Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.314/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_314/2016

Urteil vom 16. September 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Wirthlin,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.

Verfahrensbeteiligte
 A.________, vertreten durch Rechtsdienst Inclusion Handicap,
Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Neuanmeldung),

Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 16.
März 2016.

Sachverhalt:

A. 
A.________ war vom 1. Dezember 2010 bis 30. April 2012 als Raumpflegerin bei
der B.________ AG angestellt. Am 12. Januar 2012 meldete sie sich unter Hinweis
auf Weichteilrheuma/Fibromyalgie bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern nahm diverse Abklärungen vor und holte
die Akten des Krankentaggeldversicherers ein. Darunter befanden sich der
Bericht des Dr. med. C.________, Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie
FMH, vom 11. Februar 2012 und das Gutachten des Dr. med. D.________, Facharzt
für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 29. April 2012. Mit Verfügung vom 23.
August 2012 verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch mit der Begründung,
es bestehe kein Gesundheitsschaden mit invalidisierender Wirkung. Dieser
Verwaltungsakt erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

Am 24. September 2013 erfolgte eine Neuanmeldung bei der Invalidenversicherung.
Als gesundheitliche Beeinträchtigungen nannte A.________ Rheuma und psychische
Probleme bzw. eine somatoforme Schmerzstörung, bestehend seit dem Jahr 2000.
Die IV-Stelle veranlasste eine Begutachtung durch Dr. med. D.________. Die
darauf beruhende Expertise datiert vom 10. Mai 2014. Nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch mittels
Verfügung vom 23. Oktober 2014 wiederum ab.

B. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde ab
(Entscheid vom 16. März 2016).

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
und beantragen, es sei ihr eine halbe Invalidenrente zuzusprechen; eventualiter
sei die Sache zur Anordnung einer polydisziplinären Begutachtung an das
kantonale Gericht zurückzuweisen.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt
hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung auf Rüge hin
oder von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht,
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 105 Abs. 2 BGG und Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG) und ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 134 I 65 E. 1.3 S. 67 f.; 134 V 250 E.
1.2 S. 252, je mit Hinweisen).

2. 
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmungen und die von der
Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Rentenrevision, die bei
Neuanmeldungen analog Anwendung finden (Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 87 Abs. 2 und
3 IVV; BGE 130 V 71 E. 3.2.3 S. 77; vgl. auch BGE 133 V 108 E. 5.4 S. 114; 134
V 131 E. 3. S. 132), zum Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG in
Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 ATSG) und zum Anspruch auf eine Invalidenrente
(Art. 28 Abs. 1 und 2 IVG) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die
Ausführungen zur Aufgabe der Ärztin oder des Arztes im Rahmen der
Invaliditätsbemessung (BGE 132 V 93 E. 4 S. 99 f.; 125 V 256 E. 4 S. 261 mit
Hinweisen) sowie zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung medizinischer Berichte
und Gutachten (BGE 137 V 210 E. 6.2.2 S. 269; 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V
351 E. 3 S. 352 mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

3. 
Das kantonale Gericht ist der Ansicht, im massgebenden Vergleichszeitraum
zwischen 23. August 2012 (erste leistungsablehnende Verfügung) und 23. Oktober
2014 (zweite leistungsablehnende Verfügung nach Neuanmeldung) sei keine
wesentliche Veränderung der gesundheitlichen Situation ausgewiesen. Dabei
stützt es sich im Wesentlichen auf die psychiatrischen Gutachten des Dr. med.
D.________ vom 29. April 2012 und 10. Mai 2014. Dieser hatte zunächst - mit
Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit - eine leicht- bis mittelgradige depressive
Episode mit somatischem Syndrom im Rahmen einer rezidivierenden depressiven
Störung und - ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit - eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert. In einer den Fähigkeiten und
körperlichen Möglichkeiten entsprechenden Beschäftigung bestehe eine 70%ige
Arbeitsfähigkeit (Gutachten vom 29. April 2012). Am 10. Mai 2014 stellte er mit
Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit, welche er nunmehr mit 50 % bezifferte,
eine anhaltende mittelgradige depressive Episode sowie eine anhaltende
somatoforme Schmerzstörung fest.

