Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.477/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_477/2016

Urteil vom 23. November 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Gerichtsschreiber Jancar.

Verfahrensbeteiligte
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Debora Bilgeri,
Beschwerdegegner.

Gegenstand
Unfallversicherung,

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 9. Juni 2016.

Sachverhalt:

A. 
Der 1952 geborene A.________ war Polymechaniker bei der B.________ AG und daher
bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch
unfallversichert. Am 5. November 2007 verspürte er beim Hantieren mit einem
Schraubenschlüssel bei grosser Kraftanstrengung Schmerzen im linken Handgelenk
ulnar. Am 20. August 2009 unterzog er sich im Spital C.________ einer Operation
am linken Handgelenk, wobei eine zentrale und periphere TFC Läsion Handgelenk
links diagnostiziert wurde. Am 30. März 2010 erfolgte in der Klinik D.________
eine weitere Operation am Handgelenk links. Mit Verfügung vom 23. April 2012
sprach die SUVA dem Versicherten ab 1. April 2011 eine Invalidenrente bei einer
Erwerbsunfähigkeit von 24 % und eine Integritätsentschädigung bei einer
Integritätseinbusse von 5 % zu. Seine Einsprache wies sie mit Entscheid vom 21.
Juni 2012 ab. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht
des Kantons St. Gallen dahingehend gut, dass es dem Versicherten ab 1. April
2011 eine Invalidenrente bei einer Erwerbsunfähigkeit von 29 % zusprach und die
Sache zur Rentenfestsetzung an die SUVA zurückwies. Im Übrigen wies es die
Beschwerde ab (Entscheid vom 14. Juni 2013). Die Beschwerden des Versicherten
und der SUVA hiess das Bundesgericht im Sinne der Erwägungen teilweise gut. Es
hob den kantonalen Entscheid auf und wies die Sache zu neuem Entscheid an die
Vorinstanz zurück. Im Übrigen wies es die Beschwerden ab (Urteil 8C_492 + 599/
2013 vom 10. Februar 2014).

B. 
Das Versicherungsgericht holte ein polydisziplinäres Gutachten der
Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) Zentralschweiz, Luzern, vom 29. Januar
2016 ein. Mit Entscheid vom 9. Juni 2016 hob es den Einspracheentscheid vom 21.
Juni 2012 auf und sprach dem Versicherten ab 1. April 2011 eine Invalidenrente
bei einer Erwerbsunfähigkeit von 28 % sowie eine Integritätsentschädigung von
Fr. 10'680.-, basierend auf einer Integritätseinbusse von 10 %, zu; es wies die
Sache zur Rentenfestsetzung an die SUVA zurück. Im Übrigen wies es die
Beschwerde ab.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die SUVA die
Aufhebung des kantonalen Entscheides.
Der Versicherte schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Soweit das kantonale Gericht im angefochtenen Entscheid die Sache zur
Rentenfestsetzung an die Beschwerdeführerin zurückgewiesen hat, handelt es sich
formal um einen Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 Abs.1 BGG. Da die
Rückweisung jedoch einzig der rechnerischen Umsetzung des oberinstanzlich
Angeordneten dient und demgemäss der Verwaltung keine Entscheidungsfreiheit
bleibt, ist sie als Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG zu behandeln (SVR
2008 IV Nr. 39 S. 131, 9C_684/2007 E. 1.1; Urteil 8C_764/2014 vom 23. März 2015
E. 1.3).

Davon abgesehen, sind - entgegen dem Beschwerdegegner - auch insoweit keine
Gründe für ein Nichteintreten ersichtlich, als der vorinstanzlich gewährte
Leidensabzug angefochten wird. Auch diesbezüglich steht dem Bundesgericht die
Befugnis zu, den angefochtenen Gerichtsentscheid auf Verletzung von Bundesrecht
hin zu überprüfen (vgl. Art. 95 lit. a BGG und E. 4.1).

2. 
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt
werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem
Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1
S. 389).
 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen
der Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche
Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und
Art. 105 Abs. 3 BGG).

3. 
Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen des Anspruchs auf Invalidenrente
(Art. 18 Abs. 1) und der Invaliditätsbemessung nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) richtig dargelegt. Gleiches gilt betreffend
den Anspruch auf Integritätsentschädigung (Art. 24 UVG; Art 36 Abs. 4 UVV) und
die Rechtsprechung zum Beweiswert von Gerichtsgutachten (BGE 135 V 465 E. 4.4
S. 469 und E. 4.6 S. 471). Darauf wird verwiesen.

4.

