Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.308/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_308/2016

Urteil vom 6. September 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Lanz.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

 A.________,
handelnd durch ihre Mutter, und diese vertreten durch Procap für Menschen mit
Handicap,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Intensivpflegezuschlag),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 17. März 2016.

Sachverhalt:

A. 
Die 2002 geborene A.________ leidet am Aspergersyndrom bei anerkannter
Autismus-Spektrums-Störung im Sinne von Ziff. 405 des Anhangs zur Verordnung
über Geburtsgebrechen (GgV). Im April/Mai 2014 erfolgte deswegen eine Anmeldung
für Leistungen der Invalidenversicherung. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
nahm nebst weiteren Sachverhaltserhebungen eine Abklärung an Ort und Stelle
vor. Darüber erstatteten die beiden Abklärungspersonen am 6. November 2014
Bericht. Mit Verfügung vom 6. Januar 2015 sprach die IV-Stelle der Versicherten
ab 1. Mai 2013 eine Hilflosenentschädigung für Minderjährige bei mittlerer
Hilflosigkeit zu. Hingegen verneinte sie einen Anspruch auf einen
Intensivpflegezuschlag, da der tägliche zeitliche Mehraufwand unter vier
Stunden liege.

B. 
Beschwerdeweise beantragte A.________, es seien eine Hilflosenentschädigung
entsprechend einer schweren Hilflosigkeit und ein Intensivpflegezuschlag
zuzusprechen, eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen an die Verwaltung
zurückzuweisen. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die
Beschwerde mit Entscheid vom 17. März 2016 dahingehend gut, dass es der
Versicherten ab 1. März 2013 einen Intensivpflegezuschlag für einen
invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von mindestens vier, aber weniger als
sechs Stunden zusprach und die Sache zur Festsetzung des konkreten
Leistungsanspruchs anhand der zu Hause verbrachten Tage an die Verwaltung
zurückwies.

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und ihre Verfügung
vom 6. Januar 2015 zu bestätigen.

Die Versicherte und das kantonale Gericht schliessen in ihren Vernehmlassungen
je auf Abweisung der Beschwerde.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280; vgl. auch BGE 141 V 234 E. 1 S. 236; 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.).

Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Der Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung zur IV-Rente selbst ist nicht mehr
umstritten. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht
verletzte, indem sie der Beschwerdegegnerin zur Hilflosenentschädigung einen
Intensivpflegezuschlag zusprach.

3. 
Gemäss Art. 42ter Abs. 3 IVG wird die Hilflosenentschädigung für Minderjährige,
die zusätzlich eine intensive Betreuung brauchen, um einen
Intensivpflegezuschlag erhöht; dieser Zuschlag wird nicht gewährt bei einem
Aufenthalt in einem Heim. Der monatliche Intensivpflegezuschlag beträgt bei
einem invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von mindestens 8 Stunden pro Tag
60 Prozent, bei einem solchen von mindestens 6 Stunden pro Tag 40 Prozent und
bei einem solchen von mindestens 4 Stunden pro Tag 20 Prozent des
Höchstbetrages der Altersrente nach Artikel 34 Abs. 3 und 5 AHVG. Der Zuschlag
berechnet sich pro Tag. Der Bundesrat regelt im Übrigen die Einzelheiten.

Dies ist in Art. 36 und insbesondere Art. 39 IVV erfolgt. Nach Art. 39 IVV
liegt eine intensive Betreuung im Sinne von Artikel 42ter Absatz 3 IVG bei
Minderjährigen vor, wenn diese im Tagesdurchschnitt infolge Beeinträchtigung
der Gesundheit zusätzliche Betreuung von mindestens vier Stunden benötigen
(Abs. 1). Anrechenbar als Betreuung ist der Mehrbedarf an Behandlungs- und
Grundpflege im Vergleich zu nicht behinderten Minderjährigen gleichen Alters.
Nicht anrechenbar ist der Zeitaufwand für ärztlich verordnete medizinische
Massnahmen, welche durch medizinische Hilfspersonen vorgenommen werden, sowie
für pädagogisch-therapeutische Massnahmen (Abs. 2). Bedarf eine minderjährige
Person infolge Beeinträchtigung der Gesundheit zusätzlich einer dauernden
Überwachung, so kann diese als Betreuung von zwei Stunden angerechnet werden.
Eine besonders intensive behinderungsbedingte Überwachung ist als Betreuung von
vier Stunden anrechenbar (Abs. 3).

