Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.544/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]               

{T 0/2}                      
8C_544/2016, 8C_568/2016

Urteil vom 28. November 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
8C_544/2016
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
handelnd durch die Stadt B.________, Berufsbeistandschaften, Beiständin
C.________,
und diese vertreten durch Rechtsanwältin Noëlle Cerletti,
Beschwerdegegner,

und

8C_568/2016
A.________,
handelnd durch die Stadt B.________, Berufsbeistandschaften, Beiständin
C.________,
und diese vertreten durch Rechtsanwältin Noëlle Cerletti,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung
(Invalidenrente; Beginn des Anspruchs),

Beschwerden gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 21. Juni 2016.

Sachverhalt:

A. 
Der 1994 geborene A.________ meldete sich am 10. Juni 2013 (Posteingang) wegen
der Folgen einer Schizophrenie bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
an. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach ihm die IV-Stelle des
Kantons Zürich ab 1. Dezember 2013 eine ganze Invalidenrente zu (Verfügung vom
13. Mai 2015).

B. 
In teilweiser Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde setzte das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich den Beginn des Rentenanspruchs
auf den 1. Juni 2013 fest (Entscheid vom 21. Juni 2016).

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde und beantragt, das vorinstanzliche Urteil sei
aufzuheben. Ferner ersucht sie um Gewährung der aufschiebenden Wirkung.
A.________ und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.

D. A.________ lässt ebenfalls Beschwerde erheben mit dem Rechtsbegehren, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihm bereits ab 1. August 2012
eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Weiter ersucht er um Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege.
Die IV-Stelle beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.

Erwägungen:

1.

1.1. Da den beiden Beschwerden derselbe Sachverhalt zugrunde liegt, sich die
gleichen Rechtsfragen stellen und die Rechtsmittel den nämlichen Entscheid
betreffen, rechtfertigt es sich, die beiden Verfahren zu vereinigen und in
einem einzigen Urteil zu erledigen (BGE 128 V 124 E. 1 S. 126).

1.2. Im Folgenden wird A.________ als Beschwerdeführer bezeichnet.

2. 
Anspruch auf eine Invalidenrente haben nach Art. 28 Abs. 1 IVG Versicherte, die
a) ihre Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu
betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wiederherstellen,
erhalten oder verbessern können;
b) während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich
mindestens 40 % arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) gewesen sind; und
c) nach Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 % invalid (Art. 8 ATSG) sind.
Laut Art. 29 Abs. 1 IVG (in der seit 1. Januar 2008 geltenden Fassung) entsteht
der Rentenanspruch frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach Geltendmachung
des Leistungsanspruchs nach Art. 29 Abs. 1 ATSG, jedoch frühestens im Monat,
der auf die Vollendung des 18. Altersjahres folgt.

3.

3.1. Das kantonale Gericht hat festgestellt, ausweislich der Akten sei der
Versicherte seit dem 3. Juni 2012 wegen der psychiatrischen Symptomatik ohne
Unterbruch vollständig arbeitsunfähig gewesen. Folglich sei das Wartejahr am 3.
Juni 2013 abgelaufen. Da somit der Versicherungsfall zu diesem Zeitpunkt
eingetreten sei und ein Rentenanspruch gemäss Art. 29 Abs. 1 IVG frühestens
nach Ablauf von sechs Monaten nach dessen Geltendmachung entstehe, sei die bei
der IV-Stelle am 10. Juni 2013 eingetroffene Anmeldung verspätet eingereicht
worden. Deshalb bestehe der Anspruch auf Invalidenrente grundsätzlich
frühestens ab dem 1. Dezember 2013. Indessen könne die Rente ausnahmsweise auch
rückwirkend zugesprochen werden, wenn die versicherte Person den
anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte oder aus wichtigen
Gründen objektiv verhindert war, sich rechtzeitig anzumelden, und wenn sie die
Anmeldung innert sechs Monaten seit Kenntnisnahme des Sachverhalts oder seit
Wegfall des Hindernisses einreiche (Kreisschreiben über Invalidität und
Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH], gültig ab 1. Januar 2015, Rz
2028). Der an einer Schizophrenie leidende Versicherte habe den
anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht rechtzeitig erkennen können.
Bezeichnend dafür sei, dass die Anmeldung zum Rentenbezug nach wiederholten
stationären Aufenthalten erst nach dem im April 2013 behördlich angeordneten
vorzeitigen Massnahmeantritt von den Ärzten der Psychiatrischen Klinik
D.________ vorgenommen worden sei. Daher rechtfertige es sich, dem Versicherten
die Rente trotz verspäteter Anmeldung nach Ablauf des Wartejahres schon ab dem
1. Juni 2013 zuzusprechen.

3.2. Die IV-Stelle bringt vor, nach der Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 1 IVG
könne der Anspruch auf eine Invalidenrente in jedem Fall erst nach Ablauf von
sechs Monaten nach der Anmeldung zum Leistungsbezug entstehen. Die Vorinstanz
berufe sich implizit auf Art. 48 IVG, der allein die Nachzahlung auf
Hilflosentschädigung, medizinische Massnahmen oder Hilfsmittel, nicht aber auf
eine Invalidenrente regle.

3.3. Der Beschwerdeführer macht - wie schon im vorinstanzlichen Verfahren -
geltend, ausweislich der Akten sei er im Sinne von Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG
bereits ab 1. August 2011 vollständig arbeitsunfähig gewesen, weshalb zu diesem
Zeitpunkt das Wartejahr eröffnet worden und am 31. Juli 2012 abgelaufen sei.
Daher bestehe der Rentenanspruch seit dem 1. Februar 2012.