4.1. Strittig ist als Erstes die Höhe des Leidensabzugs von dem gestützt auf
die Schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE) ermittelten Tabellenlohn (vgl.
BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301). Während die SUVA einen 5%igen Abzug als
angemessen erachtet, erhöhte ihn das kantonale Gericht auf 10 %.

Die Frage nach der Höhe des (im konkreten Fall grundsätzlich angezeigten)
Leidensabzugs ist eine typische Ermessensfrage, deren Beantwortung
letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort zugänglich ist, wo das kantonale
Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also
Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung vorliegt (BGE 132 V
393 E. 3.3 S. 399). Das kantonale Gericht darf sein Ermessen nicht ohne
triftigen Grund an die Stelle desjenigen der Verwaltung setzen; es muss sich
somit auf Gegebenheiten abstützen können, welche seine abweichende
Ermessensausübung als naheliegender erscheinen lassen (BGE 137 V 71 E. 5.2 S.
73; 126 V 75 E. 6 S. 81).

4.2. Die Vorinstanz erwog, es bestünden Anhaltspunkte dafür, dass das Alter des
Versicherten (60 Jahre) und sein Dienstalter als Polymechaniker (17 Jahre bei
der B.________ AG) ihn bei der Stellensuche beschränkten und ihm somit bei der
Verwertung der Restarbeitsfähigkeit zum Nachteil gereichten. Dem sei mit einem
10%igen Tabellenlohnabzug Rechnung zu tragen.

Mit Urteil 8C_754/2015 vom 26. Februar 2016 E. 4.3 hat das Bundesgericht die
Frage offen gelassen, ob mit Blick auf Art. 28 Abs. 4 UVV das Merkmal "Alter"
in der Unfallversicherung grundsätzlich einen Abzug vom Tabellenlohn
rechtfertigen kann. Auch hier braucht diese Frage nicht abschliessend geprüft
zu werden. Denn auch in Zusammenhang mit dem Leidensabzug kommt dem Alter nur
beschränkte Bedeutung zu. So fällt der Umstand, dass die Stellensuche
altersbedingt erschwert sein mag, als invaliditätsfremder Faktor ausser
Betracht. Hievon abgesehen steht statistisch fest, dass sich das Alter bei
Männern im Alterssegment von 40 bis 64/65 bei den dem Versicherten noch
zumutbaren Arbeiten im untersten Anforderungsniveau (vgl. E. 4.3. hienach) eher
lohnerhöhend auswirkt (vgl. LSE 2012 Tabelle TA9, Median; Urteile 8C_7/2015 vom
27. April 2015 E. 5.2.4, 8C_594/2011 vom 20. Oktober 2011 E. 5 und 8C_20/2011
vom 9. Juni 2011 E. 4.4). Zudem werden Hilfsarbeiten auf dem massgebenden
ausgeglichenen Arbeitsmarkt (Art. 16 ATSG) grundsätzlich altersunabhängig
nachgefragt (vgl. Urteil 8C_328/2011 vom 7. Dezember 2011 E. 10.2). Dass der
während 17 Jahren für den gleichen Arbeitgeber tätig gewesene Beschwerdeführer
mit dem Verlust seiner Arbeitsstelle auch den (allenfalls) lohnrelevanten
Vorteil der bisherigen Dienstjahre verliert, ist plausibel. Indessen ist eine
lange Dienstdauer beim gleichen Arbeitgeber auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt
aber grundsätzlich positiv zu werten, indem die durch die langjährige
Betriebstreue ausgewiesene Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit sich bei einem
anderen Arbeitgeber im Anfangslohn niederschlägt. Vor allem aber nimmt die
Bedeutung der Dienstjahre im privaten Sektor ab, je niedriger das
Anforderungsprofil ist (BGE 126 V 75 E. 5a/cc S. 79; Urteile 8C_97/2014 vom 16.
Juli 2014 E. 4.2 und 9C_455/2013 vom 4. Oktober 2013 E. 4.1).

4.3. Als Grund für einen Leidensabzug verbleibt damit im vorliegenden Fall nur
noch die leidensbedingte Einschränkung, wovon auch die SUVA ausgeht.

