Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.522/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_522/2016

Urteil vom 1. Dezember 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Wirthlin,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Verfahrensbeteiligte
SUVA, Abteilung Militärversicherung, Laupenstrasse 11, 3008 Bern,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Stephan Fröhlich,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Militärversicherung (Kausalzusammenhang),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 16. Juni 2016.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1990, Kaufmann, absolvierte vom 14. März bis zum 5. August
2011 die Rekrutenschule und war dadurch bei der Militärversicherung versichert.
Am 25. März 2011 begab er sich wegen Rückenschmerzen zum Truppenarzt. Dieser
veranlasste am 17. Juni 2011 weitere Abklärungen insbesondere auf die mögliche
Diagnose eines Morbus Bechterew hin, welche sich in der Folge bestätigte. Mit
Verfügung vom 15. September 2014 und Einspracheentscheid vom 7. Dezember 2015
lehnte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Abteilung
Militärversicherung (nachfolgend: SUVA-MV), ihre Haftung ab.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 16. Juni 2016 gut. Es hob den Einspracheentscheid vom
7. Dezember 2015 auf mit der Feststellung, dass die Militärversicherung für die
Gesundheitsschädigung (Bechterew-Erkrankung) hafte.

C. 
Die SUVA-MV führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem
Antrag, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Einspracheentscheid
mit Ablehnung der Haftung zu bestätigen.
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Gesundheit, Aufsicht Militärversicherung, hat sich nicht vernehmen lassen.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2. 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Haftung der
Militärversicherung für Gesundheitsschädigungen, die während des Dienstes in
Erscheinung getreten sind (Art. 4 und 5 MVG), zutreffend dargelegt. Es wird
darauf verwiesen.

3. 
Nach den vorinstanzlichen Feststellungen haben sich die Beschwerden des
Versicherten unbestrittenerweise während der Rekrutenschule eingestellt und
wurde ein Morbus Bechterew diagnostiziert. Die Ärzte, namentlich der Kreisarzt
der Beschwerdeführerin sowie Dr. med. B.________, Rheumatologie FMH, Innere
Medizin FMH, Spital C.________, welcher ein Gutachten vom 5. Juni 2014 im
Rahmen eines Wehrpflichtersatz-Verfahrens erstattet hatte, stimmten darin
überein, dass der Versicherte für den Morbus Bechterew genetisch prädisponiert
sei, dass aber die Ursachen, welche zur Aktivierung des Autoimmunprozesses
führten, unbekannt seien. Das kantonale Gericht bejahte die Haftung, weil die
Bechterew-Erkrankung mit den dafür typischen Symptomen erstmals während der
Rekrutenschule aufgetreten sei. Den nach Art. 5 Abs. 2 MVG zugelassenen
Entlastungsbeweis vermöge die Militärversicherung nicht zu erbringen, denn nach
der Aktenlage sei nicht mit Sicherheit auszuschliessen, dass die
Bechterew-Erkrankung während des Dienstes verursacht worden sei. Insbesondere
sei ohne Weiteres davon auszugehen, dass die Absolvierung der Rekrutenschule
für den Versicherten, welcher eine kaufmännische Lehre abgeschlossen und danach
in einem Büro gearbeitet habe, mit ungewöhnlichen körperlichen Anstrengungen
verbunden gewesen sei. Wenn der Entlastungsbeweis nach Art. 5 Abs. 2 lit. a MVG
nicht gelinge, bestehe auch kein Raum für eine blosse Verschlimmerungshaftung
nach Art. 5 Abs. 3 MVG. Die Haftung habe nicht enden können, nachdem der
während der Rekrutenschule aufgetretene Schub spätestens Ende 2013 nach einem
beschwerde- und behandlungsfreien Intervall behoben gewesen sei. Schliesslich
ändere auch der Hinweis auf die Bechterew-fremden Beschwerden nichts an der
grundsätzlichen Haftung, die sich auf die Bechterew-Erkrankung beschränke.