4.

4.1. Das Bundesgericht hat in dem zur Publikation in BGE 142 bestimmten Urteil
9C_54/2016 vom 24. Oktober 2016 E. 3.2 erkannt, dass das IVG in den Art. 28
Abs. 1 lit. b und Art. 29 Abs. 1 zwei unterschiedliche Arten von Wartezeiten
statuiert. Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG betrifft die materielle Seite des
Rentenanspruchs, indem für den Beginn der Invalidenrente u.a. eine im
Wesentlichen ununterbrochene Arbeitsunfähigkeit von durchschnittlich mindestens
40 % während eines Jahres vorausgesetzt wird. Es handelt sich somit um eine
materielle Anspruchsvoraussetzung für die Rentenberechtigung. Demgegenüber
stellt die Frist von sechs Monaten nach Art. 29 Abs. 1 IVG zwar auch eine
Anspruchsvoraussetzung dar (vgl. BGE 140 V 470 E. 3.3.1 in fine S. 474), jedoch
eine verfahrensmässiger Natur, indem sie an die Geltendmachung des
Leistungsanspruchs nach Art. 29 Abs. 1 ATSG anknüpft. Diese Bestimmung sieht
vor, dass die Person, die eine Versicherungsleistung beansprucht, sich beim
zuständigen Versicherungsträger in der für die jeweilige Sozialversicherung
gültigen Form anzumelden hat. Die Wartezeiten von Art. 28 Abs. 1 lit. b und
Art. 29 Abs. 1 IVG haben somit völlig unterschiedliche Funktionen - als
materielle Anspruchsvoraussetzung (ein Jahr dauernde Arbeitsunfähigkeit) und
als formelle Karenzfrist, die mit Blick auf den frühest möglichen Rentenbeginn
einzuhalten ist.

4.2.

4.2.1. Im Lichte dieser Rechtsprechung kann der Auffassung des
Beschwerdeführers von vornherein nicht gefolgt werden. Ist das
Wartezeiterfordernis gemäss Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG eine
Anspruchsvoraussetzung, gilt die Invalidität bzw. der Versicherungsfall
Invalidenrente erst mit der Entstehung des Rentenanspruchs als eingetreten und
nicht bereits bei Beginn der Wartezeit (BGE 138 V 475 E. 3 Ingress S. 478 mit
Hinweisen). Mithin kann grundsätzlich vor Ablauf der Wartezeit kein
Rentenanspruch entstanden sein. Die Vorbringen des Beschwerdeführers sind aber
auch aus einem anderen Grunde nicht stichhaltig, wie sich aus dem Folgenden
ergibt.

4.2.2. Die IV-Stelle bringt zu Recht vor, dass die Vorinstanz den Art. 48 IVG -
sei es implizite, sei es in analogiam - in Widerspruch zur Rechtslage
angewendet hat. Das kantonale Gericht hat übersehen, dass diese im Zuge der
seit 1. Januar 2012 in Kraft stehenden 6. IV-Revision neu gefasste Bestimmung -
entgegen der Überschrift "Nachzahlung von Leistungen" - nicht sämtliche
IV-Leistungen betrifft. Aus dem Wortlaut von Art. 48 Abs. 1 IVG ergibt sich
klar, dass damit ausschliesslich der Anspruch auf Hilflosenentschädigung, auf
medizinische Massnahmen oder auf Hilfsmittel gemeint ist. Für den
Nachzahlungsanspruch auf Invalidenrenten gilt daher allein nach dessen klarem
Wortlaut Art. 29 Abs. 1 IVG (vgl. dazu Botschaft zur Änderung des
Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 24. Februar 2010, BBl 2010
1907 unten). Angesichts dieser Rechtslage ist, was der Beschwerdeführer
übersieht, der von ihm geltend gemachte Beginn der Wartezeit nicht relevant.
Entscheidend ist vielmehr allein, dass er sich so oder anders im Sinne von Art.
29 Abs. 1 IVG verspätet, das heisst unbestritten am 10. Juni 2013 zum Bezug der
Invalidenrente angemeldet hatte. Daher ist die Beschwerde der IV-Stelle
gutzuheissen.

5. 
Mit dem Urteil in der Hauptsache wird das Gesuch der IV-Stelle um aufschiebende
Wirkung gegenstandslos.

6. 
Dem Gesuch des unterliegenden Beschwerdeführers um Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ist
stattzugeben, da die Bedürftigkeit aktenkundig und die Verbeiständung durch
eine Anwältin notwendig ist (Art. 64 Abs. 1 - 3 BGG). Er wird indessen auf Art.
64 Abs. 4 BGG hingewiesen; danach hat er der Bundesgerichtskasse Ersatz zu
leisten, wenn er später dazu in der Lage ist.

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Verfahren 8C_544/2016 und 8C_568/2016 werden vereinigt.

2. 
Die Beschwerde der IV-Stelle des Kantons Zürich wird gutgeheissen. Der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 21. Juni 2016
wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 13. Mai
2015 bestätigt.

3. 
Die Beschwerde von A.________ wird abgewiesen.

4. 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.- werden A.________ auferlegt, indes vorläufig
auf die Gerichtskasse genommen.

5. 
Rechtsanwältin Noëlle Cerletti wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung
von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

6. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
zurückgewiesen.

7. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 28. November 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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