Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.338/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_338/2016

Urteil vom 21. November 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Frésard,
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Reto Bachmann,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (vorinstanzliches Verfahren),

Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Luzern vom 11. April 2016.

Sachverhalt:

A.

A.a. Der 1964 geborene A.________ hatte sich am 11. Juli 2006 unter Hinweis auf
einen erlittenen Unfall und dessen Folgen bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug angemeldet. Nach Durchführung beruflich-medizinischer
Abklärungen und Beizug der SUVA-Akten sprach die IV-Stelle Luzern A.________
mit Verfügung vom 6. Oktober 2009 eine ganze Rente ab 1. Mai 2006 bis 31.
Oktober 2006 und eine halbe Rente ab 1. November 2006 bis 31. Juli 2007 zu. Die
dagegen erhobene Beschwerde hiess das damalige Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern mit Entscheid vom 20. Dezember 2010 teilweise gut und änderte die
Verfügung vom 6. Oktober 2009 dahingehend ab, dass A.________ vom 1. August
2006 bis 31. Oktober 2006 Anspruch auf eine ganze Rente und vom 1. November
2006 bis 31. August 2008 auf eine halbe Rente habe und danach kein
Rentenanspruch mehr bestehe.

A.b. Am 11. März 2015 meldete sich A.________ wegen nach dem Unfall
aufgekommener Depressionen erneut bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Luzern trat auf das Begehren nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 30. September 2015 nicht
ein.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher A.________ beantragen liess, es
seien die Nichteintretensverfügung aufzuheben, die IV-Stelle anzuweisen, auf
die Neuanmeldung einzutreten, sowie eine öffentliche Verhandlung im Sinne der
EMRK durchzuführen, wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 11. April
2016 ab. Eine öffentliche Verhandlung fand nicht statt.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die IV-Stelle sei zu
verpflichten, "das Gesuch vom 11. März 2015 rechtsgenüglich abzuklären".

Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wurde nicht
durchgeführt.

Erwägungen:

1. 
Der Beschwerdeführer rügt vorab in formeller Hinsicht eine Verletzung von Art.
6 Ziff. 1 EMRK, weil sich das kantonale Gericht geweigert habe, die beantragte
öffentliche Verhandlung durchzuführen.

1.1. Nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, dass seine Sache
in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist von einem
unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das
über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die
Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden
hat. Die Öffentlichkeit des Verfahrens soll dazu beitragen, dass die Garantie
auf ein "faires Verfahren" tatsächlich umgesetzt wird (Urteil 5A_724/2015 vom
2. Juni 2016 E. 3.1, zur Publikation vorgesehen). Vorliegend sind
zivilrechtliche Ansprüche im Sinne dieser Norm streitig (BGE 122 V 47 E. 2a S.
50). Das kantonale Gericht, welchem es primär obliegt, die Öffentlichkeit der
Verhandlung zu gewährleisten (BGE 136 I 279 E. 1 S. 281; 122 V 47 E. 3 S. 54),
hat bei Vorliegen eines klaren und unmissverständlichen Parteiantrages
grundsätzlich eine öffentliche Verhandlung durchzuführen (BGE 136 I 279 E. 1 S.
281; SVR 2014 UV Nr. 11 S. 37, 8C_273/2013 E. 1.2 mit Hinweisen). Ein während
des ordentlichen Schriftenwechsels gestellter Antrag gilt dabei als rechtzeitig
(BGE 134 I 331).