4. 
Die Beschwerdeführerin bestreitet auch letztinstanzlich nicht, dass der Morbus
Bechterew während der Rekrutenschule in Erscheinung getreten war und gemeldet
wurde und sich ihre Haftung deshalb nach Art. 5 MVG (Feststellung der
Gesundheitsschädigung während des Dienstes) richtet. Sie macht indessen
geltend, dass nicht allein der zeitliche Zusammenhang eine Haftung zu begründen
vermöge, zumal die Krankheit weitestgehend schicksalsmässig verlaufe, sich
allenfalls lediglich zufälligerweise während des Dienstes manifestiert habe.
Eine lebenslange Leistungspflicht der Militärversicherung stelle eine
Bevorteilung des Dienstpflichtigen dar und sei nicht zu rechtfertigen. Eine
Haftung allein aufgrund des zeitlichen Zusammenhanges sei vom Gesetzgeber nie
gewollt gewesen. Da die Krankheit mit Sicherheit auch genetisch bedingt sei,
sei sie nach den Regeln über die natürliche Kausalität vordienstlich und
dienstfremd. Im Übrigen seien die (weiteren) Ursachen der Krankheit ungeklärt.
Damit sei der Entlastungsbeweis erbracht, zumal auch keine Anhaltspunkte dafür
bestünden, dass eine Infektion die Krankheit ausgelöst hätte, und auch keine
dienstlichen Einflüsse dokumentiert seien. Die dienstlichen körperlichen
Anstrengungen seien für sich allein ungeeignet, einen Morbus Bechterew zu
verursachen. Die Leistungspflicht entfalle bei blossen Gelegenheits- oder
Zufallsursachen. Sofern dienstliche Einwirkungen die Krankheit begünstigt
hätten, könne höchstens eine Teilhaftung zur Diskussion stehen. Schliesslich
handle es sich um eine Schubkrankheit, weshalb sie nur bis zur
Beschwerdefreiheit Ende 2013 hafte. Später seien die Rückenschmerzen nicht mehr
durch den Morbus Bechterew bedingt gewesen.

5. 
Das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht (heute: Bundesgericht) hat
sich zur Haftung der Militärversicherung bei Morbus Bechterew eingehend in
seinem Urteil M 9/84 vom 14. April 1986 geäussert (zitiert bei Jürg Maeschi,
Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung [MVG] vom 19. Juni
1992, Bern 2000, Rz. 32 zu Art. 5). Danach haftet die Militärversicherung
gestützt auf Art. 5 MVG nach dem Prinzip der Kontemporalität beziehungsweise
Kontemporaneität, sofern sie nicht den Beweis erbringt, dass die
Gesundheitsschädigung sicher vordienstlich ist oder sicher nicht während des
Dienstes verursacht werden konnte (Urteil M 9/84 E. 1a). Ist die Erkrankung
während des Dienstes in Erscheinung getreten und gemeldet worden, wird der
adäquate Kausalzusammenhang zwischen den Einwirkungen während des Dienstes und
der Gesundheitsschädigung vermutet und kann nur durch den gegenteiligen
Sicherheitsbeweis ausgeschlossen werden (Urteil M 9/84 E. 1b). Der
Sicherheitsbeweis gilt als geleistet, wenn feststeht, dass nach der
medizinischen Erfahrung eine Einwirkung verschlimmernder Faktoren während des
Dienstes praktisch ausgeschlossen ist (BGE 111 V 141 E. 4 S. 146). Das
Eidgenössische Versicherungsgericht hat erkannt, dass die Militärversicherung
bei erstmaligem Auftreten von Rückenbeschwerden während der Rekrutenschule als
erste Anzeichen des Morbus Bechterew aufgrund des gesetzlich verankerten
Kontemporalitätsprinzips grundsätzlich für den Morbus Bechterew haftet. Des
Weiteren könne aufgrund der wissenschaftlichen medizinischen Erkenntnisse nicht
mit Sicherheit gesagt werden, dass es sich beim Morbus Bechterew - wegen der
häufigen genetischen Veranlagung - generell um eine vordienstliche oder
dienstfremde Gesundheitsschädigung handle. Für die Entwicklung eines Morbus
Bechterew bedürfe es zusätzlich exogener auslösender Faktoren, die weitgehend
unbekannt seien. Es lasse sich nicht ausschliessen, dass der Morbus Bechterew
durch eine dienstliche Einwirkung verursacht werde. Insbesondere kämen
überdurchschnittliche körperliche Belastung, ungünstige Witterungsverhältnisse
und Infektionen als krankheitsauslösende Faktoren in Frage. Erste Symptome des
Morbus Bechterew würden oft nach Überanstrengung, Abkühlung, Durchnässung und
so weiter auftreten. Dass die den Morbus Bechterew auslösenden (exogenen)
Faktoren noch weitgehend unbekannt seien, wirke sich im Rahmen von Art. 5 MVG
zum Nachteil der Militärversicherung, die den Sicherheitsbeweis erbringen
müsse, und nicht zulasten des Versicherten aus (Urteil M 9/84 E. 3c und E. 4a).
Das Eidgenössische Versicherungsgericht bejahte deshalb die grundsätzliche
Haftung der Militärversicherung für den während der Rekrutenschule in
Erscheinung getretenen Morbus Bechterew. Des Weiteren vermochte auch ein
zwischenzeitlicher Behandlungsabschluss bei anhaltenden Schmerzen die spätere
Haftung der Militärversicherung nicht auszuschliessen (Urteil M 9/84 E. 3d).

