Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.555/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_555/2016        

Urteil vom 13. Juni 2017

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Bundesrichterin Viscione,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
AXA Versicherungen AG, General Guisan-Strasse 40, 8400 Winterthur,
Beschwerdeführerin,

gegen

CSS Versicherung AG, Tribschenstrasse 21, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin,

A.________.

Gegenstand
Unfallversicherung (unfallähnliche Körperschädigung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich vom 23. Juni 2016.

Sachverhalt:

A. 
A.________ ist seit August 2001 als Fachmann Betriebsunterhalt bei der Gemeinde
B.________ tätig und dadurch bei der AXA Versicherungen AG (nachfolgend: AXA)
obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert. Am 11. Februar 2014
schlug A.________ aus Stress, Ärger oder Wut mit der rechten Faust in eine Wand
und zog sich dabei einen subkutanen Strecksehnenausriss am rechten kleinen
Finger zu (Unfallmeldung vom 20. Februar 2014 und Austrittsbericht der
Chirurgischen Klinik des Spitals Wetzikon vom 13. Februar 2014). Die AXA
verneinte einen Anspruch auf Versicherungsleistungen, da weder ein Unfall noch
eine unfallähnliche Körperschädigung vorliege, nachdem sich der Versicherte die
Schädigung absichtlich zugefügt habe (Verfügung vom 17. November 2014). Als
zuständiger Krankenversicherer erhob die CSS Versicherung AG (nachfolgend CSS)
dagegen Einsprache. Die AXA hielt mit Einspracheentscheid vom 9. Februar 2015
an ihrer Leistungsablehnung fest.

B. 
Die hiergegen von der CSS eingereichte Beschwerde hiess das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 23. Juni 2016
gut und stellte fest, dass A.________ für die Folgen des Ereignisses vom 11.
Februar 2014 Anspruch auf die gesetzlichen Leistungen der Unfallversicherung
habe.

C. 
Die AXA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Rechtsbegehren, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei der
Einspracheentscheid vom 9. Februar 2015 zu bestätigen. Ferner wird um Gewährung
der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde ersucht.
Die CSS schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet - genau wie der Versicherte - auf eine Vernehmlassung.

D. 
Mit Verfügung vom 20. Januar 2017 hat das Bundesgericht der Beschwerde die
aufschiebende Wirkung erteilt.

E. 
Das Bundesgericht hat am 13. Juni 2017 eine öffentliche Beratung durchgeführt.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht im
Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten
Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236; 138 I 274 E. 1.6 S. 280).

1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2.

2.1. Auf den 1. Januar 2017 sind die mit Bundesgesetz vom 25. September 2015
revidierten Bestimmungen des UVG in Kraft getreten, darunter auch Art. 6 Abs. 2
UVG (AS 2016 4375; BBl 2008 5395, 2014 7911) sowie der gleichermassen
revidierte Art. 9 UVV (AS 2016 4393). Versicherungsleistungen für Unfälle, die
sich vor dem Inkrafttreten dieser revidierten Bestimmungen ereignet haben, und
für Berufskrankheiten, die vor diesem Zeitpunkt ausgebrochen sind, werden nach
bisherigem Recht gewährt (vgl. Übergangsbestimmung in Art. 118 Abs. 1 UVG). So
verhält es sich auch im vorliegenden Fall, weshalb nachfolgend auf das
bisherige Recht und die dazu ergangene Rechtsprechung Bezug genommen wird.

2.2. Es steht ausser Frage, dass die Verletzung des Versicherten
(Strecksehnenausriss) unter die in Art. 9 Abs. 2 UVV aufgelisteten
unfallähnlichen Körperschädigungen fällt (Art. 9 Abs. 2 lit. f UVV:
Sehnenrisse).
Die Leistungspflicht des Unfallversicherers ist - auch wenn eine der in Art. 9
Abs. 2 lit. a bis h UVV unter dem Titel "unfallähnliche Körperschädigungen"
aufgeführten Befunde erhoben wird - nur gegeben, wenn die Verletzung, wie in
Art. 4 ATSG vorgesehen, auf eine plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende
Einwirkung eines äusseren Faktors zurückzuführen ist.