4. 
Die IV-Stelle verneinte in der Verfügung vom 6. Januar 2015 den Anspruch auf
einen Intensivpflegezuschlag mit der Begründung, gemäss ihren Abklärungen sei
die Versicherte beim An- und Auskleiden, der Körperpflege, dem Verrichten der
Notdurft und der Fortbewegung/Kontaktpflege auf regelmässige und erhebliche
Hilfe angewiesen. Zudem müsse sie persönlich überwacht werden. Der tägliche
zeitliche Mehraufwand liege aber insgesamt unter vier Stunden. Die IV-Stelle
stützte sich hiebei auf den Abklärungsbericht vom 6. November 2014. In diesem
bemassen die Abklärungspersonen gestützt auf Erhebungen an Ort und Stelle den
täglichen zeitlichen Mehrbedarf bei den genannten Verrichtungen und unter
Anrechnung einer dauernden Überwachung auf insgesamt 3 Stunden 37 Minuten.
Hilfe im Rahmen Behandlungspflege sei nicht erforderlich. Der angerechnete
Betreuungsaufwand setzt sich mithin aus 1 Stunde 37 Minuten für Grundpflege im
Sinne von Art. 39 Abs. 2 Satz 1 IVV und 2 Stunden für dauernde Überwachung im
Sinne von Art. 39 Abs. 3 Satz 1 IVV zusammen.

Das kantonale Gericht hat im Bereich Grundpflege pro Tag einen Zeitaufwand von
zusätzlich 16 Minuten für indirekte Hilfe beim Essen und von 22 Minuten (statt
den von der Verwaltung anerkannten 2 Minuten) für indirekte Hilfe beim
Verrichten der Notdurft angerechnet. Dies führte zu einem invaliditätsbedingten
Betreungsaufwand von insgesamt 4 Stunden 13 Minuten.

Die IV-Stelle rügt, die Vorinstanz sei damit zu Unrecht von der Einschätzung
der Abklärungspersonen abgewichen. Die Abweichungen würden durch die Akten
nicht gestützt. Die Versicherte und das kantonale Gericht verneinen dies.

5.

5.1. Gemäss Art. 69 Abs. 2 IVV kann die IV-Stelle zur Prüfung eines
Leistungsanspruchs unter anderem Abklärungen an Ort und Stelle vornehmen. Nach
der Rechtsprechung hat ein Abklärungsbericht unter dem Aspekt der Hilflosigkeit
(Art. 9 ATSG) oder des Pflegebedarfs folgenden Anforderungen zu genügen: Als
Berichterstatterin oder Berichterstatter wirkt eine qualifizierte Person,
welche Kenntnis der örtlichen und räumlichen Verhältnisse sowie der aus den
seitens der Mediziner gestellten Diagnosen sich ergebenden Beeinträchtigungen
und Hilfsbedürftigkeiten hat. Bei Unklarheiten über physische oder psychische
Störungen und/oder deren Auswirkungen auf alltägliche Lebensverrichtungen sind
Rückfragen an die medizinischen Fachpersonen nicht nur zulässig, sondern
notwendig. Weiter sind die Angaben der Hilfe leistenden Personen zu
berücksichtigen, wobei divergierende Meinungen der Beteiligten im Bericht
aufzuzeigen sind. Der Berichtstext schliesslich muss plausibel, begründet und
detailliert bezüglich der einzelnen alltäglichen Lebensverrichtungen sowie den
tatbestandsmässigen Erfordernissen der dauernden Pflege und der persönlichen
Überwachung und der lebenspraktischen Begleitung sein. Schliesslich hat er in
Übereinstimmung mit den an Ort und Stelle erhobenen Angaben zu stehen. Das
Gericht greift, sofern der Bericht eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage im
eben umschriebenen Sinne darstellt, in das Ermessen der die Abklärung
tätigenden Person nur ein, wenn klar feststellbare Fehleinschätzungen
vorliegen. Das gebietet insbesondere der Umstand, dass die fachlich kompetente
Abklärungsperson näher am konkreten Sachverhalt ist als das im Beschwerdefall
zuständige Gericht (BGE 140 V 543 E. 3.2.1 S. 547 mit Hinweisen; SVR 2012 IV
Nr. 54 S. 195, 8C_756/2011 E. 3.2). Diese Grundsätze gelten entsprechend auch
für die Abklärung der Hilflosigkeit unter dem Aspekt des
Intensivpflegezuschlags (vgl. erwähntes Urteil 8C_756/2011 E. 3.2 mit Hinweis).
Festzuhalten ist sodann, dass es beim erwähnten "Ermessen der die Abklärung
tätigenden Person" nicht um Ermessen im Sinn der verwaltungsrechtlichen
Terminologie - mithin um die Abgrenzung der Entscheidsbefugnis des Gerichts
gegenüber der Zuständigkeit der Verwaltung unter dem Gesichtspunkt der
Zweckmässigkeitsprüfung -, sondern um eine Frage der Beweiswürdigung geht
(erwähntes Urteil 8C_756/2011 E. 4.4 mit Hinweisen). Weicht ein Gericht von der
Einschätzung der Abklärungspersonen ab, ohne Fehleinschätzungen im oberwähnten
Sinn festzustellen, verletzt dies sodann eine Beweiswürdigungsregel und den
Untersuchungsgrundsatz. Das wird als Rechtsfrage vom Bundesgericht frei
überprüft (statt vieler: SVR 2016 IV Nr. 6 S. 18, 8C_461/2015 E. 1 mit
Hinweisen; Urteil 9C_457/2014 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 141 V 405, aber in:
SVR 2016 BVG Nr. 11 S. 47; vgl. auch erwähntes Urteil 8C_756/2011 E. 1).

