Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.256/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_256/2016

Urteil vom 22. Juli 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Ursprung, Frésard,
Gerichtsschreiber Grunder.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Michael Bütikofer,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Hilfsmittel),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 16. Februar 2016.

Sachverhalt:

A. 
Der 1978 geborene A.________ schlug am 5. Juli 2000 nach einem Sprung in das
Bassin eines Hallenbades den Kopf am Beckenboden auf, wobei er eine
Luxationsfraktur des Halswirbelkörpers 6 mit inkompletter Tetraplegie sub C6
und sensomotorisch kompletter Tetraplegie sub Brustwirbelkörper Th3 erlitt
(vgl. unter anderem den Bericht der Klinik B.________ vom 1. September 2000).
Die Invalidenversicherung erbrachte deswegen verschiedene Leistungen. Am 10.
Juni 2014 informierte der Versicherte die IV-Stelle des Kantons Aargau, sein
altes Auto sein nicht mehr fahrtauglich, weshalb er um Übernahme der
behinderungsbedingten Anpassungen an dem neu angeschafften Mercedes Benz E 220
CDI T-Modell ersuche. Die Verwaltung holte unter anderem die fachtechnische
Beurteilung des SAHB Hilfsmittel-Zentrums vom 20. August 2014 ein. Nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren eröffnete sie dem Versicherten mit
Verfügung vom 16. Juli 2015, sie übernehme die Kosten für invaliditätsbedingte
Änderungen am gekauften Fahrzeug von Fr. 48'968.45 und leiste zudem für das
Automatikgetriebe einen Beitrag von Fr. 1'300.- sowie für das
invaliditätsbedingt notwendige Zubehör ab Werk von Fr. 4'225.-.

B. 
In teilweiser Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde änderte das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Verfügung vom 16. Juli 2015
dahingehend ab, als es A.________ für das automatische Getriebe "7G-TONIC PLUS"
einen Beitrag in Höhe der Anschaffungskosten von EUR 2'150.- zusprach; im
Übrigen wies es das eingelegte Rechtsmittel ab (Entscheid vom 16. Februar
2016).

C. 
Mit Beschwerde lässt A.________ beantragen, ihm sei in Abänderung des
vorinstanzliches Entscheids und der Verfügung vom 16. Juli 2015 ein
Kostenbeitrag für die Lederausstattung "Lugano" in Höhe von EUR 1'730.- und für
die Standheizung von EUR 1'370.- zuzusprechen; eventualiter sei die Sache an
die IV-Stelle zurückzuweisen, verbunden mit der Anordnung, eine neue Verfügung
zu erlassen.
Das Bundesgericht führt keinen Schriftenwechsel durch.

Erwägungen:

1.

1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter
anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die
Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend
sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den
Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1
BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen
berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).

1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1
BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten
Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine
Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann
sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung
abweisen (BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht,
unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art.
42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die
rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1
S. 254).

2.

2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht zu Recht einen
Anspruch auf Kostenübernahme für die Standheizung sowie die Lederausstattung
"Lugano" des vom Beschwerdeführer gekauften Fahrzeugs verneint hat. Dabei
handelt es sich um Rechtsfragen, die das Bundesgerichts frei prüft (Art. 95
BGG).

2.2.