2.3. Bei den unfallähnlichen Körperschädigungen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVV
entfällt im Vergleich zu den eigentlichen Unfällen nach Art. 4 ATSG einzig das
Tatbestandselement der Ungewöhnlichkeit des auf den Körper einwirkenden
äusseren Faktors (BGE 139 V 327 E. 3.1 S. 328, 129 V 466 E. 2.2 S. 467 und 123
V 43 E. 2b S. 44 f., je mit Hinweisen). Alle übrigen Begriffsmerkmale eines
Unfalls müssen hingegen auch bei unfallähnlichen Körperschädigungen erfüllt
sein. Dies gilt namentlich für das Erfordernis des auf den menschlichen Körper
einwirkenden äusseren Faktors, worunter ein ausserhalb des Körpers liegender,
objektiv feststellbarer, sinnfälliger - eben unfallähnlicher - Einfluss auf den
Körper zu verstehen ist (BGE 129 V 466 E. 2.2 S. 467 mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 139 V 327 E. 3.3.1 S. 329). Die schädigende Einwirkung kann auch in einer
körpereigenen Bewegung bestehen (BGE 129 V 466 E. 4.1 S. 468 f. mit Hinweisen),
doch gilt das Auftreten von Schmerzen allein noch nicht als äusserer Faktor im
Sinne der Rechtsprechung zu Art. 9 Abs. 2 UVV. Ein solcher ist also nicht
gegeben, wenn die versicherte Person einzig das (in zeitlicher Hinsicht
erstmalige) Auftreten von Schmerzen angibt, aber keine gleichzeitig mitwirkende
äussere Komponente zu benennen vermag (BGE 129 V 466 E. 4.2.1 S. 469 f.). Für
die Annahme der schädigenden Einwirkung eines äusseren Faktors auf den
menschlichen Körper ist ein Geschehen erforderlich, das sich in einer allgemein
gesteigerten Gefahrenlage abspielt und dem überdies ein erhöhtes
Gefährdungspotenzial innewohnt (vgl. BGE 129 V 466 E. 4.2.2 S. 470). Ein
solches Geschehen kann auch in einer körpereigenen Bewegung gesehen werden,
sofern diese eine physiologisch normale und psychologisch beherrschte
Beanspruchung übersteigt.

3.

3.1. In tatsächlicher Hinsicht steht fest, dass der Versicherte am 11. Februar
2014 anlässlich einer Zugfahrt aus Stress, Ärger oder Wut mit der Faust gegen
eine Wand schlug und sich dabei die Verletzung in Gestalt eines traumatischen
Strecksehnenausrisses am Endgelenk des kleinen Fingers zuzog. Streitig ist, ob
es sich dabei um eine unfallähnliche Körperschädigung handelt.

3.2. Die Vorinstanz bejahte dies. Sie führte aus, es lägen keine Anhaltspunkte
vor, dass die Verletzung absichtlich oder zumindest eventualvorsätzlich erfolgt
sei. Der Versicherte habe sich mit dem Faustschlag Erleichterung von seinem
Ärger und seiner Wut verschafft. Aufgrund der Wut sei die alltägliche Geste
unkontrollierbar geworden, hierin liege der für die Annahme einer
unfallähnlichen Körperschädigung vorausgesetzte äussere Faktor. Die Verletzung
habe er damit aber nicht in Kauf genommen und sich auch nicht mit dieser
Möglichkeit abgefunden. Es liege daher kein Eventualvorsatz vor). Da der
Versicherte nicht eventualvorsätzlich gehandelt habe, erübrige sich auch die
Klärung der Frage, ob ein solcher als absichtliche Herbeiführung des
Gesundheitsschadens nach Art. 37 Abs. 1 UVG gelte. Eine Leistungsverweigerung
sei auch nicht gestützt auf Art. 39 UVG in Verbindung mit Art. 50 Abs. 1 UVV
aufgrund eines Wagnisses zulässig.