4.

4.1. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe den Sachverhalt
aktenwidrig und daher offensichtlich unrichtig festgestellt. Denn im
angefochtenen Entscheid sei nicht genügend berücksichtigt worden, dass Dr. med.
D.________ am 10. Mai 2014 (basierend auf der Exploration vom 17. Januar 2014)
im Unterschied zu seinem Vorgutachten neben einer leichten
Merkfähigkeitsstörung, einer Reduktion der Aufmerksamkeit und einer
ausgeprägten Tendenz zur Selbstbeobachtung auch einen müden, abgespannten
Eindruck, einen leicht monotonen, viskös-stockenden Redefluss, eine
gedrückt-depressive, ängstlich besorgte und deutlich labile Grundstimmung,
einen deutlich verminderten Antrieb, zirkadiane Besonderheiten sowie diskrete
Hinweise für eine Dissimulation beobachtet habe. Die Versicherte habe dem
Gutachter von Durchschlafstörungen (Gedankenkreisen), Tagesmüdigkeit und, neu,
"regelmässigem" Tagesschlaf berichtet. Ausserdem habe sie zwischenzeitlich das
Fitnesstraining aufgegeben.

4.2. Bei dieser Argumentation wird übersehen, dass der Experte bereits im
Gutachten vom 29. April 2012 - aufgrund der Untersuchung vom 28. Februar 2012 -
ein konsistentes Bild depressiver Hemmung mit leicht viskösem Redefluss,
leichter formalgedanklicher Verlangsamung, leichter Antriebsminderung und wenig
mitschwingender Mimik und Gestik festgestellt hatte. Auch damals hatte die
Versicherte schon von schmerzbedingten Durchschlafstörungen, Tagesmüdigkeit und
"gelegentlichem" Tagesschlaf berichtet. Während sie am 28. Februar 2012 als
Sport "Fitness" angegeben und erwähnt hatte, dass sie selten Spaziergänge
unternehme, vermerkte sie im Gespräch vom 17. Januar 2014, sie übe keinen Sport
aus, spaziere jedoch regelmässig. Betreffend sportlicher Betätigung, Häufigkeit
von Spaziergängen und Regelmässigkeit von Tagesschlaf kann zudem nicht
unberücksichtigt bleiben, dass ihr die behandelnden Ärzte in der Zeit der
ersten Untersuchung im Februar 2012 eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit attestiert
hatten und sie, freigestellt von der Erbringung einer Arbeitsleistung, in einer
gekündigten Anstellung war. Damals legte sie sich, nachdem sie die Kinder am
Morgen für die Schule bereit gemacht hatte, wieder aufs Sofa und hatte die
meiste Zeit des Tages in der Wohnung verbracht (Gutachten vom 29. April 2012).
Demgegenüber war sie zur Zeit der zweiten Untersuchung durch Dr. med.
D.________ im Januar 2014 jeden Vormittag (ausser "Donnerstagnachmittag") für
eine "Putzfrauen-Agentur" tätig. Im Haushalt konnte sie seit Januar 2013 auf
die Hilfe ihrer Cousine zählen, welche insbesondere das Mittagessen für die
Kinder zubereitete und auch sonst weitgehend alle Hausarbeiten erledigte, so
dass sich die Versicherte nun jeweils nach dem Mittagessen für eine halbe bis
eine Stunde ins Bett zurückzog. Einerseits gab sie den Fitnesssport auf,
andererseits ging sie aber seitdem jeden Nachmittag mit dem Kindermädchen
spazieren (Gutachten vom 10. Mai 2014).

