Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.311/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_311/2016

Urteil vom 4. November 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdeführerin,

gegen

 A.________,
vertreten durch Fürsprecher Dr. Urs Oswald,
Beschwerdegegner,

 Vorsorgestiftung B.________.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom
9. März 2016.

Sachverhalt:

A. 
Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach A.________ mit Verfügung vom 12. August
2002 rückwirkend ab 1. September 2001 bei einem Invaliditätsgrad von 69 % eine
ganze Invalidenrente zu. Infolge Inkrafttretens der 4. IVG-Revision setzte sie
die Rente mit Verfügung vom 27. Februar 2004 auf eine Dreiviertelsrente herab.
Da eine im Jahr 2009 durchgeführte Überprüfung des Anspruchs keine
Veränderungen ergab, wurde die Dreiviertelsrente mit Verfügung vom 23. März
2010 bestätigt. Im Rahmen eines im Jahr 2013 eingeleiteten Revisionsverfahrens
liess die IV-Stelle A.________ durch die Ärztliche Begutachtungsinstitut GmbH
(ABI), Basel, polydisziplinär begutachten (Expertise vom 26. September 2014).
Unter Hinweis auf die am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Schlussbestimmungen
zur 6. IV-Revision hob sie die bisher ausgerichtete Invalidenrente nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 13. Mai 2015 auf.

B. 
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 9. März 2016 gut und hob die
Renteneinstellungsverfügung vom 13. Mai 2015 auf.

C. 
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die
verfügte Renteneinstellung sei zu bestätigen. Der Beschwerde sei aufschiebende
Wirkung zuzuerkennen.

A.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, soweit überhaupt
darauf eingetreten werden könne. Das kantonale Gericht und das Bundesamt für
Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.

D. 
Mit Verfügung vom 29. Juni 2016 hat die Instruktionsrichterin der Beschwerde
die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Erwägungen:

1. 
Der angefochtene Entscheid vom 9. März 2016 wurde der Beschwerdeführerin am 24.
März 2016 zugestellt. Die am 3. Mai 2016 eingereichte Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist somit rechtzeitig erfolgt (Art. 100
Abs. 1 BGG), weshalb darauf einzutreten ist.

2.

2.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich
weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die
Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen
als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der
Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft
das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur
Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die
geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu
offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).

2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2.3. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur
Arbeitsfähigkeit bzw. deren Veränderung in einem bestimmten Zeitraum handelt es
sich grundsätzlich um Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Gleiches
gilt für die konkrete Beweiswürdigung (Urteil 9C_204/2009 vom 6. Juli 2009 E.
4.1, nicht publ. in: BGE 135 V 254, aber in: SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164).
Dagegen sind die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der
Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfragen (BGE 132 V 393 E.
3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil 8C_413/2016 vom 2. September 2016 E. 1.3 mit
Hinweis).

3. 
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht zu Recht die Zulässigkeit
einer Neubeurteilung des Rentenanspruchs gestützt auf lit. a Abs. 1 der
Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes
Massnahmenpaket; nachfolgend SchlBest. IVG) verneint hat.

Die Grundlagen betreffend der entsprechenden Überprüfung laufender
Invalidenrenten sind im angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt worden.
Darauf kann verwiesen werden.

4.

4.1. Das kantonale Gericht stellte zunächst fest, die vorliegend in Frage
stehende Rente sei aufgrund organisch objektivierbarer Befunde, welche die
Schmerzen teilweise erklären würden, zugesprochen worden. Die IV-Stelle habe
damals auf den Bericht des Dr. med. C.________, FMH Physikalische Medizin und
Rehabilitation/Rheumatologie, Zentrum D.________ GmbH, vom 2. Juli 2001 sowie
auf den Bericht des Hausarztes Dr. med. E.________, vom 10. September 2001
abgestellt. Beide Ärzte hätten das Vorliegen einer Diskushernie L5/S1 rechts
diagnostiziert. Dr. med. C.________ habe zudem die Diagnosen eines chronischen
lumbospondylogenen Syndroms sowie einer Symptomausweitung gestellt. Da sich die
erklärbaren Beschwerden vorliegend nicht von den unklaren trennen liessen, so
die Vorinstanz, könne die Rentenrevision nicht auf lit. a Abs. 1 SchlBest. IVG
gestützt werden. Im Weiteren liege weder eine zweifellose Unrichtigkeit der
ursprünglichen Rentenfestsetzung noch eine wesentliche Änderung in den
tatsächlichen Verhältnissen vor, weshalb es auch an einem Rückkommenstitel in
Form der Wiedererwägung oder Revision fehle.

4.2. Die beschwerdeführende IV-Stelle bringt hiegegen im Wesentlichen vor, die
vorinstanzliche Feststellung, wonach das Beschwerdebild nicht in den
Anwendungsbereich von lit. a SchlBest. IVG falle, sei offensichtlich unrichtig.
Bei der vorliegenden Rentenzusprache hätten keine auch nur teilweise
organischen Ursachen ausgemacht werden können. Sowohl beim chronischen
lumbospondylogenen Syndrom gemäss Bericht des Zentrums D.________ GmbH vom 2.
Juli 2001 wie auch beim chronischen lumbovertebralen Schmerzsyndrom gemäss
ABI-Gutachten vom 26. September 2014 handle es sich um keinen nachweisbaren
Befund. Der festgestellten kleinen Diskushernie ohne neurologische Ausfälle
sodann dürfte in Bezug auf die Beschwerden untergeordnete Bedeutung beigemessen
worden sein. Insgesamt seien daher die Voraussetzungen für die Anwendung der
Schlussbestimmungen IVG offensichtlich gegeben. Die Beschwerdeführerin räumt im
Übrigen ein, dass in Anbetracht des ABI-Gutachtens vom 26. September 2014 mit
der Vorinstanz ein im Wesentlichen gleich gebliebener Zustand festzustellen
sei, und beruft sich weder auf den Rückkommenstitel der Revision noch der
Wiedererwägung.