3.3. Die Beschwerdeführerin stellt sich dagegen auf den Standpunkt, die
verlangte fehlende Absicht der schädigenden Einwirkung beziehe sich auf die
Einwirkung selbst. Hier sei der Faustschlag gegen die Wand zweifelsohne
beabsichtigt gewesen. Weiter sei aufgrund der Ausgangssituation und der
erlittenen Verletzung anzunehmen, dass der Versicherte den Schlag heftig und
unkontrolliert ausgeführt habe. Daher sei die erlittene Verletzung ein
zwingender immanenter Bestandteil der absichtlich herbeigeführten schädigenden
Handlung. Bei einem heftigen, unkontrollierten Faustschlag werde eine
Verletzung - entgegen der Vorinstanz - billigend in Kauf genommen und diese
daher zumindest eventualvorsätzlich herbeigeführt. Aufgrund der objektiven
Gefährlichkeit der Aktivität sei auf eine freiwillige Gesundheitsschädigung zu
schliessen. Ein Faustschlag gegen die Wand sei zwingend mit der Gefahr einer
Gesundheitsschädigung verbunden; zumindest eine Kontusion der Finger oder der
Faust lasse sich bei einer solchen Tat nicht vermeiden. Es liege ein sinnloser,
selbstschädigender Vorgang ohne schützenswerten Charakter vor, dessen
wirklicher Wille nicht eruierbar sei. Ähnlich dem Ritzen mit dem Messer am Arm
oder dem Zerdrücken eines Glases mit der Hand sei hier per se eine
selbstschädigende Handlung anzunehmen. Bei dieser Sachlage sei nicht
nachvollziehbar, wie das kantonale Gericht habe zum Schluss gelangen können,
dass keine Anhaltspunkte für eine absichtliche oder eventualvorsätzliche
Schädigung vorlägen. Überdies sei auch kein äusserer Faktor gegeben. Der
Faustschlag sei nicht in einer allgemein gesteigerten Gefahrenlage erfolgt,
sondern dieser selbst begründe die Gefahrenlage. Verglichen mit dem von der
Vorinstanz als Beispiel erwähnten Fersentritt auf den Boden sei bei einem
Faustschlag gegen die Wand die Krafteinwirkung und die Verletzungsgefahr viel
grösser; der Fersentritt auf den Boden sei nicht zwingend auf eine Schädigung
ausgerichtet. Die Wand sei Bestandteil des beabsichtigten Hergangs gewesen,
weshalb schliesslich keine Programmwidrigkeit und damit keine äussere
Einwirkung im Sinne der Rechtsprechung vorliege.

4.

4.1. Der Beschwerdeführerin ist mit Blick auf den verlangten äusseren Faktor
zuzustimmen, dass im vorliegenden Fall die Handlung als solche die Gesundheit
gefährdete und der Faustschlag somit nicht in einer allgemein gesteigerten
Gefahrenlage stattfand. Damit allein ist für sie jedoch noch nichts gewonnen.
Vielmehr verhält es sich im vorliegenden Fall wie mit dem Sachverhalt, den das
Bundesgericht in BGE 139 V 327 zu beurteilen hatte. Damals erkannte es in
Zusammenhang mit einem Fersenbeinbruch, die empfundenen Schmerzen seien nicht
spontan aufgetreten, sondern nach heftigem Schlag der Ferse gegen den Boden.
Dabei handle es sich um einen klar erkennbaren äusseren Faktor. Im Übrigen
erwog es - in Einklang mit BGE 129 V 466 E. 4.2.2 S. 470 -, ein äusserer Faktor
mit erheblichem Schädigungspotenzial liege dann vor, wenn die in Frage stehende
Lebensverrichtung einer mehr als physiologisch normalen und psychologisch
beherrschten Beanspruchung des Körpers gleichkomme. Das treffe dort zu, wo
alltägliche Handlungen unkontrollierbar würden wie bei einer nicht beherrschten
heftigen Bewegung im Zuge eines Wutanfalles ("... comme un accès de colère au
cours duquel une personne effectue un mouvement violent non maîtrisé"; BGE 139
V 327 E. 3.3.1 S. 329). Von einer solchen Sachlage ist auch beim hier zu
beurteilenden Schlag gegen die Wand auszugehen, der laut unwidersprochenen
Angaben in der Unfallmeldung "aus Stress und Ärger" erfolgte.

4.2.

4.2.1. Weiter schliesst die absichtliche Gesundheitsschädigung die Annahme
eines Unfalls begriffsnotwendig aus (E. 2.2 hiervor). Die Absicht bzw.
Unfreiwilligkeit bezieht sich dabei auf die Herbeiführung eines
Gesundheitsschadens selbst und nicht auf die zur gesundheitlichen Schädigung
führende Handlung (BGE 139 V 327 E. 3.3.2 S. 330; 115 V 151 E. 4 S. 152; RKUV
2000 Nr. U 385 S. 267, U 228/99 E. 3b/aa). Einigkeit besteht darin, dass der
Versicherte keinen versehentlichen Faustschlag ausführte, sondern seine
Aggression absichtlich an der Wand abreagierte. Ebenfalls ist nicht streitig,
dass er sich dabei nicht mit Absicht verletzte. Anders als einem Aufstampfen
auf dem Boden wohnt einem unkontrollierten Faustschlag in die Wand jedoch ein
grösseres Verletzungsrisiko inne, weshalb hier auf die Frage des
Eventualvorsatzes näher einzugehen ist.

