Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.457/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     

{T 0/2}            
8C_457/2016

Urteil vom 23. September 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Frésard,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Katja Nikolova Hiller,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 30. Mai 2016.

Sachverhalt:

A.

A.a. A.________, geboren 1961, ist ausgebildete Köchin und arbeitete später im
Service. Am 20. Juni 1994 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an unter Hinweis auf eine volle Arbeitsunfähigkeit seit August
1992 wegen einer unfallbedingten Verletzung am linken Fuss. Wegen anhaltender
Beschwerden sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Thurgau am 31. Oktober 1994
mit Wirkung ab August 1993 eine ganze Invalidenrente zu. Sie bestätigte den
Rentenanspruch am 2. September 1999 und am 24. November 2000.

A.b. Am 12. Januar 2004 setzte die nunmehr zuständige IV-Stelle des Kantons
Zürich die Rente bei einem Invaliditätsgrad von 68 Prozent mit Wirkung ab dem
1. Januar 2004 auf eine Dreiviertelsrente herab unter der Annahme, dass eine
Verweistätigkeit zu 50 Prozent zumutbar wäre. Dieser Rentenanspruch wurde am
20. September 2006 bestätigt.

A.c. Auf Gesuch der Versicherten hin gewährte die IV-Stelle berufliche
Massnahmen. A.________ erwarb im Juli 2010 das Bürofachdiplom und im Februar
2011 das Handelsdiplom.

A.d. Im Zuge einer von Amtes wegen eingeleiteten Rentenrevision liess die
IV-Stelle die Versicherte durch Frau Dr. med. B.________, Innere Medizin FMH,
speziell Rheumaerkrankungen, sowie Dr. med. C.________, Psychiatrie und
Psychotherapie FMH, Klinik D.________, untersuchen (Gutachten vom 8. Januar
2010 und vom 11. Januar 2010 mit bidisziplinärer Beurteilung). Gestützt darauf
setzte die IV-Stelle den Anspruch mit Verfügung vom 30. August 2012 auf eine
halbe Rente herab.

A.e. Am 21. April 2013 stellte A.________ ein Revisionsgesuch und machte
insbesondere eine Verschlechterung ihres psychischen Gesundheitszustandes sowie
ein Lungenleiden (COPD) geltend. Am 3. Februar 2015 hob die IV-Stelle ihre
Verfügung vom 30. August 2012 wiedererwägungsweise auf mit der Begründung, dass
damals die Überwindbarkeit der geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit nicht
geprüft worden und die Rentenzusprache zweifellos unrichtig gewesen sei.
Tätigkeiten, die der Sprunggelenksverletzung und dem Lungenleiden angepasst
seien, vermöge die Versicherte vollzeitlich auszuüben und eine IV-relevante
psychische Gesundheitsschädigung sei nicht ausgewiesen. Es sei der Versicherten
zuzumuten, ein rentenausschliessendes Erwerbseinkommen zu erzielen. Die Rente
wurde für die Zukunft aufgehoben.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde von A.________ hiess das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 30. Mai 2016
gut und hob die angefochtene Verfügung vom 3. Februar 2015 auf mit der
Feststellung, die Beschwerdeführerin habe weiterhin Anspruch auf eine halbe
Rente.

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und
beantragt, es sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und ihre Verfügung vom
3. Februar 2015 zu bestätigen. Des Weiteren ersucht sie um Gewährung der
aufschiebenden Wirkung ihrer Beschwerde.
A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels
für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art.
105 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art.
106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend
gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann
eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es
kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der
allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG),
grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel
nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

2. 
Das kantonale Gericht hat die für die Rentenrevision nach Art. 17 ATSG und die
Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG massgeblichen Grundsätze zutreffend
dargelegt. Es wird darauf verwiesen.