5.

5.1. In Fällen mit sowohl syndromalen wie nicht syndromalen Beschwerden findet
lit. a Abs. 1 SchlBest. IVG auf "unklare" Beschwerden Anwendung, wenn sich
diese von "erklärbaren" Beschwerden trennen lassen. Laufende Renten sind von
einer Überprüfung unter diesem Rechtstitel ausgeschlossen, wenn und soweit sie
auf "erklärbaren" Beschwerden beruhen (BGE 140 V 197 E. 6.2.3 S. 200). Die
Schlussbestimmungen der 6. IV-Revision sind demnach bei kombinierten
Beschwerden anwendbar, wenn die unklaren und die "erklärbaren" Beschwerden -
sowohl diagnostisch als auch hinsichtlich der funktionellen Folgen -
auseinandergehalten werden können. Ein organisch begründeter Teil der
Arbeitsunfähigkeit kann bei Anwendbarkeit der Schlussbestimmung jedoch nur neu
beurteilt werden, sofern eine Veränderung im Sinne von Art. 17 ATSG eingetreten
ist. Insoweit wird im Anwendungsbereich der Schlussbestimmung vom Grundsatz
abgewichen, dass die Verwaltung im Rahmen einer materiellen Revision den
Rentenanspruch in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend prüft (SVR
2014 IV Nr. 39 S. 137, 9C_121/2014 E. 2.4.2 mit Hinweisen; Urteil 8C_413/2016
vom 2. September 2016 E. 4.2).

5.2. In BGE 140 V 197 fielen die neu zu beurteilenden syndromalen Beschwerden
bei der Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit insgesamt weg. Die Invalidität war
demgemäss nur noch aufgrund der (rechtsprechungsgemäss nicht mehr
überprüfbaren) rheumatologischen Gesundheitsschädigung zu bemessen. Liegt
demgegenüber ein "Mischsachverhalt" vor, bei dem die Invalidenrente sowohl für
eine organisch objektivierbare ("erklärbare") Gesundheitsschädigung wie auch
für ein diffuses ("unklares") Beschwerdebild im Sinne von lit. a Abs. 1
SchlBest. IVG zugesprochen wurde und bei dem sich keine anteilsmässige
Zuordnung der darauf zurückzuführenden Arbeitsunfähigkeit (en) vornehmen lässt,
fällt eine Herabsetzung oder Aufhebung unter dem Titel von lit. a Abs. 1
SchlBest. IVG ausser Betracht. Besteht neben dem syndromalen Zustand eine davon
unabhängige organische oder psychische Gesundheitsschädigung, hängt die
Anwendbarkeit der Schlussbestimmung davon ab, dass die weitere
("nichtsyndromale") Gesundheitsschädigung die anspruchserhebliche
Arbeitsfähigkeit nicht mitverursacht, d.h. letztlich nicht selbstständig zur
Begründung des Rentenanspruchs beigetragen hat (SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137,
9C_121/2014 E. 2.6; Urteil 8C_413/2016 vom 2. September 2016 E. 4.2.2).

5.3. Die Beschwerdeführerin vermag mit ihren Vorbringen in tatsächlicher
Hinsicht nicht zu begründen, inwiefern die Tatsachenfeststellungen der
Vorinstanz offensichtlich unrichtig sein sollten und diese bei der konkreten
Beweiswürdigung das ihr zustehende erhebliche Ermessen missbraucht hätte. Die
Anwendbarkeit von lit. a Abs. 1 SchlBest. IVG ergibt sich ausschliesslich aus
der Natur des Gesundheitsschadens, auf dem die Rentenzusprache beruhte (8C_413/
2016 vom 2. September 2016 E. 4.3). Eine Rentenaufhebung gestützt auf die
SchlBest. IVG ist nur zulässig, wenn die Anspruchsprüfung bei einer
Neuanmeldung gestützt auf die (damalige) Rechtsprechung zu den unklaren
Beschwerdebildern erfolgt wäre (Urteile 9C_843/2014 vom 4. September 2015 E.
5.2). Das ist hier nicht der Fall. Im Zeitpunkt der ursprünglichen
Rentenzusprache bestand als relevanter Gesundheitszustand ein chronisches
lumbospondylogenes Syndrom rechts mit Diskushernie L5/S1 rechts, Diskopathie L5
/S1, leichter Wirbelsäulenfehlform, muskulärer Dysbalance sowie
Symptomausweitung. Dabei handelt es sich nicht, wie die Beschwerdeführerin
vorbringt, allein um ein "unklares" Beschwerdebild im Sinne von lit. a Abs. 1
SchlBest. IVG. Auch liegt insgesamt kein medizinischer Sachverhalt vor, bei dem
unter den in BGE 140 V 197 E. 6.2.3 S. 200 vorgezeichneten Bedingungen eine
getrennte Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von unklaren und erklärbaren
Beschwerden vorzunehmen wäre. Wenn die Vorinstanz zum Schluss gelangte, die
Voraussetzungen für eine Rentenüberprüfung gestützt auf die SchlBest. IVG seien
nicht gegeben, verstösst dies nicht gegen Bundesrecht. Die Beschwerde ist daher
abzuweisen.

6. 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der
Beschwerdeführerin zu überbinden (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Sie hat dem
anwaltlich vertretenen Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen
(Art. 68 Abs. 2 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.

3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche
Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Vorsorgestiftung B.________, dem
Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 4. November 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Kopp Käch

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