4.2.2. Eventualvorsatz liegt dann vor, wenn jemand den Eintritt des Erfolgs für
möglich hält, aber dennoch handelt, weil er oder sie den Erfolg für den Fall
seines Eintritts in Kauf nimmt (vgl. Art. 12 Abs. 2 Satz 2 StGB in der seit 1.
Januar 2007 geltenden Fassung), sich mit ihm abfindet, mag er auch unerwünscht
sein. Sowohl eventualvorsätzlich als auch bewusst fahrlässig Handelnde wissen
um die Möglichkeit des Erfolgseintritts. Unterschiede bestehen jedoch beim
Willensmoment. Die bewusst fahrlässig handelnde Person vertraut (aus
pflichtwidriger Unvorsichtigkeit) darauf, dass der von ihr als möglich
vorausgesehene Erfolg nicht eintreten werde. Demgegenüber nimmt, wer
eventualvorsätzlich handelt, den Eintritt des als möglich erkannten Erfolgs
ernst, rechnet mit ihm und findet sich mit ihm ab. Je grösser die
Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die
Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die Schlussfolgerung, der
Handelnde habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen (vgl. die
strafrechtliche Rechtsprechung: BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 S. 16 mit Hinweis; SZS
2013 S. 174). Eventualvorsatz ist jedoch auch bei gefährlichen Handlungen nur
mit Zurückhaltung anzunehmen (Urteile 8C_271/2012 vom 17. Juli 2012 E. 6.2.1
und 8C_504/2007 vom 16. Juni 2008 E. 5.3.2 mit Hinweisen).

4.2.3. Ein wesentlicher Teil des sozialversicherungsrechtlichen Schrifttums
lässt nebst eigentlicher Absicht und einfachem Vorsatz auch Eventualvorsatz
genügen, um fehlende Absicht bzw. Unfreiwilligkeit und damit das Vorliegen
eines Unfalls auszuschliessen (Alfred Bühler, Der Unfallbegriff, in:
Haftpflicht- und Versicherungsrechtstagung 1995, S. 195 ff., 211, insbesondere
unter Berufung auf Roland Schaer, in: Das Verschulden im Wandel des
Privatversicherungs-, Sozialversicherungs- und Haftpflichtrechts, 1992, S. 33;
Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Rz. 21 zu Art. 4 ATSG; Gabriela
Riemer-Kafka, Die Pflicht zur Selbstverantwortung: Leistungskürzungen und
Leistungsverweigerungen zufolge Verletzung der Schadensverhütungs- und
Schadensminderungspflicht im schweizerischen Sozialversicherungsrecht, Freiburg
1999, S. 102; dieselbe, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, 5. Aufl.,
Bern 2016, S. 84 Rz. 2.52). Ebenfalls namhafte Autoren haben sich in
gegenteiligem Sinn geäussert (ALFRED MAURER, Schweizerisches
Unfallversicherungsrecht, 2. Aufl. 1989, S. 174; Alexandra Rumo-Jungo, Die
Leistungskürzung oder -verweigerung gemäss Art. 37-39 UVG, Freiburg 1993, S.
112 f.). Ersterer verweist dabei auch auf die Rechtslage im
Privatversicherungsrecht (vgl. Art. 14 Abs. 1 VVG) und die diesbezüglich
vertretene Meinung, wonach Eventualvorsatz zur Begründung von Absicht nicht
ausreiche (vgl. ferner etwa ALFRED MAURER, Schweizerisches
Privatversicherungsrecht, 3. Aufl. 1995, S. 350 oben mit Hinweis auf BGE 115 II
264 E. 5b S. 270; ROLAND BREHM, L'assurance privée contre les accidents, 2001,
N. 242).

