Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.2/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
8C_2/2016          
{T 0/2}

Urteil vom 29. Februar 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Frésard,
Gerichtsschreiberin Durizzo.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Luca Barmettler,
Beschwerdeführerin,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004
Luzern,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Unfallversicherung
(Kausalzusammenhang, psychisches Leiden),

Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons
Zürich
vom 30. Oktober 2015.

Sachverhalt:

A. 
A.________, geboren 1977, war in einem Tankstellen-Shop in B.________
beschäftigt und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) für
die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten
versichert. Am Morgen des 9. Dezember 2009 geriet sie an ihrem Arbeitsplatz in
einen Raubüberfall. Bei einer Zigarettenpause im Freien beim Seiteneingang des
Shops bedrohte sie der mit einer Sturmhaube maskierte Täter mit einer
Soft-Air-Waffe, rammte diese danach auch in ihren Rücken und verlangte nach
Geld. Er konnte später im Shop überwältigt werden, als auch bereits die Polizei
eintraf. A.________ klagte in der Folge über anhaltende psychische Beschwerden.
Mit Verfügung vom 31. Oktober 2013 und Einspracheentscheid vom 27. Dezember
2013 schloss die SUVA den Fall ab und stellte ihre Versicherungsleistungen auf
den 31. Dezember 2013 ein mit der Begründung, dass das Schreckereignis nicht
geeignet sei, einen dauernden, erheblichen psychischen Schaden zu verursachen.

B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 30. Oktober 2015 ab.

C. 
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen
mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihr auch über
den 31. Dezember 2013 hinaus das ganze Taggeld, eventualiter eine
Invalidenrente bei einer Erwerbseinbusse von 100 Prozent auszurichten,
subeventualiter sei die Sache zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung und
Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Des Weiteren ersucht sie um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Das Bundesgericht hat die vorinstanzlichen Akten eingeholt und verzichtet auf
einen Schriftenwechsel.

Erwägungen:

1.

1.1. Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG
erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106
Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG ist
die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht
eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich
nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine
erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen,
wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die
Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur
insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und
begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).

1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von
Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht
an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden
(Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).

2. 
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zu der für die
Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen und
adäquaten Kausalität und insbesondere die Rechtsprechung zu den so genannten
aussergewöhnlichen Schreckereignissen zutreffend dargelegt. Es wird darauf
verwiesen.

3. 
Die Vorinstanz hat erwogen, dass der Überfall unbestrittenerweise als
Schreckereignis im Sinne der Rechtsprechung zu qualifizieren sei und dass der
Vorfall mindestens teilweise in natürlichem Kausalzusammenhang zu den geklagten
psychischen Beschwerden stehe. Indessen vermöge ein solches Ereignis nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung, welche bei der
Prüfung der adäquaten Kausalität in diesen Fällen massgeblich seien, keine
länger als vier Jahre andauernde psychische Gesundheitsschädigung
(einschliesslich einer gänzlichen Arbeitsunfähigkeit während dreier Jahre) zu
begründen.

4. 
Was beschwerdeweise dagegen vorgebracht wird, vermag an der Beurteilung des
kantonalen Gerichts mit Blick auf vergleichbare Fälle nichts zu ändern.

4.1. Das Bundesgericht hat sich eingehend in BGE 129 V 177 zum Schreckereignis
im Zusammenhang mit deliktischen Handlungen wie Raub, Drohung oder Erpressung
geäussert. Zu beurteilen war ein Raubüberfall auf die Betriebsleiterin eines
Spielsalons mit einer Faustfeuerwaffe, aber ohne Handgreiflichkeiten oder
Schussabgabe. Das Bundesgericht hat erkannt, dass ein solches Ereignis nicht
geeignet sei, einen dauernden, erheblichen psychischen Schaden mit anhaltender
Erwerbsunfähigkeit zu verursachen. Die übliche und einigermassen typische
Reaktion auf einen solchen Überfall dürfte erfahrungsgemäss darin bestehen,
dass zwar eine Traumatisierung stattfinde, diese aber vom Opfer in aller Regel
innert einiger Wochen oder Monate überwunden werde. Eine psychische Störung und
lang andauernde Erwerbsunfähigkeit könnten nicht mehr in einem weiten Sinne als
angemessene und einigermassen typische Reaktion auf das Schreckereignis
bezeichnet werden (BGE 129 V 177 E. 4.3 S. 185).
Gleiches galt im Fall der Versicherten, die als Aufsicht in einem Spielsalon
bei Arbeitsschluss von drei maskierten Männern überfallen wurde, wobei einer
von ihnen mit den Fäusten auf sie einschlug und ein anderer eine Pistole auf
sie richtete (Urteil U 2/05 vom 4. August 2005; vgl. auch Urteil U 549/06 vom
8. Juni 2007 E. 4.2), beim Barkeeper, der bei Aufräumarbeiten nach
Betriebsschluss von zwei maskierten Männern mit Schusswaffen bedroht sowie mit
Faustschlägen ins Gesicht und Fusstritten in den Bauch traktiert wurde, während
sich ein dritter um den ebenfalls anwesenden Geschäftsführer kümmerte, und
danach im Büro des Betriebs eingeschlossen wurde (Urteil U 593/06 vom 14. April
2008 E. 3 und 4), bei der Kioskverkäuferin, die hinter dem Verkaufstresen von
zwei maskierten Männern bedroht wurde, wobei einer der Täter sie an der
Schulter festhielt und eine Pistole mit einem Abstand von etwa sieben bis zehn
Zentimetern gegen ihre Stirn richtete (Urteil 8C_266/2013 vom 4. Juni 2013 E.
3.2.1), und beim Tankstellenwart, der mit einer Pistole bedroht wurde und mit
der Faust beziehungsweise mit der Pistole Schläge gegen den Kopf erhielt
(Urteil 8C_44/2015 vom 19. Mai 2015 E. 3).

