Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.333/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     

{T 0/2}            
8C_333/2016

Urteil vom 24. Oktober 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Schüpfer.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Cordula Spörri,
Beschwerdeführerin,

gegen

Vaudoise Allgemeine
Versicherungs-Gesellschaft AG,
Place de Milan, 1007 Lausanne,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung
(Verwaltungsverfahren; prozessuale Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 23. März 2016.

Sachverhalt:

A. 

A.a. Die 1975 geborene A.________ arbeitete als kaufmännische Angestellte bei
der Bank B.________ als sie sich im Jahre 2002 bei drei verschiedenen Unfällen
jeweils eine Distorsion der Halswirbelsäule zuzog. Die Vaudoise
Versicherungs-Gesellschaft AG (nachfolgend: Vaudoise) erbrachte Leistungen im
Rahmen der obligatorischen Unfallversicherung. Nach Einholung eines
polydisziplinären Gutachtens beim Schweizerischen Institut für
Versicherungsmedizin (SIVM) vom 22. September 2008 sprach die Vaudoise der
Versicherten mit Verfügung vom 2. Oktober 2009 ab dem 1. Oktober 2008 eine
Rente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 41 % zu.

A.b. Im Rahmen eines Rentenrevisionsverfahrens liess die Unfallversicherung
A.________ in der Klinik C.________ erneut begutachten. Gestützt auf die
Expertise der Klinik C.________ vom 11. März 2015 verneinte die Vaudoise ihre
Leistungspflicht mangels natürlichem und adäquatem Zusammenhang und stellte die
Rentenleistungen mit Verfügung vom 4. Mai 2015 per Ende Mai 2015 ein. Daran
hielt sie mit Einspracheentscheid vom 13. Oktober 2015 fest.

B. 
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 23. März 2016 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Vaudoise
zu verpflichten, ihr weiterhin eine Rente aufgrund eines Invaliditätsgrades von
41 % auszurichten und Heilbehandlung zu erbringen. Eventuell sei die Sache zu
weiteren Sachverhaltsabklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt; ein Schriftenwechsel wird nicht
durchgeführt.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann
wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Im
Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der
Militär- oder der Unfallversicherung ist das Bundesgericht - anders als in den
übrigen Sozialversicherungsbereichen (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 1 und 2
BGG) - nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen
Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG). Es wendet das
Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft indessen - unter
Beachtung der Begründungspflicht in Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2
BGG) - grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen
Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).

2. 
Aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ist letztinstanzlich einzig noch
streitig und zu prüfen, ob die Vaudoise mit Blick auf das Gutachten der Klinik
C.________ vom 11. März 2015 die Voraussetzungen der prozessualen Revision im
Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG zu Recht bejaht hat. Das kantonale Gericht
bestätigte die Sicht der Unfallversicherung. Dagegen richtet sich die
Beschwerde der Versicherten.

3.

3.1. Formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide müssen in
Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der
Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder
Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war. Der Begriff
"neue Tatsachen oder Beweismittel" ist bei der (prozessualen) Revision eines
Verwaltungsentscheides nach Art. 53 Abs. 1 ATSG gleich auszulegen wie bei der
Revision eines kantonalen Gerichtsentscheides gemäss Art. 61 lit. i ATSG oder
bei der Revision eines Bundesgerichtsurteils gemäss Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG
(vgl. SVR 2010 IV Nr. 55 S. 169, 9C_764/2009 E. 3.1 mit Hinweisen; Urteile
8C_152/2012 vom 3. August 2012 E. 5.1 und 8C_422/2011 vom 5. Juni 2012 E. 4).

Neu sind demnach Tatsachen, die sich vor Erlass der formell rechtskräftigen
Verfügung oder des Einspracheentscheides verwirklicht haben, jedoch dem
Revisionsgesuchsteller trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren. Die
neuen Tatsachen müssen erheblich sein, d.h. sie müssen geeignet sein, die
tatbeständliche Grundlage des zur Revision beantragten Entscheids zu verändern
und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer andern Entscheidung zu
führen. Neue Beweismittel haben entweder dem Beweis der die Revision
begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem Beweis von Tatsachen zu
dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil des
Gesuchstellers unbewiesen geblieben sind (vgl. BGE 134 III 669 E. 2.1 S. 670;
127 V 353 E. 5b S. 358; SVR 2012 UV Nr. 17 S. 63, 8C_434/2011 E. 7.1; erwähnte
Urteile SVR 2010 IV Nr. 55 E. 3.2; 8C_152/2012 E. 5.1; 8C_422/2011 E. 4; Urteil
8F_9/2010 vom 10. März 2011 E. 3.1; je mit Hinweisen).

3.2. Betrifft der Revisionsgrund eine materielle Anspruchsvoraussetzung, deren
Beurteilung massgeblich auf Schätzung oder Beweiswürdigung beruht, auf
Elementen also, die notwendigerweise Ermessenszüge aufweisen, so ist eine
vorgebrachte neue Tatsache als solche in der Regel nicht erheblich. Ein
(prozessrechtlicher) Revisionsgrund fällt demnach überhaupt nur in Betracht,
wenn bereits im ursprünglichen Verfahren der untersuchende Arzt und die
entscheidende Behörde das Ermessen wegen eines neu erhobenen Befundes zwingend
anders hätten ausüben und infolgedessen zu einem anderen Ergebnis hätten
gelangen müssen. An diesem prozessualrevisionsrechtlich verlangten Erfordernis
fehlt es, wenn sich das Neue im Wesentlichen in (differenzial-) diagnostischen
Überlegungen erschöpft, also auf der Ebene der medizinischen Beurteilung
anzusiedeln ist (Urteil 9C_955/2012 vom 13. Februar 2013 E. 3.3.1).

4. 