Es ist sehr fraglich, ob sich die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten
Unterschiede, welche allesamt marginal sind, durch eine Verschlimmerung des
psychischen Krankheitsbildes erklären lassen. Dr. med. D.________ legt nicht
dar, woraus er die seiner Meinung nach "eher" leichte Verschlechterung im
Gutachten vom 10. Mai 2014 ableitet. Er verweist lediglich auf eine
"deutlichere depressive Komponente" und auf die "weiter chronifizierte
Schmerzsymptomatik". Entgegen der Auffassung der Versicherten lässt sich eine
Zunahme des Leidens jedenfalls nicht mit den leicht höheren Werten aus der
psychometrischen Untersuchung begründen, welcher von vornherein lediglich
ergänzende Funktion zukommen kann (vgl. z.B. Urteil 9C_344/2013 vom 16. Oktober
2013 E. 3.1.5 mit Hinweisen). Bereits im Gutachten vom 29. April 2012 wurde
festgestellt, dass der Verlauf durch eine Fixierung und fortgeschrittene
Chronifizierung der Kernsymptomatik gekennzeichnet sei. Die ungünstige
Wechselwirkung zwischen Schmerz- und depressiver Störung floss ebenfalls schon
damals in die gutachtliche Beurteilung ein. Ob die Einschätzung des Dr. med.
D.________ vom 10. Mai 2014, wonach die aktuell attestierte Arbeitsfähigkeit
von 50 % durchgehend seit Dezember 2011 ausgewiesen sei, sich mit der
Versicherten als rückwirkende Anpassung aufgrund der "nach oben fluktuierenden
anhaltenden depressiven Symptomatik" (Beschwerde, S. 6) interpretieren lässt,
muss nicht beantwortet werden. Denn so oder anders könnte mit Blick auf die
Untersuchungsergebnisse nicht ohne weiteres von einer zwischenzeitlich
eingetretenen, erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes
ausgegangen werden. Die übrigen Einwendungen bezüglich der Leistungsfähigkeit
von 40 bis 50 % während einer Arbeitsintegration vom 2. bis 25. April 2013 und
hinsichtlich der Frage, ob im Jahr 2013 eine schwere depressive Episode
aufgetreten ist, vermögen daran nichts zu ändern. Damit lässt sich die
vorinstanzliche Beweiswürdigung und ihre Feststellung, wonach bei weitestgehend
ähnlichem Befund in den beiden Gutachten von einer unveränderten Sachlage
auszugehen sei, nicht als offensichtlich unrichtig (unhaltbar, willkürlich: BGE
135 II 145 E. 8.1 S. 153; Urteil 9C_607/2012 vom 17. April 2013 E. 5.2; zum
Begriff der Willkür: BGE 140 III 16 E. 2.1 S. 18 f. mit Hinweisen)
qualifizieren. Sie beruht auch nicht auf einer Rechtsverletzung, weshalb sie
für das Bundesgericht verbindlich ist (E. 1 hiervor).

5. 
Die Versicherte beruft sich sodann auf das Grundsatzurteil 9C_492/2014 vom 3.
Juni 2015, zwischenzeitlich publiziert in BGE 141 V 281. Diese neue
Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen bzw. äquivalenten
psychosomatischen Beschwerdebildern stellt für sich allein keinen
Neuanmeldungs- bzw. Revisionsgrund dar. Voraussetzung für eine Neuanmeldung -
bei der die Revisionsregeln analog anwendbar sind (E. 2 hiervor) - ist somit
allemal eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse (BGE 141 V 9 E. 2.3 S.
10), die hier aber gerade nicht vorliegt (vgl. E. 4.2 hiervor). Ob ein
rechtskräftig beurteilter, unveränderter Sachverhalt nach einer neuen
Rechtsprechung rechtlich anders eingeordnet würde, spielt keine Rolle (BGE 141
V 585 E. 5.3 S. 588).

6. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 4 lit. a BGG). Die
Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 65
Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 16. September 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz

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