6.

6.1. Es ist unbestritten, dass die Krankheit erstmals während der
Rekrutenschule aufgetreten ist (Maeschi, a.a.O., Rz. 15 f. zu Art. 4; Rz. 5, 26
und 28 zu Art. 5). Der Versicherte hat sich, wie in Art. 83 MVG vorgeschrieben,
beim Truppenarzt gemeldet (Maeschi, a.a.O., Rz. 8 ff. zu Art. 5 MVG). Wie sich
aus den vorliegenden medizinischen Stellungnahmen ergibt, ist nach
wissenschaftlicher Erkenntnis (auch weiterhin) davon auszugehen, dass bei
genetischer Disposition, wie sie auch beim Versicherten festgestellt wurde,
eine Aktivierung der Krankheit erfolgt durch Auslöser, die im Einzelnen nicht
bekannt sind. In Frage kommen Infektionen, aber auch starke körperliche
Anstrengung wie zu Beginn einer Rekrutenschule bei einer Person, die an
intensive körperliche Arbeit nicht gewöhnt ist. Dass die Krankheit während des
Dienstes aufgetreten ist, genügt nach Gesetz und Rechtsprechung für die Haftung
(Maeschi, a.a.O., Vorbemerkungen zu Art. 5 bis 7 Rz. 21, Rz. 30 ff.; Rz. 13 und
Rz. 29 ff. zu Art. 5). Der Sicherheitsbeweis ist nur im Rahmen der gesetzlich
vorgesehenen Gründe möglich (Maeschi, a.a.O., Vorbemerkungen zu Art. 5 bis 7
Rz. 37; Rz. 20 ff. zu Art. 5). Der Gesetzgeber hat daran in Art. 5 Abs. 2 lit.
a und b des MVG vom 19. Juni 1992 ausdrücklich festgehalten (Maeschi, a.a.O.,
Vorbemerkungen zu Art. 5 bis 7 Rz 16 ff.). An dieser gesetzlichen Ordnung
vermögen die Bedenken der Beschwerdeführerin nichts zu ändern. Dass die
Gesundheitsschädigung während des Dienstes verursacht worden ist, lässt sich
nicht ausschliessen. Die Haftungsvoraussetzungen sind daher erfüllt.

6.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass sie höchstens für eine
Verschlimmerung hafte. Eine in diesem Sinne eingeschränkte Haftung könnte nach
Art. 5 Abs. 3 MVG jedoch lediglich dann Platz greifen, wenn bewiesen wäre, dass
die Gesundheitsschädigung sicher vordienstlich sei oder sicher nicht während
des Dienstes habe verursacht werden können (Art. 5 Abs. 2 lit. a MVG).
Ansonsten fällt eine blosse Verschlimmerungshaftung nach Art. 5 Abs. 3 MVG von
vornherein ausser Betracht.

6.3. Das kantonale Gericht hat im Dispositiv ausdrücklich festgestellt, dass
die Militärversicherung für die Bechterew-Erkrankung haftet. Die Frage, ob die
Gesundheitsschädigung beim Versicherten ausschliesslich auf Einwirkungen
während des Dienstes zurückzuführen sei, beziehungsweise nach dem Mass der
Bundeshaftung (Art. 64 MVG) war nicht Gegenstand des vorinstanzlichen
Verfahrens (vgl. Maeschi, a.a.O., Vorbemerkungen zu Art. 5 bis 7 Rz. 39 sowie
Rz. 45 zu Art. 5). Es ist hier deshalb nicht weiter darauf einzugehen (Art. 99
Abs. 1 BGG). Gleiches gilt hinsichtlich der konkret geschuldeten Leistungen.

7. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
Prozessausgang entsprechend der Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1
Satz 1 BGG); des Weiteren hat sie dem Versicherten eine Parteientschädigung zu
bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 1. Dezember 2016
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Durizzo

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