3. 
Nach den vorinstanzlichen Feststellungen stützte sich die letzte
Rentenzusprache mit Verfügung vom 30. August 2012 auf das Gutachten der Dres.
med. B.________ und C.________ sowie auf die dazu ergangene Stellungnahme des
Regionalen Ärztlichen Dienstes. Der Begründung in der hier angefochtenen
Verfügung, die damalige Zusprechung einer halben Rente sei zweifellos unrichtig
gewesen, weil die Überwindbarkeit nicht geprüft worden sei, vermochte das
kantonale Gericht nicht zu folgen. Dieser Standpunkt beruhe auf einer im
entscheidenden Punkt unzutreffenden Prämisse. Die IV-Stelle gehe davon aus,
dass der psychiatrische Gutachter Dr. med. C.________ die von ihm attestierte
Arbeitsunfähigkeit auf die diagnostizierte anhaltende somatoforme
Schmerzstörung zurückgeführt habe. Dies treffe jedoch nicht zu, denn der
Gutachter habe die anhaltende somatoforme Schmerzstörung ausdrücklich als
Diagnose ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit bezeichnet. Damit habe er gar
keine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt, deren Anspruchsrelevanz bei der
Rechtsanwendung zusätzlich hätte geprüft werden müssen oder können. Vielmehr
habe der Gutachter die attestierte Arbeitsunfähigkeit mit der reduzierten
psychischen Belastbarkeit der Versicherten begründet. Die diagnostizierte
psychische Problematik habe keinen Fall für die Anwendung der sogenannten
Überwindbarkeitsrechtsprechung dargestellt. Die gutachtliche Einschätzung der
Arbeitsunfähigkeit, einer materiellen Anspruchsvoraussetzung, sei vom RAD-Arzt
ausdrücklich bestätigt worden und zumindest vertretbar, jedenfalls nicht
zweifellos unrichtig gewesen. Wenn eine Rentenzusprechung gestützt auf ein
pathogenetisch-ätiologisch unklares syndromales Beschwerdebild ohne
nachweisbare organische Grundlage erfolgt wäre, fiele eine Überprüfung und
Aufhebung trotz fehlender Revisionsgründe gemäss den Schlussbestimmungen der
Änderung 6a des IVG (vom 18. März 2011, AS 2011 5659; BGE 139 V 547) angesichts
des über zwanzigjährigen Rentenbezugs ausser Betracht. Es sei deshalb kein
Rechtstitel ersichtlich, welcher die Aufhebung der bisher zugesprochenen Rente
zu begründen vermöchte.

4.

4.1. Die Beschwerdeführerin beruft sich auf die Rechtsprechung zu den
somatoformen Schmerzstörungen und auf Art. 7 Abs. 2 ATSG, wonach für die
Beurteilung der Erwerbsunfähgikeit ausschliesslich die Folgen der
gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen sind und eine
Erwerbsunfähigkeit nur dann vorliegt, wenn sie aus objektiver Sicht nicht
überwindbar ist.

4.2. Das Bundesgericht hat seine Rechtsprechung zu den
pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne
nachweisbare organische Grundlage eingehend zusammengefasst in BGE 139 V 547.
Seit jeher haben sich Gesetzgebung und Rechtsprechung damit beschäftigt,
inwieweit sich eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder
psychischen Gesundheit (vgl. Art. 3, 6 und 7 ATSG) invalidisierend auswirken
kann. Wenn die versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, Arbeit in
ausreichendem Masse zu verrichten, Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit zu
vermeiden in der Lage wäre, gelten diese, wie bereits in BGE 102 V 165
festgehalten, nicht als Auswirkungen einer krankhaften seelischen Verfassung
und daher als IV-rechtlich irrelevant (BGE 102 V 165 S. 166 f.). In BGE 130 V
352 (und 130 V 396 E. 6.2.3 S. 401 f.) wurde ausgeführt, weshalb eine
somatoforme Schmerzstörung in der Regel keine zu einer Invalidität führende
Einschränkung der Arbeitsfähigkeit zu bewirken vermag. In Anbetracht der sich
mit Bezug auf Schmerzen naturgemäss ergebenden Beweisschwierigkeiten genügen
die subjektiven Schmerzangaben der versicherten Person nicht für die Begründung
einer Invalidität. Mit der am 1. Januar 2008 in Kraft getretenen 5. IV-Revision
ergänzte der Gesetzgeber Art. 7 ATSG und kodifizierte unter ausdrücklicher
Bezugnahme auf die Schmerzrechtsprechung von BGE 130 V 352 den
Zumutbarkeitsgrundsatz und das Gebot der Objektivierbarkeit (BGE 139 V 547 E. 5
S. 554 ff.; s. zu den ebenfalls unter die Schmerzrechtsprechung fallenden
Beschwerdebildern im Einzelnen E. 2.2 S. 550 sowie Urteil 8C_676/2015 vom 7.
Juli 2016 E. 5.2, zur Publikation vorgesehen). Seit BGE 131 V 49 (E. 1.2 S. 50)
ging die Rechtsprechung von der Vermutung aus, der versicherten Person sei eine
Willensanstrengung zuzumuten, mit welcher die Folgen einer somatoformen
Schmerzstörung (oder eines gleichgestellten Krankheitsbildes) überwunden werden
könnten. Diese sogenannte Überwindbarkeitsvermutung wurde mit BGE 141 V 281
aufgegeben, wobei sich jedoch an der Rechtsprechung zu Art. 7 Abs. 2 ATSG
nichts geändert hat (BGE 141 V 281, insb. E. 3.7 S. 295 f., E. 6 S. 307 f., E.
8 S. 309).