4.1. Das kantonale Gericht hat nach umfassender und zutreffender Würdigung der
medizinischen Aktenlage erkannt, dass der vom Gutachter Dr. med. D.________,
Facharzt Neurologie FMH sowie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie,
Klinik C.________, veranlasste weitgehende Beizug der medizinischen
Krankengeschichte ab November 1995 offenbart habe, dass bei der Versicherten
schon Jahre vor den hier interessierenden Unfällen eine Migräne diagnostiziert
und behandelt worden ist.

4.1.1. Unbestritten ist, dass die Vorunfall-Krankengeschichte im Gutachten des
SIVM vom 22. September 2008 keine Erwähnung fand. Die dokumentierte
vorbestehende Migräne wurde weder von der Versicherten selbst, noch von deren
behandelndem Hausarzt, Dr. med. E.________ erwähnt, beziehungsweise sogar
ausdrücklich verneint (vgl. Befragung zu krankhaften Vorzuständen anlässlich
der SIVM-Begutachtung). Es handelt sich um eine Tatsache, die sich vor Erlass
der formell rechtskräftigen Verfügung vom 2. Oktober 2009 verwirklicht hat und
der Vaudoise trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt war. Damit handelt es
sich um eine "neue" Tatsache im Sinne der dargelegten Rechtsprechung (E. 3
hievor).

4.1.2. Die "chronischen posttraumatischen Kopfschmerzen", wie sie aus
neurologischer Sicht im SIVM-Gutachten diagnostiziert wurden, bildeten die
hauptsächliche Begründung für die gutachterlich attestierte eingeschränkte
Arbeits- und Leistungsfähigkeit. Der bejahte natürliche Kausalzusammenhang der
geltend gemachten Beschwerden mit den Unfällen begründete der Gutachter mit
"deren Beginn und dem ungebrochenen Andauern". Daraus erhellt, dass die neue
Tatsache einer vorbestehenden, über Jahre behandelten Migräne zu einem anderen
gutachterlichen Resultat geführt hätte. Die neue Tatsache einer vorbestehenden
chronischen Migräne ist damit "erheblich" im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG. Sie
stellt ein neues Element tatsächlicher Natur dar, welches die damalige
Entscheidungsgrundlagen als objektiv mangelhaft erscheinen lassen.

4.1.3. Wie die Vorinstanz bereits richtig erwog, kann der Beschwerdegegnerin
angesichts der wiederholten Beteuerung der Versicherten, sie habe vor den
Unfällen im Jahre 2002 an keinen Kopfschmerzen gelitten, und der ebenso
wiederholten Deklaration des Hausarztes, beim Heilungsverlauf würden keine
unfallfremden Faktoren mitspielen, nicht vorgeworfen werden, sie hätte bei
zumutbarer Sorgfalt den krankhaften Vorzustand früher entdecken müssen.

4.2. Was die Beschwerdeführerin dagegen vorbringt vermag nicht zu überzeugen.

4.2.1. Sie macht geltend, das kantonale Gericht habe des handschriftliche
Kürzel "KW" in der von Dr. med. E.________ verfassten Krankengeschichte zu
Unrecht als "Kopfweh" interpretiert. Das mag sein, ist hingegen irrelevant. Für
die hier entscheidende Frage ist auf das von Dr. med. D.________ im Rahmen der
polydisziplinären Begutachtung an der Klinik C.________ verfasste neurologische
Gutachten vom 11. März 2015 abzustellen. Er hat darin detailliert aufgezeigt,
dass bei der Versicherten im Jahre 1997 eine Migräne diagnostiziert und in der
Folge behandelt wurde. Der Experte stützt sich dabei auf die explizite
Erwähnung der Begriffe "Kopfschmerzen" und "Migräne". Er erwähnt das Kürzel
"KW" einzig mit dem Hinweis, dass - falls dieses für "Kopfweh" stehe - bereits
von einem entsprechenden Leiden im Jahre 1996 auszugehen sei. Der Versuch der
Beschwerdeführerin, das Gutachten des Dr. med. D.________ als nicht
beweistauglich darzustellen, scheitert. Tatsache ist, dass Dr. med. E.________
in einem Schreiben vom 21. Januar 2002 ausdrücklich die Diagnose einer
chronischen Migräne mit ophthalmischer Aura anführte. Die Migräneanfälle seien
unter der regelmässigen Inderal-Medikation deutlich zurückgegangen. Der
Gutachter und das kantonale Gericht durften sich damit auf die Tatsache eines
vorbestehenden relevanten Vorzustandes stützen.

4.2.2. Weiter rügt die Beschwerdeführerin, das kantonale Gericht habe ihr
rechtliches Gehör verletzt, indem es Dr. med. E.________ nicht als Zeuge
bezüglich ihrer Krankengeschichte einvernommen habe, obwohl dies ausdrücklich
beantragt worden war. Sie übersieht dabei, dass der Zeuge keine neuen
erhellenden Tatsachen hätte vorbringen können. Auch eine nachträgliche Aussage
hätte die echtzeitlich notierte Krankengeschichte und das am 21. Januar 2002
verfasste Zeugnis nicht geändert. Diesen ist klar zu entnehmen, dass die
Versicherte schon vor den Unfällen im Jahre 2002 seit längerer Zeit an einer
chronischen Migräne litt und auch diesbezüglich behandelt worden war.

4.3. Nach dem Gesagten ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz mit
angefochtenem Entscheid die von der Vaudoise vertretene Auffassung, wonach die
Erkenntnisse, zu welchen Dr. med. D.________ aus der Krankengeschichte der
Beschwerdeführerin gelangte, eine prozessuale Revision der Verfügung vom 2.
Oktober 2009 rechtfertige, bestätigt hat.

5. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die
Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 24. Oktober 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Schüpfer

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