Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.454/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_454/2016

Urteil vom 19. Dezember 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Advokat Nicolai Fullin,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,

Pensionskasse Post, Viktoriastrasse 72, 3013 Bern.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
31. Mai 2016.

Sachverhalt:

A. 
Die 1965 geborene A.________ meldete sich am 13. Mai 2004 wegen der Folgen
eines Unfalls vom 7. November 2003 (Gehen an Stöcken, Schmerzen im rechten
Fussgelenk, Morbus Sudeck) zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau zog regelmässig die Akten der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) bei und tätigte eigene Abklärungen in
erwerblicher sowie medizinischer Hinsicht. Mit Verfügungen vom 28. Januar und
16. Februar 2009 sprach sie der Versicherten gestützt auf einen nach der
gemischten Methode ermittelten Invaliditätsgrad von 73 % (Anteil
Erwerbstätigkeit 73 % mit vollständiger Erwerbsunfähigkeit) ab 1. November 2004
eine ganze Invalidenrente zu. Diesen Anspruch bestätigte sie am 16. Juni 2010.

Im Rahmen des im Jahr 2012 von Amtes wegen eingeleiteten Revisionsverfahrens
veranlasste die IV-Stelle eine Begutachtung beim Zentrum für Interdisziplinäre
Medizinische Begutachtungen AG, ZIMB, Schwyz. Gestützt auf deren Expertise vom
31. Juli 2014 hob sie - nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren - die
Invalidenrente auf das Ende des der Zustellung der Verfügung vom 23. November
2015 folgenden Monats auf.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 31. Mai 2016 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde führen und beantragen, unter Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids sei ihr weiterhin eine ganze Invalidenrente
auszurichten. Ferner ersucht sie um Bewilligung der unentgeltlichen
Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.

Das Bundesgericht führt keinen Schriftenwechsel durch.
Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzung gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes
wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder
auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2
BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist
aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ans Bundesgericht zu prüfen, ob der
angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell-
und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a
BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften
Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Prozessthema bildet die Frage, ob sich der Invaliditätsgrad seit den
Rentenverfügungen vom 28. Januar und 16. Februar 2009 bis zur verfügungsweisen
Neuprüfung am 23. November 2015 revisionsrechtlich erheblich verändert hatte
(Art 17 Abs. 1 ATSG). Anlass zur Rentenrevision gibt jede wesentliche Änderung
in den tatsächlichen Verhältnissen seit Zusprechung der Rente, die geeignet
ist, den Invaliditätsgrad und damit den Anspruch zu beeinflussen. Insbesondere
ist die Rente bei einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes
revidierbar. Weiter sind, auch bei an sich gleich gebliebenem
Gesundheitszustand, veränderte Auswirkungen auf den Erwerbs- oder
Aufgabenbereich von Bedeutung (BGE 134 V 131 E. 3 S. 132); dazu gehört die
Verbesserung der Arbeitsfähigkeit aufgrund einer Angewöhnung oder Anpassung an
die Behinderung (Urteile 9C_349/2013 24. Oktober 2013 E. 3.1 und 9C_292/2012
vom 7. August 2012 E. 2.3). Hingegen ist die lediglich unterschiedliche
Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts im
revisionsrechtlichen Kontext unbeachtlich (BGE 112 V 371 E. 2b S. 372; SVR 2011
IV Nr. 1 S. 1, 8C_972/2009 E. 3.2; Urteil 8C_133/2013 vom 29. Mai 2013 E. 4.1).
Praxisgemäss ist die Invalidenrente auch dann revidierbar, wenn sich die
erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich gebliebenen Gesundheitszustands
erheblich verändert haben (BGE 133 V 545 E. 6.1 S. 546; 130 V 343 E. 3.5 S. 349
f. mit Hinweisen). Liegt in diesem Sinne ein Revisionsgrund vor, ist der
Rentenanspruch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend
("allseitig") zu prüfen, wobei keine Bindung an frühere Beurteilungen besteht (
BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 11 mit Hinweisen und E. 6.1 S. 13).

3.

