weitere Rentenleistungen verweigert worden. Die Vorinstanz
habe einen Ausschlussgrund angenommen, obschon sich aus den Gutachten nur eine
teilbewusste Verdeutlichung ergebe. Vielmehr hätte die invalidisierende Wirkung
des Gesundheitsschadens anhand der Indikatoren gemäss BGE 141 V 281 geprüft
werden müssen. Dabei sei zu beachten, dass die Versicherte zwar Kontakt zu
ihren Kindern und Geschwistern habe, jedoch gegenüber Nachbarn und Ehemann
zurückgezogen lebe. Vor Eintritt des Gesundheitsschadens sei die Versicherte zu
100 % arbeitstätig gewesen, habe ihre Kinder betreut und den Haushalt versorgt,
weshalb nicht von einem tiefen Aktivitätsniveau ausgegangen werden könne. Die
Vorinstanz sei anzuweisen die Indikatorenprüfung nach BGE 141 V 281
vorzunehmen.

3.

3.1. Nach der überarbeiteten Rechtsprechung ist bei der Invaliditätsbemessung
aufgrund psychosomatischer Störungen stärker als bisher der Aspekt der
funktionellen Auswirkungen zu berücksichtigen, was sich in den diagnostischen
Anforderungen niederschlagen muss. Auf der Ebene der Arbeitsunfähigkeit wird an
der Überwindbarkeitsvermutung nicht festgehalten. Das bisherige Regel/
Ausnahme-Modell wird durch ein strukturiertes Beweisverfahren ersetzt (BGE 141
V 281 Regeste).

3.2. Prof. Dr. med. B.________ führte im Gutachten unter dem Titel
"Psychiatrische Diagnosen/Diagnosen ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit"
eine somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4), eine Dysthymie (ICD-10 F34.1),
eine histrionische Persönlichkeitsakzentuierung (ICD-10 Z73), Probleme in der
Beziehung zum Ehepartner (ICD-10 Z63.0), Angst vor sozialen Problemen (ICD-10
Z24) sowie Schwierigkeiten bei der kulturellen Eingewöhnung (ICD-10 Z60) auf.
Der Psychiater begründete einlässlich und nachvollziehbar das Fehlen einer
psychischen Störung mit Krankheitswert mit den vorhandenen Ressourcen der
Versicherten, die für die Versorgung des Haushalts und das Kochen aufkommt,
spazieren geht, guten Kontakt mit der Familie hat und mit dieser jedes
Wochenende einen Ausflug unternimmt. Weiter ergeben sich aus dem Gutachten vor
allem Belastungsfaktoren durch eine ökonomische Missbrauchssituation und
Eheproblematiken wegen soziokulturellen und religiösen Gründen, welche das
Schmerzerleben negativ beeinflussen. Da sich der funktionelle Schweregrad einer
Störung danach beurteilt, wie stark die versicherte Person in sozialen,
beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen schmerzbedingt
beeinträchtigt ist (Urteil 9C_125/2015 vom 18. November 2015 E. 7.1, SVR 2008
IV Nr. 8 S. 24, I 649/06 E. 3.2 und E. 3.3.1), verneinte die Vorinstanz zu
Recht eine erhebliche funktionelle Einschränkung. Ob tatsächlich auch ein
Ausschlussgrund in Form der Aggravation vorliegt (vgl. dazu SVR 2015 IV Nr. 38
S. 121; 9C_899/2014 E. 4.2 und Urteil 9C_154/2016 vom 19. Oktober 2016 E. 4.3),
braucht nicht weiter geprüft zu werden, da das kantonale Gericht gestützt auf
das unbestritten beweiswertige psychiatrische Gutachten das Vorliegen eines
psychiatrischen Gesundheitsschadens mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit im
Ergebnis in bundesrechtskonformer Weise ausschloss. Es hielt dabei fest, dass
der psychiatrische Gutachter Prof. Dr. med. B.________ ausdrücklich darauf
hingewiesen habe, dass im Vordergrund die histrionische Persönlichkeitsstörung
stehe, wobei die gesamte Beschwerdeproblematik auf nicht IV-relevanten
psychosozialen und soziokulturellen Faktoren beruhe. Ein invalidisierender
psychischer Gesundheitsschaden kann nur gegeben sein, wenn das klinische
Beschwerdebild nicht einzig in psychosozialen und soziokulturellen Umständen
seine Erklärung findet, sondern davon psychiatrisch unterscheidbare Befunde
umfasst (zu den weiterhin invaliditätsfremden psychosozialen und
soziokulturellen Belastungsfaktoren vgl. Urteile 9C_190/2016 vom 20. Juni 2016
E. 4.2 und 9C_534/2015 vom 1. März 2016 E. 1.4).

3.3. Überdies befasste sich das Gericht mit den rechtserheblichen
Standardindikatoren gemäss BGE 141 V 281 E. 4.1.3 S. 297 f. Es äusserte sich
zum Schweregrad der Gesundheitsschädigung, zum sozialen Kontext und zur
Konsistenz. Das Gericht stellte insbesondere Inkonsistenzen fest und wies auf
die bei der Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL) in der Reha
C.________ im Februar 2013 (Bericht vom 8. März 2013) erfolgte
Symptomausweitung mit Diskrepanz zwischen dem Ausmass der angegebenen
Einschränkungen der Leistungsfähigkeit und den beobachteten funktionellen
Fähigkeiten hin. Dass die Vorinstanz nicht sämtliche Indikatoren in die
Beurteilung einbezog, schadet dabei entgegen dem Einwand in der Beschwerde
nicht. Sie zeigte in Würdigung der Aktenlage auf, dass kein stimmiges
Gesamtbild vorliegt, das auf eine therapeutisch nicht angehbare erhebliche
funktionelle Behinderung schliessen lässt (Konsistenz; BGE 141 V 281 E. 4.4 S.
303; SVR 2016 IV Nr. 29 S. 88 E. 4.3, 9C_340/2015). Eine eingehendere Prüfung
der Indikatoren erübrigt sich daher. Die Folgen der Beweislosigkeit hat die
materiell beweisbelastete versicherte Person zu tragen (BGE 141 V 281 E. 6 S.
308). Die Vorinstanz hat demnach die von der IV-Stelle verfügte
Renteneinstellung zu Recht bestätigt.

4. 
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art.
66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung kann entsprochen
werden, da die Bedürftigkeit ausgewiesen und die Beschwerde nicht als
aussichtslos zu bezeichnen ist (Art. 64 Abs. 1 BGG). Es wird indessen
ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte
Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später
dazu im Stande ist.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Dezember 2016
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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