Gestützt auf das Gerichtsgutachten der MEDAS vom 29. Januar 2016 kann der
Beschwerdeführer bei betroffener nicht dominanter Hand vollzeitig, ohne
Einschränkung der Feinmotorik noch leichte Tätigkeiten verrichten, wobei
Kälteexposition zu vermeiden ist. Von faktischer Einarmigkeit ist unter diesen
Umständen nicht auszugehen. Hievon abgesehen bestehen auf dem ausgeglichenen
Arbeitsmarkt genügend realistische Betätigungsmöglichkeiten selbst für
Personen, die funktionell als Einarmige zu betrachten sind und überdies nur
noch leichte Arbeit verrichten können (vgl. Urteil 8C_37/2016 vom 8. Juli 2016
E. 5.1.2). Unter diesen Umständen sind nach dem Gesagten keine triftigen Gründe
ersichtlich, von dem durch die SUVA auf 5 % festgesetzten Abzug abzuweichen.

5. 
Umstritten ist weiter die Höhe der Integritätseinbusse.

5.1. Die Vorinstanz folgte der Beurteilung der Gerichtsgutachter der MEDAS vom
29. Januar 2016. Diese legten der Bemessung des Integritätsschadens die Tabelle
5 (Integritätsschaden bei Arthrosen) der von der SUVA unter dem Titel
"Integritätsentschädigung gemäss UVG" veröffentlichten Richtwerte zugrunde. Sie
bewerteten die unfallbedingte Integritätseinbusse hinsichtlich der linken Hand
mit 10 %.

5.2. Die SUVA macht geltend, es sei auf die Einschätzung des Kreisarztes Dr.
med. E.________, Facharzt für Chirurgie FMH, speziell Allgemein- und
Unfallchirurgie, vom 13. Januar 2012 abzustellen, wonach die
Integritätseinbusse bezüglich der linken Hand 5 % betrage. Es könne nämlich
davon ausgegangen werden, dass der MEDAS-Gutachter Dr. med. F.________,
Facharzt FMH Chirurgie, speziell Handchirurgie, Klinik G.________, im Umgang
mit den einschlägigen SUVA-Tabellen nicht gleich bewandert sei wie Dr. med.
E.________. Denn gemäss SVR 2009 UV Nr. 9 S. 35, 8C_510/2007 E. 7.5.4) seien
die Kreisärzte nach ihrer Funktion und ihrer beruflichen Stellung Spezialärzte
im Bereich der Unfallmedizin, weshalb ihren Ausführungen gar vorrangige
Beweiskraft zukommen müsse. Dieses Urteil bezieht sich indessen auf das
Verhältnis zwischen Kreisarzt und Allgemeinpraktiker und kann daher gegenüber
polydisziplinären Gerichtsgutachten (mit Beteiligung einschlägig
spezialisierter Fachärzte) nicht zum Tagen kommen. Solchen Gutachten ist
praxisgemäss hoher Beweiswert zuzugestehen (BGE 135 V 465 E. 4.4 S. 469).

5.3. Das Gerichtsgutachten der MEDAS vom 29. Januar 2016 enthält indessen
bezüglich des Integritätsschadens keine eigentliche Begründung, geschweige denn
eine Befassung mit der Einschätzung des Kreisarztes Dr. med. E.________ vom 13.
Januar 2012.

Die Argumentation der Vorinstanz, dass die von Dr. med. E.________ damals
angetönte Verschlimmerung für den handchirurgischen MEDAS-Gutachter Dr. med.
F.________ nach fast vier Jahren besser voraussehbar gewesen und dieser Umstand
in seine Beurteilung eingeflossen sei, erscheint - wie die SUVA zu Recht
einwendet - tatsächlich spekulativ. Denn die Feststellungen im MEDAS-Gutachten
vom 29. Januar 2016 zeigen keine wesentliche Verschlechterung des Zustandes der
linken Hand.

Die gutachterliche Einschätzung gründet aber immerhin auf einer primär
handchirurgischen, im Übrigen aber auch polydisziplinär - rheumatologisch und
neurochirurgisch - mitgetragenen Beurteilung durch unabhängige
Gerichtsexperten, die sie in voller Kenntnis der Sach- und Aktenlage abgegeben
und sich zudem auf eine radiologische Abklärung des linken Handgelenks in der
Klinik G.________, vom 17. November 2015 gestützt haben. Insgesamt bestehen
daher keine zwingenden Gründe, von der Einschätzung der Gerichtsgutachter der
MEDAS abzuweichen.

6. 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Kosten den Parteien je zu Hälfte
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Dementsprechend hat der Beschwerdegegner Anspruch auf eine reduzierte
Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 9. Juni 2016 wird insoweit
abgeändert, als festgestellt wird, dass der Beschwerdegegner ab 1. April 2011
Anspruch auf eine Invalidenrente bei einer Erwerbsunfähigkeit von 24 % hat. Im
Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden den Parteien je zur Hälfte auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 1'400.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. November 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Jancar

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