1.2. Von einer ausdrücklich beantragten öffentlichen Verhandlung kann dann
abgewichen werden, wenn der Antrag der Partei als schikanös erscheint oder auf
eine Verzögerungstaktik schliessen lässt und damit dem Grundsatz der
Einfachheit und Raschheit des Verfahrens zuwiderläuft oder sogar
rechtsmissbräuchlich ist. Gleiches gilt, wenn sich ohne öffentliche Verhandlung
mit hinreichender Zuverlässigkeit erkennen lässt, dass eine Beschwerde
offensichtlich unbegründet oder unzulässig ist. Als weiteres Motiv für die
Verweigerung einer beantragten öffentlichen Verhandlung fällt die hohe
Technizität der zur Diskussion stehenden Materie in Betracht, was etwa auf rein
rechnerische, versicherungsmathematische oder buchhalterische Probleme
zutrifft, wogegen andere dem Sozialversicherungsrecht inhärente Fragestellungen
materiell- oder verfahrensrechtlicher Natur wie die Würdigung medizinischer
Gutachten in der Regel nicht darunterfallen. Schliesslich kann das kantonale
Gericht von einer öffentlichen Verhandlung absehen, wenn es auch ohne eine
solche aufgrund der Akten zum Schluss gelangt, dass dem materiellen
Rechtsbegehren der bezüglich der Verhandlung antragstellenden Partei zu
entsprechen ist (BGE 136 I 279 E. 1 S. 281 mit Hinweis auf BGE 122 V 47 E. 3b/
ee und 3b/ff. S. 57 f.).

2.

2.1. Der Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung im Sinne der
EMRK wurde unbestrittenermassen rechtzeitig in der vorinstanzlichen
Beschwerdeschrift gestellt. Das kantonale Gericht entsprach diesem Begehren
nicht mit der Begründung, die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung setze
voraus, dass der entsprechende Parteiantrag wenigstens minimal begründet worden
sei, was gänzlich fehle.

2.2. Diese Begründung verfängt nicht. Von der klar und unmissverständlich
beantragten öffentlichen Verhandlung hätte das kantonale Gericht nur bei
Vorliegen von in Erwägung 1.2 hievor genannten Gründen absehen dürfen. Dass ein
solcher Grund gegeben wäre, hat die Vorinstanz zu Recht nicht erwogen. Soweit
das kantonale Gericht eine minimale Begründung des Antrags auf Durchführung
einer öffentlichen Verhandlung fordert und sich diesbezüglich auf BGE 122 V 47
E. 3a und b beruft, kann ihm nicht gefolgt werden. Vielmehr wird in diesem
Urteil lediglich ein klarer und unmissverständlicher Antrag vorausgesetzt. Auch
mit dem Hinweis der Vorinstanz auf die Urteile 9C_49/2014 vom 29. Oktober 2014
E. 1 und 9C_4/2015 vom 5. Mai 2015 E. 2.2 lässt sich der Verzicht auf die
Durchführung einer öffentlichen Verhandlung vorliegend nicht rechtfertigen.
Wohl wurde in diesen Urteilen eine minimale Begründung des Antrags verlangt,
doch war die öffentliche Verhandlung in beiden Fällen im Hinblick auf eine
Beweisabnahme angestrebt worden, worauf der Öffentlichkeitsgrundsatz keinen
Anspruch einräumt. Für den vorliegenden Fall, in welchem ausdrücklich die
Durchführung einer öffentlichen Verhandlung "im Sinne der EMRK," mithin keine
Beweisabnahme, beantragt worden war, lässt sich daraus nichts ableiten.

2.3. Zusammenfassend bestand für das kantonale Gericht keine Veranlassung und
keine Rechtfertigung, von der grundsätzlichen Verpflichtung zur Durchführung
einer öffentlichen Verhandlung ausnahmsweise abzuweichen. Indem die Vorinstanz
unter diesen Umständen hiervon abgesehen hat, wurde der in Art. 6 Ziff. 1 EMRK
gewährleisteten Verfahrensgarantie nicht Rechnung getragen. Es ist daher
unumgänglich, die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es den
Verfahrensmangel behebt und die vom Beschwerdeführer verlangte öffentliche
Verhandlung durchführt. Danach wird es über die Beschwerde materiell neu
befinden (BGE 136 I 279 E. 4 S. 284; SVR 2014 UV Nr. 11 S. 37, 8C_273/2013 E.
4).

3. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Als unterliegende Partei hat
die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese
hat dem Beschwerdeführer überdies eine Parteientschädigung zu entrichten (Art.
68 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern,
3. Abteilung, vom 11. April 2016 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und
dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 21. November 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Kopp Käch

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