2.2.1. Das kantonale Gericht hat die Rechtsgrundlagen für den Anspruch auf
Hilfsmittel (Art. 21 Abs. 1 IVG und Art. 14 IVV in Verbindung mit Art. 2 Abs. 4
HVI) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.2.2. Auch im Bereich der Hilfsmittel ist die Invalidenversicherung keine
umfassende Versicherung, welche sämtliche durch die Invalidität verursachten
Kosten abdeckt. Das Gesetz will die Eingliederung lediglich soweit
sicherstellen, als diese im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist und
zudem der voraussichtliche Erfolg der Eingliederungsmassnahme in einem
vernünftigen Verhältnis zu ihren Kosten steht (Art. 8 Abs. 1 IVG; BGE 134 V 105
E. 3 S. 107 f. mit Hinweisen). Für den Umfang des Anspruchs auf Abänderungen an
Motorfahrzeugen ist entscheidend, ob die behinderungsbedingt notwendige
Anpassung im Vordergrund steht, ob die Vorkehr zur Erreichung eines in Art. 21
Abs. 1 und 2 IVG umschriebenen Zwecks während längerer Zeit notwendig ist und
ob die Erfordernisse der Einfachheit und Zweckmässigkeit des Hilfsmittels
gegeben sind. Gemäss Ziffer 10 HVI-Anhang haben Versicherte, die
voraussichtlich dauernd eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit ausüben und zur
Überwindung des Arbeitsweges auf ein persönliches Motorfahrzeug angewiesen
sind, Anspruch auf Motor- und Invalidenfahrzeuge. Ziffer 10.05 HVI-Anhang, der
invaliditätsbedingte Abänderungen von Motorfahrzeugen erwähnt, enthält keinen
Stern (*). Eine erwerbliche Ausrichtung ist somit für einen diesbezüglichen
Anspruch nicht vorausgesetzt, sondern es genügt, dass eine Abänderung für die
Fortbewegung, die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder die Selbstsorge
notwendig ist (vgl. unter anderem Urteil I 829/05 vom 16. August 2006 E. 2 mit
Hinweisen und E. 3.3.1).

3.

3.1.

3.1.1. Das kantonale Gericht hat erwogen, nach der Rechtsprechung (vgl. Urteile
9C_314/2014 vom 7. November 2014 E. 6, I 829/05 vom 16. August 2006 E. 3.3.2 f.
und I 589/03 vom 11. Dezember 2003 E. 3.2) könnten Vereisung und Beschlag an
den Scheiben grundsätzlich auch mit der Standardheizung des Fahrzeugs entfernt
werden. Eine wesentliche Erleichterung durch eine Standheizung, welche die
Finanzierung dieser kostspieligen Zusatzausrüstung durch die
Invalidenversicherung als verhältnismässig erscheinen liesse, sei nicht
gegeben. Vielmehr sei es der versicherten Person im Rahmen ihrer
Schadenminderungspflicht zumutbar, den mit der alleinigen Verwendung der
Standardheizung verbundenen zeitlichen Mehraufwand zu erbringen. Dabei sei
einer allfälligen Unterkühlung des Körpers mit geeigneter Kleidung vorzubeugen.
Diese Grundsätze gälten auch dann, wenn die versicherte Person nicht mehr in
der Lage sein sollte, beschlagene Scheiben vom Rollstuhl aus zu säubern, und
wenn ihr - aufgrund der inkompletten Tetraplegie - das Ausharren im kalten
Fahrzeug während der Zeit, welche die Standardheizung für die Enteisung der
Scheiben benötige, weniger zumutbar sei. Dabei sei insbesondere zu beachten,
dass es in den hiesigen Breitengraden auch im Winter äusserst selten zu einer
Vereisung der Fahrzeugscheiben während eines Arbeitstages komme. Leichten
Fällen könne mit der Standardheizung begegnet werden, den sehr seltenen Fällen
starker Vereisung mit zu erwartender Hilfe von Drittpersonen wie
Arbeitskollegen.

3.1.2. Im Lichte dieser Grundsätze hat die Vorinstanz erkannt, zwar verfüge der
Versicherte weder an seinem Wohn- noch am Arbeitsort über einen geschützten
Parkplatz. Indes sei es angesichts des ausgesprochenen Ausnahmecharakters von
schweren Vereisungen dem Versicherten zumutbar, den leicht erhöhten Aufwand
durch die Benutzung der Standardheizung in Kauf zu nehmen. Im Übrigen werde er
in Fällen schwerer Vereisung ohnehin auf Dritthilfe angewiesen sein, weil im
Sinne der Betriebssicherheit auch die Scheinwerfer sowie bei Schneefall das
Dach freigeräumt werden müssten, was auch durch eine Standheizung nicht zu
bewerkstelligen sei.