4.3. Nach den vorinstanzlichen Feststellungen wurde die Rente (am 30. August
2012) nicht wegen eines Schmerzleidens zugesprochen, sondern wegen einer
(anderen) psychischen Erkrankung. Es lag (was in der Beschwerde letztlich auch
nicht bestritten wird) kein einschlägiges Beschwerdebild vor, welches nach der
damals massgeblichen Praxis vermutungsweise überwindbar gewesen wäre. Die
Schmerzrechtsprechung war nicht anwendbar.
Die IV-Stelle will die Schmerzrechtsprechung auch bei dem bei der Versicherten
diagnostizierten psychischen Leiden (neurotische Persönlichkeitsstörung)
angewendet wissen und verlangt eine Überwindbarkeitsprüfung. Dabei bemängelt
sie zudem die damalige psychiatrische Diagnosestellung. Dr. med. C.________
meldete (aus den von ihm näher dargelegten Gründen) Bedenken an bezüglich der
Diagnose einer neurotischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.8), welche die
Ärzte des Zentrums für Medizinische Begutachtung am 6. Mai 2003 gestellt
hatten. Nur diesbezüglich konnte er den Vorgutachtern nicht gänzlich folgen,
ging aber mit ihnen übereinstimmend davon aus, dass die psychische
Belastbarkeit reduziert und die Arbeitsfähigkeit um 50 Prozent eingeschränkt
sei. Inwiefern diese Einschätzung entgegen den vorinstanzlichen Feststellungen
offensichtlich unrichtig wäre, wird beschwerdeweise nicht geltend gemacht.
Es bestehen keine Indizien dafür und wird von der IV-Stelle nicht weiter
ausgeführt, dass das bei der Versicherten diagnostizierte psychische Leiden
beziehungsweise die von Dr. med. C.________ bescheinigte Arbeitsunfähigkeit zu
überwinden sei (vgl. Urteil 8C_676/2015 vom 7. Juli 2016 E. 4 und 5.3, zur
Publikation vorgesehen). Eine offensichtliche Unrichtigkeit der
vorinstanzlichen Feststellungen oder eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen
Entscheides ist nicht ersichtlich. Mit dem kantonalen Gericht kann die
Rentenzusprechung mit Verfügung vom 30. August 2012 nicht als zweifellos
unrichtig gelten und fehlt es an einem Rechtstitel für die Aufhebung der
bisherigen Rente.

5. 
Das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde wird mit dem heutigen Urteil
gegenstandslos.

6. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem
Prozessausgang entsprechend der beschwerdeführenden IV-Stelle auferlegt (Art.
66 Abs. 1 Satz 1 BGG); des Weiteren hat sie der Versicherten eine
Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 23. September 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Durizzo

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