4.2. Es sind mit Blick auf die geschilderten Fälle beim Ablauf des hier zu
beurteilenden Raubüberfalls keine besonderen Umstände auszumachen, die eine
andere Beurteilung der adäquaten Kausalität rechtfertigen würden, wie die
Beschwerdeführerin geltend macht. Sie beruft sich auf das Urteil 8C_522/2007
vom 1. September 2008, in welchem das Bundesgericht die Leistungspflicht des
Unfallversicherers für die psychischen Folgen eines Raubüberfalls ausnahmsweise
bejaht hat. Sie vermag daraus jedoch nichts zu ihren Gunsten abzuleiten. In
jenem Fall war die Mitarbeiterin in der Schnittblumenabteilung eines
Blumengrosshandels morgens um halb vier Uhr als erste am Arbeitsplatz
eingetroffen und sah bei einer geballten Übermacht von drei schwarz
gekleideten, vermummten und bewaffneten Einbrechern keinerlei Chance, sich zu
wehren oder zu fliehen. Sie wurde gezwungen, sich auf den Boden zu legen,
während sich die Männer an ihr zu schaffen machten, um sie an Armen und Beinen
zu fesseln und danach in eine Toilette einzuschliessen. Sie musste aus objektiv
verständlichen Gründen während dreissig Minuten ständig befürchten, dass es zu
sexueller Gewalt kommen könnte, und auch mit dem Tod rechnen. Im hier zu
beurteilenden Fall sind keine solch erschwerenden Elemente zu erkennen.
Insbesondere war die Beschwerdeführerin beim Raubüberfall nicht allein, sondern
es befanden sich zwei weitere Frauen sowie zwei Männer in unmittelbarer Nähe.
Die Bedrohungssituation allein gegenüber der Beschwerdeführerin dauerte nur
kurz. Die Polizei konnte durch einen Handtaster alarmiert werden, und noch vor
deren Eintreffen konnte der Täter überwältigt werden. Die von der
Beschwerdeführerin geltend gemachte besondere Heftigkeit und
Aussergewöhnlichkeit der seelischen Einwirkungen lässt sich damit nicht
begründen (vgl. zu den massgeblichen Kriterien auch Urteil 8C_774/2007 vom 24.
Juni 2008 E. 5.3).

4.3. Die Beschwerdeführerin beruft sich des Weiteren darauf, dass zu Unrecht
die mehrjährigen erfolglosen Therapiebemühungen unberücksichtigt geblieben
seien. Auch diesbezüglich zeigen sich gegenüber vergleichbaren Fällen jedoch
keine Besonderheiten, die eine Abweichung von der dargestellten Rechtsprechung
als angezeigt erscheinen liessen. Das Bundesgericht hat im bereits erwähnten
Fall der Kioskverkäuferin geprüft, ob die für eine "weite Bandbreite" von
Versicherten geltende Rechtsprechung (BGE 129 V 177 E. 4.3 S. 185) auch dann
anzuwenden sei, wenn das Opfer des Raubüberfalls weit mehr als durchschnittlich
psychisch belastet sei. Von einem massiv beeinträchtigten Vorzustand war jedoch
nicht auszugehen. Dafür bestehen nach Lage der Akten im vorliegenden Fall
ebenfalls keine Anhaltspunkte. Aber auch die lange Leidensgeschichte, die bei
der Kioskverkäuferin im Zeitpunkt des Ereignisses aus anderen Gründen bereits
bestand, liess ihre Reaktion auf den Überfall nicht als adäquat einstufen.
Vielmehr erwog das Bundesgericht, dass der Unfallversicherer der besonderen
Situation mit der Ausrichtung von Versicherungsleistungen während mehr als drei
Jahren in ausgeprägtem Masse Rechnung getragen habe. Entscheidend war die
allgemeine Erfahrung, dass ein Opfer ein solches Erlebnis in der Regel mit
fortlaufender Zeit überwinde, insbesondere wenn weder es selbst noch eine
Drittperson erhebliche körperliche Schäden erlitten habe und das
Schreckerlebnis nur von relativ kurzer Dauer war. Der Vorfall war deshalb auch
unter Berücksichtigung der überdurchschnittlichen psychischen Belastung nicht
als derart aussergewöhnlich zu qualifizieren, dass die Adäquanz ausnahmsweise
hätte bejaht werden müssen (Urteil 8C_266/2013 vom 4. Juni 2013 E. 3.2.2). Wie
bereits ausgeführt (E. 4.2), sind auch beim hier zu beurteilenden Raubüberfall
keine besonderen Umstände ersichtlich, die ein Abweichen von dieser allgemeinen
Erfahrung rechtfertigen würden. Es besteht deshalb auch kein Anlass für weitere
Abklärungen des psychischen Gesundheitszustandes.

4.4. Zusammengefasst kann die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte
psychische Störung und die über den 31. Dezember 2013 hinausgehende
Erwerbsunfähigkeit mit Verwaltung und Vorinstanz nicht mehr als angemessene und
typische Reaktion auf den im Dezember 2009 erlittenen Raubüberfall bezeichnet
werden. Damit entfällt eine Leistungspflicht der SUVA ab dem 1. Januar 2014.

5. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden der
unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in
Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege (im Sinne
der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen
Verbeiständung, Art. 64 Abs. 1 und Abs. 2 BGG) kann gewährt werden, weil die
Bedürftigkeit aktenkundig ist. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4
BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse
Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und
Rechtsanwalt Luca Barmettler wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.

3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes
vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.

4. 
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse
eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.

5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 29. Februar 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Durizzo

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