3.1. Die Vorinstanz hat festgestellt, dass der ursprünglichen Rentenzusprache
die Stellungnahme der Frau Dr. med. B.________, Fachärztin für Physikalische
Medizin und Rehabilitation, Regionaler Ärztlicher Dienst (RAD), vom 18. Oktober
2007 zugrunde lag. Danach war die Versicherte in Anbetracht der massiven
Chronifizierung des körperlichen und psychischen Gesundheitsschadens (Status
nach lateraler Malleolarfraktur am rechten Fuss am 7. November 2003 mit
nachfolgender Fibula-Pseudarthrose und CRPS I - II; Status nach Anfrischen der
Pseudarthrose und erneuter Osteosynthese im Januar 2005; neuropathischer
Schmerz mit Allodynie des rechten Fusses; rezidivierende schwere depressive
Episode mit psychotischen Symptomen [ICD-10: F32.3]; Angststörung phobischer
und hypochondrischer Prägung; Panikstörung [ICD-10: F41.0]) seit dem 18.
November 2004 in jeglicher ausserhäuslichen Tätigkeit auf Dauer vollständig
arbeitsunfähig, und nach Rücksprache mit dem konsiliarisch beigezogenen Dr.
med. C.________ war von einer stationären psychiatrischen Behandlung keine
relevante Verbesserung mehr zu erwarten. Weiter hat das kantonale Gericht
erkannt, dass die IV-Stelle die Rente gestützt auf das in allen Teilen
beweiskräftige ZIMB-Gutachten vom 31. Juli 2014 aufhob. Die medizinischen
Sachverständigen konnten in Kenntnis und Würdigung der medizinischen Vorakten
sowie aufgrund eigener interdisziplinärer Untersuchungen keine die
Arbeitsfähigkeit beeinträchtigenden Befunde bezogen auf die angestammte oder
andere vergleichbare Tätigkeiten (wie Reinigungsangestellte, Hilfsarbeiterin,
Briefsortiererin, Kassiererin) mehr feststellen.

3.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, aus dem ZIMB-Gutachten ergebe sich
keine gesundheitliche Verbesserung des Gesundheitszustands, sondern lediglich
eine andere Beurteilung der Arbeitsfähigkeit. Entgegen den Feststellungen der
medizinischen Sachverständigen habe sie sich praktisch vollständig aus dem
sozialen Leben zurückgezogen; deren Hinweis, sie gehe mit dem Hund spazieren
und erhalte regelmässig Besuch vom Sohn und dessen Freundin, wirke angesichts
ihrer Hilfsbedürftigkeit schon fast zynisch. Sodann diagnostiziere Dr. med.
D.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, im Bericht vom 16.
November 2015 fast zwei Jahre nach den Untersuchungen beim ZIMB eine
Double-Depression bei aktuell schwerer depressiver Episode und anhaltender
ängstlicher Depression bei anamnestisch rezidivierender depressiver Störung,
eine Panikstörung sowie ein iatrogenes Opiatabhängigkeitssyndrom. Wohl möge
zutreffen, dass die erneut schlechte Phase in Zusammenhang mit dem bislang
negativ verlaufenen IV-Verfahren stehe und daher nicht per se berücksichtigt
werden dürfe. Dieser Umstand zeige aber, dass sie - wie schon in all den Jahren
zuvor - auf Belastungen mit verstärkten psychischen Beschwerden reagiere,
weshalb nach wie vor davon auszugehen sei, sie sei den Anforderungen einer
Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt nicht gewachsen. Daher habe die
Vorinstanz, die den in allen Teilen übereinstimmenden Auffassungen der
behandelnden Ärzte psychiatrischer Fachrichtung jeglichen Beweiswert
abgesprochen habe, Bundesrecht verletzt. Sie habe zudem übersehen, dass das
ZIMB-Gutachten auch bezogen auf die somatischen Einschränkungen und dessen
Auswirkungen in sich bezüglich mehrerer Punkte widersprüchlich sei.

4.

4.1. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit vorgebracht werden, als
erst der vorinstanzliche Entscheid dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Die
Beschwerdeführerin legt neu die Berichte der Dr. med. E.________, Oberärztin
Fusschirurgie, Klinik F.________, vom 7. Juli 2016 und des PD Dr. med.
G.________, Chefarzt Rheumatologie, Klinik H.________, vom 2. August 2016 auf.
Diese Beweismittel sind nach dem angefochtenen Entscheid vom 31. Mai 2016
entstanden. Sie bleiben daher aufgrund des absoluten Verbots, im
Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht echte Noven beizubringen, unbeachtlich
(vgl. BGE 140 V 543 E. 3.2.2.2 S. 548; 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123; Urteil
8C_721/2014 vom 27. April 2015 E. 2). Überdies ist ohnehin im Normalfall - wie
vorliegend - der Sachverhalt zu beurteilen, wie er sich bis zum
Verfügungszeitpunkt entwickelt hat (BGE 121 V 362 E. 1b S. 366 mit Hinweisen).