Ohne sich mit dieser Frage näher auseinandergesetzt zu haben, hielt das
Bundesgericht in Zusammenhang mit Art. 9 Abs. 2 UVV fest, es sei von einer
absichtlichen Gesundheitsschädigung auszugehen, wenn diese mit Absicht,
einfachem Vorsatz oder Eventualvorsatz verursacht werde. Streitentscheidende
Bedeutung kam der spezifischen Vorsatzqualifikation im betreffenden Fall jedoch
nicht zu (vgl. RKUV 2000 Nr. U 385 S. 267, U 228/99 E. 3b/aa mit Hinweis auf
BGE 115 V 151 E. 4 S. 152). Im Urteil EVGE 1944 S. 101 ff. hatte das damalige
Eidg. Versicherungsgericht zu entscheiden, ob der Verzehr einer verdorbenen
Wurst, der zum Tod führte, als Unfall angesehen werden konnte. Es führte dazu
aus, die Verderbnis der Wurst sei offensichtlich gewesen und der Versicherte
habe daher auch schlechte Teile dieser weggeschnitten und Schnaps getrunken, um
den Unbekömmlichkeiten vorzubeugen. Damit habe er gewisse - wenn auch nicht
geradezu tödliche - Schadensfolgen bewusst in Kauf genommen. Es mangle am
Merkmal der Unfreiwilligkeit und daher liege kein Unfall vor (vgl. dazu die
Kritik bei Kieser/Landolt, Unfall - Haftung - Versicherung, 2012, N. 28;
Bühler, a.a.O., S. 211 f., Fn. 58 sowie bereits Maurer, Recht und Praxis der
Unfallversicherung, 1963, S. 108 f.). Rund 17 Jahre später hielt das Eidg.
Versicherungsgericht unter Bezugnahme auf genau dieses Urteil dagegen, es sei
sehr unwahrscheinlich, dass dieses dazu führen könnte, eine schädigende
Einwirkung bereits dann von der Versicherung auszuschliessen, wenn sie bloss in
Kauf genommen wurde (EVGE 1961 S. 201 E. 2b S. 206; kritisch dazu Bühler,
a.a.O., S. 211 f., Fn. 58).

In jüngerer Zeit hat das Bundesgericht in Zusammenhang mit zu beurteilenden
Leistungskürzungen wegen absichtlicher Herbeiführung des Gesundheitsschadens
oder des Todes im Sinne von Art. 37 Abs. 1 UVG die Frage verschiedentlich offen
gelassen, ob der Eventualvorsatz einbezogen werden soll (SZS 2013 S. 174 E.
6.4; 2012 S. 172 E. 5.3 f.; vgl. ferner den Hinweis auf die betreffenden
Urteile in BGE 138 V 522 E. 5.1.1 S. 527 sowie Urteil U 21/95 vom 17. April
1996 E. 1b).

4.2.4. Nach der Rechtsprechung kann ein Eventualvorsatz nicht bereits aus dem
Wissen um die Möglichkeit des Schadenseintritts oder dessen Bewertung als
adäquat kausale Handlungsfolge abgeleitet werden (nicht veröffentlichte E. 5a
von BGE 119 IV 1, 6S.265/1992; BGE 133 IV 9 E. 4.1 S. 17 mit Hinweisen; Urteil
8C_271/2012 vom 17. Juli 2012 E. 6.2.1). Schläge der hier gegebenen Art gegen
eine Wand oder auf einen Tisch, sei es mit der Hand, der Faust, oder mit dem
Fuss, erfolgen in aller Regel aus einer mehr oder weniger heftigen
Gemütsbewegung heraus gleichsam eruptiv, und zwar mit dem primären Ziel, Druck
abzubauen bzw. "Dampf abzulassen". Der Widerstand in Gestalt des geschlagenen
Objekts wird dabei gezielt gesucht. Dabei mag es gerade angesichts der affektiv
aufgeladenen Situation mitunter vorkommen, dass die schlagende Person eine
besondere Beschaffenheit oder Situierung des Zielobjekts verkennt, woraus sich
Verletzungsfolgen ergeben können, die nicht vorausgesehen wurden, geschweige
denn gewollt waren. Dass im vorliegenden Fall eine solche Situation vorgelegen
haben könnte, wird trotz des Hinweises in der Unfallmeldung, wonach der
Handschlag gegen eine Kante erfolgt sei, weder von der Beschwerdegegnerin noch
vom Versicherten geltend gemacht.