5.2. Das kantonale Gericht hat erwogen, die Versicherte bedürfe beim Essen
einer indirekten Hilfe, weshalb der entsprechende Zeitaufwand zu
berücksichtigen sei. Die von der Mutter angegebenen 16 Minuten seien plausibel.
Im Abklärungsbericht vom 6. November 2014 haben die Abklärungspersonen indessen
zunächst begründet, weshalb sie zur Auffassung gelangt sind, beim Essen falle
kein Zusatzaufwand an. Sie haben sodann dargelegt, weshalb sie den von der
Mutter der Versicherten angegebenen Zeitaufwand von 16 Minuten beim Essen für
nicht gerechtfertigt erachten. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 12. März
2015 haben sich die Abklärungspersonen nochmals entsprechend geäussert. Das
kantonale Gericht hat es bei seiner erwähnten Erwägungen belassen, ohne ein
Wort dazu zu verlieren, weshalb von der einlässlich begründeten Einschätzung
der Abklärungspersonen abzuweichen und vielmehr auf die Angaben der Mutter der
Versicherten abgestellt werden soll. Alleine mit der Erwägung, die Angaben der
Mutter seien plausibel, wird jedenfalls nicht auf eine klar feststellbare
Fehleinschätzung der Abklärungspersonen erkannt. Dass das kantonale Gericht
dennoch 16 Minuten invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand angerechnet hat, ist
daher bundesrechtswidrig. Es bedarf hiezu auch keiner weiteren Abklärungen, da
sich der rechtserhebliche Sachverhalt aus den Akten ergibt und gestützt auf
diese ein solcher Mehraufwand zu verneinen ist.

5.3. Beim Bereich "Verrichten der Notdurft" hat das kantonale Gericht ebenfalls
auf die Angaben der Mutter abgestellt. Es hat dies zwar eingehend begründet.
Indessen fällt auf, dass es hiebei wesentlich auf eigene Vermutungen zu
notwendiger indirekter Hilfe abgestellt hat. Das gilt etwa für die Annahme, die
Versicherte würde die Notdurft nicht selbst verrichten, wenn die Mutter nicht
vor der WC-Tür warten würde. Zu erwähnen ist sodann die vorinstanzliche
Erwägung, wonach die Mutter zwar keine Angaben zum dafür nötigen Zeitaufwand
gemacht habe, dieser aber nach der allgemeinen Lebenserfahrung auf mindestens
10 Minuten pro Tag anzusetzen sei. Es erscheint insgesamt fraglich, ob auf eine
klar feststellbare Fehleinschätzung der Abklärungspersonen geschlossen wurde
und ob dies gerechtfertigt wäre. Abschliessend muss dies aber nicht beurteilt
zu werden. Denn nachdem - wie oben dargelegt - der vom kantonalen Gericht
angerechnete Mehraufwand im Bereich Essen entfällt, wird der für einen
Intensivpflegezuschlag erforderliche Betreuungsaufwand ohnehin nicht erreicht.

5.4. In der Vernehmlassung der Versicherten wird geltend gemacht, typisch für
Personen mit Aspergersyndrom sei, dass sich das Verhalten auswärts von dem zu
Hause unterscheide. Das vermag aber kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen.
Festzuhalten ist sodann, dass die bestehende gesundheitliche Problematik
zweifellos mit erheblichen Erschwernissen für die Versicherte und ihr
familiäres Umfeld verbunden ist. Aus den Akten geht überdies hervor, dass die
Familie viel Einsatz zeigt, um der Versicherten die bestmöglichen
Rahmenbedingungen zu schaffen. Das verdient Anerkennung und Respekt, entbindet
indessen weder die Verwaltung noch das erstinstanzliche Gericht oder das
Bundesgericht davon, den streitigen Leistungsanspruch nach den gesetzlichen
Vorgaben zu prüfen. Im vorliegenden Fall führt dies zur Verneinung des
Anspruchs auf einen Intensivpflegezuschlag. Die Beschwerde ist gutzuheissen.

6. 
Die Kosten des Verfahrens sind von der unterliegenden Beschwerdegegnerin zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 17. März 2016 wird aufgehoben und die Verfügung der
IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 6. Januar 2015 bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des
vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
zurückgewiesen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 6. September 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Lanz

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