4.2. Entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführerin hat das kantonale Gericht
bundesrechtskonform dargetan, weshalb die Berichte der behandelnden Ärzte
sowohl psychiatrischer als auch somatischer Fachrichtung nicht geeignet waren,
um die Beweiswertigkeit des ZIMB-Gutachtens zu entkräften. Dabei wies es
zunächst zutreffend auf die unterschiedliche Natur von Behandlungs- und
Begutachtungsauftrag hin. Die medizinischen Sachverständigen hatten
unbestritten Kenntnis sämtlicher Auskünfte der behandelnden Ärzte, insbesondere
auch denjenigen des Dr. med. D.________. Er wies zwar im Bericht vom 16.
November 2015 eine Verschlechterung des psychiatrischen Gesundheitszustandes
aus, diese begründete er aber in erster Linie mit der von der IV-Stelle
beabsichtigten Rentenaufhebung, weshalb das kantonale Gericht zu Recht davon
ausgegangen ist, gestützt darauf könne kein invalidisierender
Gesundheitsschaden angenommen werden. Darüber hinaus ging, wie die Vorinstanz
zutreffend erkannt hat, auch aus dem von der Beschwerdeführerin angerufenen
Bericht des Dr. med. I.________, Allgemeine Innere Medizin FMH, vom 7. Dezember
2015 hervor, dass sich der Gesundheitszustand wegen der von der IV-Stelle in
Aussicht gestellten Rentenaufhebung verschlechtert hatte. Daher ist aufgrund
der Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht ersichtlich, inwiefern das
ZIMB-Gutachten widersprüchlich sein soll. Die medizinischen Sachverständigen
erklärten die anzunehmende vollständige Arbeitsfähigkeit nicht nur schlüssig,
sondern begründeten auch einlässlich, dass die psychischen Beschwerden
abgeklungen waren und sie keine Arbeitsunfähigkeit mehr zu begründen
vermochten. Das kantonale Gericht ging demnach zu Recht von einem
Revisionsgrund aus, da spätestens ab dem Zeitpunkt der Begutachtung ein
invalidisierender Gesundheitsschaden fehlte.

5. 
Die Vorinstanz hat schliesslich mit Hinweis auf die Rechtsprechung (SVR 2011 IV
Nr. 73 S. 220, 9C_228/2010 E. 3.3) richtig dargelegt, dass die Versicherte
während deutlich weniger als 15 Jahren eine Invalidenrente bezog und sie im
Zeitpunkt der Aufhebungsverfügung vom 23. November 2015 wesentlich jünger als
55 Jahre alt war, weshalb die IV-Stelle - zumal Anhaltspunkte dafür, warum ihr
die Selbsteingliederung objektiv betrachtet nicht möglich gewesen sein sollte,
nicht ersichtlich waren - die vorgängige Prüfung von erwerblichen
Eingliederungsmassnahmen unterlassen durfte. Die Beschwerdeführerin wiederholt
die im kantonalen Verfahren geltend gemachten Einwände, weshalb auf die nicht
zu beanstandenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid verwiesen wird.
Anzufügen ist einzig, dass sie gemäss ZIMB-Gutachten vom 31. Juli 2014 sowohl
in den angestammten Berufen (Briefsortiererin; Reinigungsangestellte) als auch
in jeder anderen vergleichbaren Erwerbstätigkeit anamnestisch bereits seit
September 2012, zumindest aber ab den gutachterlichen Explorationen wieder
vollständig arbeitsfähig gewesen war.

6. 
Dem Gesuch der unterliegenden Beschwerdeführerin um Bewilligung der
unentgeltlichen Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ist
stattzugeben, da die Bedürftigkeit aktenkundig, die Beschwerde nicht als
aussichtlos zu bezeichnen und die Verbeiständung durch einen Anwalt notwendig
ist (Art. 64 Abs. 1 - 3 BGG). Sie wird indessen auf Art. 64 Abs. 4 BGG
hingewiesen; danach hat sie der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie
später dazu in der Lage ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.

4. 
Rechtsanwalt Nicolai Fullin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung
von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Pensionskasse Post, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 19. Dezember 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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