Ausser Frage steht jedoch, dass der Schlag des hier beteiligten Versicherten
aus einer Gemütsbewegung heraus erfolgt war. Derlei geschieht notwendigerweise
mit Wucht und dies wenn nicht in der Absicht, so doch mit Wissen um den damit
verbundenen Schmerz, der in aller Regel auch gewollt ist. Je nach Wucht kann
ein solcher Schlag nicht nur schmerzhaft sein, sondern - wie im vorliegenden
Fall mit dem erfolgten Strecksehnenausriss - ernsthafte Verletzungsfolgen
zeitigen. Je heftiger der Schlag geführt wird, desto näher liegt eine solche
Verletzungsfolge und umso eher wird sie vom Wissen der handelnden Person als
mögliche Folge erfasst. Daraus darf auf den Willen geschlossen werden, wenn
sich dem Handelnden der Eintritt des Erfolgs als so wahrscheinlich aufdrängte,
dass die Bereitschaft, ihn als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als
Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden kann (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 S. 4 mit
Hinweis).
Aufgrund der hier gegebenen Verletzungsfolge musste der Versicherte seinen
Schlag heftig ausgeführt haben, zumal nichts auf eine vorbestandene Schädigung
hindeutet und - wie soeben erwogen - auch keine besondere Beschaffenheit oder
Anordnung der Aufschlagsfläche vorlag. Dass er um die Möglichkeit des damit
verursachten Gesundheitsschadens nicht gewusst haben könnte, ist nicht
anzunehmen. Immerhin scheint angesichts der mitbeteiligten Affektlage fraglich,
ob dies hinsichtlich der ganzen Tragweite der dabei verursachten Verletzungs-
und Behandlungsfolgen der Fall gewesen war. Dessen ungeachtet ging der Schlag
über das hinaus, was bei alltäglichen Formen des Sich-Abreagierens
("Dampfablassen") noch üblich ist. Angesichts der Wucht des Schlages war die
Verletzungswahrscheinlichkeit sehr gross, zumal mit Blick darauf, dass es sich
beim hier betroffenen Kleinfinger um einen sehr feingliedrigen, entsprechend
empfindlichen Körperteil handelt. Damit war das Verletzungsrisiko so nah, dass
der Versicherte nicht mehr auf das Ausbleiben des Erfolgs vertrauen konnte.
Daran ändert die affektive Gemütslage nichts. Vielmehr wurde durch die
Aggression die Faust undosiert und unkontrolliert, wider jegliche Sorgfalt
gegen die Wand geschlagen. Obwohl zurückhaltend auf Eventualvorsatz zu
schliessen ist (E. 4.2.2), liegt nach dem Gesagten mit der Beschwerdeführerin
in Bezug auf die Schädigung ein solcher vor. In einem weiteren Schritt gilt es
sodann klarzustellen, dass in grundsätzlicher Hinsicht mit wesentlichen Teilen
des insbesondere neueren Schrifttums (E. 4.2.3) das in RKUV 2000 Nr. U 385 S.
267, U 228/99 Gesagte zu bestätigten ist, wonach die absichtliche
Gesundheitsschädigung auch den Eventualvorsatz einschliesst. Denn es ist, auch
unter dem Blickwinkel der Schadensverhütung, nicht ersichtlich, weshalb
derjenige, der eine Gesundheitsschädigung in Kauf nimmt, anders behandelt
werden soll als jener, der die Schädigung will. Die Folgen einer sinnlosen
Gewalteinwirkung der vorliegenden Art sollen überdies nicht von der
Versichertengemeinschaft getragen werden müssen.

4.2.5. Ist eine eventualvorsätzliche Schädigung zu bejahen, liegt keine
unfallähnliche Körperschädigung vor. Damit begründet das vorliegende Geschehen
keine Leistungspflicht der AXA gestützt auf Art. 9 Abs. 2 UVV in Verbindung mit
Art. 6 Abs. 2 UVG. Die Beschwerde ist begründet.

5. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Dem Prozessausgang
entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art.
66 Abs. 1 BGG). Da sich zwei Versicherer gegenüberstehen, gilt für die
Gerichtsgebühr der ordentliche Rahmen nach Art. 65 Abs. 3 BGG, während Art. 65
Abs. 4 lit. a BGG keine Anwendung findet (Urteil 9C_799/2007 vom 25. April 2008
E. 4). Die obsiegende Beschwerdeführerin hat als Organisation mit
öffentlich-rechtlichen Aufgaben, welche in ihrem amtlichen Wirkungskreis
handelt, keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG). Der
beigeladene Versicherte hat sich nicht vernehmen lassen.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts
des Kantons Zürich vom 23. Juni 2016 wird aufgehoben und der
Einspracheentscheid der AXA Versicherungen AG vom 9. Februar 2015 bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 3000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, A.________, dem Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 13. Juni 2017

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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