3.2. Was der Beschwerdeführer vorbringt, dringt nicht durch. Entgegen seiner
Auffassung hat die Vorinstanz mit Blick auf die von ihr dargelegte Gesetzeslage
auch dem Umstand Rechnung getragen, dass er auf das Führen eines Fahrzeugs
unter anderem auch für die Fortbewegung, die Herstellung des Kontaktes mit der
Umwelt oder für die Selbstsorge angewiesen ist (vgl. Art. 21. Abs. 2 IVG). Im
Übrigen ist nicht einzusehen, dass er sich im Winter ausschliesslich mit dem
Auto und nicht auch mit dem Rollstuhl im Freien fortbewegt, in letztem Fall er
sich ebenfalls wegen der Temperaturregulationsstörung mit geeigneter Kleidung
gegen die Kälte schützen muss. Schliesslich ist darauf hinzuweisen, dass auf
dem Markt Enteiserprodukte angeboten werden, die das mechanische Abkratzen von
Eis an den Scheiben überflüssig machen.

4.

4.1. Weiter hat das kantonale Gericht erwogen, die Lederausstattung "Lugano"
umfasse den gesamten Innenraum des Fahrzeugs und nicht nur den Fahrersitz,
weshalb schon aus diesem Grund keine einfache und zweckmässige Abänderung des
gekauften Mercedes vorliege. Sodann sei nicht erstellt und auch nicht
nachvollziehbar, dass deutlich kostengünstigere andere Sitzstoffe weniger
robust seien als Leder und zudem den Transfer vom Rollstuhl in das und aus dem
Auto vergleichsweise schwieriger machten. Schliesslich sei zwar davon
auszugehen, dass der Fahrzeugsitz wegen der bestehenden Blasen- und
Darmfunktionsstörung verschmutzt werden könne, dem Versicherten sei indes
zuzumuten, Schonbezüge zu verwenden.

4.2.

4.2.1. Den Vorbringen des Beschwerdeführers ist zunächst zu entgegnen, dass
nicht einzusehen ist, weshalb er sich häufig auch auf dem Beifahrersitz oder
gar im Fonds seines Autos aufhalten sollte, zumal nicht behinderte Personen mit
der Bedienung des an seine Beeinträchtigungen angepassten Fahrzeugs nicht
vertraut sein und daher ablehnen dürften, dieses zu lenken. Sodann mag
zutreffen, dass die Invalidenversicherung für die Kosten der Lederausstattung
im früheren Auto aufgekommen war, indessen legt der Beschwerdeführer nicht dar,
welche Gründe dafür sprachen. In diesem Zusammenhang ist die Erwägung des
kantonalen Gerichts, die Lederausstattung "Lugano" sei hinsichtlich der
Temperaturfunktionsstörung auch deshalb nicht einfach und zweckmässig, weil
Leder grösseren Schwankungen hinsichtlich der Oberflächentemperatur unterworfen
sei als andere Stoffe, nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer macht denn
hiezu auch einzig geltend, er habe keine kühlende Sitzbelüftung für die
Sommermonate einbauen lassen, weil das Leder hätte perforiert werden müssen,
was wegen der zu erwartenden Verschmutzung aufgrund seiner Harn- und
Darminkontinenz nicht vernünftig gewesen wäre. Damit bestätigt der
Beschwerdeführer zumindest implizit die Auffassung des kantonalen Gerichts.

4.2.2. Erstmals im bundesgerichtlichen Verfahren macht der Beschwerdeführer
geltend, durch das ständige Sitzen im Rollstuhl seien die Belastungen im
Bereich des Gesässes und der seitlichen Oberschenkel immens, weshalb das
Risiko, dass Para- und Tetraplegiker mit Durchblutungsstörungen an einem
Dekubitus bzw. an Dekubitalulzera (Druckgeschwüren) erkrankten, gross sei. Da
das Bundesgericht seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten
Sachverhalt zugrunde legt, wird die Zulässigkeit neuer rechtlicher
Argumentation grundsätzlich an die Voraussetzung geknüpft, dass sie sich auf
einen im angefochtenen Entscheid festgestellten Sachverhalt oder auf (damals)
aktenkundige Tatsachen stützt. An diesen Vorgaben fehlt es hier.

5. 
Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer als unterliegender Partei
aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 22. Juli 2016
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Grunder

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