Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.212/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]     
{T 0/2}
                   
8C_212/2016

Urteil vom 8. August 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Gerichtsschreiberin Polla.

Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Estermann,
Beschwerdeführer,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 17. Februar 2016.

Sachverhalt:

A. 
Der 1959 geborene A.________ war als Betriebsmitarbeiter bei der B.________ AG
angestellt. Am 30. Juni 2007 erlitt er auf der Autobahn zwischen Venedig und
Triest einen Selbstunfall und zog sich Frakturen im Gesichts- und
Brustbeinbereich zu. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) kam
für die Folgen des Unfalls auf. Am 28. März 2008 meldete sich A.________ bei
der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons
Aargau tätigte medizinische sowie berufliche Abklärungen und verneinte mit
Verfügung vom 24. April 2013 einen Rentenanspruch. In teilweiser Gutheissung
der dagegen geführten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau die Verfügung auf und wies die Sache zu weiteren Abklärungen an die
IV-Stelle zurück (Entscheid vom 18. März 2014). In der Folge veranlasste die
Verwaltung ein psychiatrisches Gutachten bei Dr. med. C.________, Facharzt für
Psychiatrie und Psychotherapie (Gutachten vom 23. Juni 2014). Am 4. Mai 2015
verneinte die IV-Stelle erneut einen Rentenanspruch.

B. 
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht
das Kantons Aargau mit Entscheid vom 17. Februar 2016 ab

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________
beantragen, es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben und die Sache zur
erneuten Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen, eventualiter sei ihm
mindestens eine Viertelsrente ab dem 1. Juni 2008 zuzusprechen.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Hinsichtlich der
Verletzung von Grundrechten gilt eine qualifizierte Rügepflicht (Art. 106 Abs.
2 BGG; zum Ganzen: BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280 f. mit Hinweisen).
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer ab 1. Juni 2008 Anspruch
auf eine Invalidenrente hat, wobei insbesondere in Frage steht, ob der
medizinische Sachverhalt rechtsgenüglich abgeklärt ist.

2.1. Die Vorinstanz hat dem von der IV-Stelle eingeholten Gutachten des Dr.
med. C.________ vom 23. Juni 2014 vollen Beweiswert zugesprochen, ist jedoch
von dessen Schätzung der Arbeitsunfähigkeit von 50 % - aufgrund der
diagnostizierten psychischen Leiden - abgewichen. Gestützt auf die
Rechtsprechung zu den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen und damit
vergleichbaren psychosomatischen Leiden (BGE 141 V 281) verneinte die
Vorinstanz einen invalidisierenden Gesundheitsschaden, da Ausschlussgründe (BGE
141 V 281 E. 2.2.2 S. 288) vorlägen.
Die gerügte Gehörsverletzung durch die fehlende Zustellung der Stellungnahme
des RAD-Arztes Dr. med. D.________, Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie, vom 30. April 2015 im Vorbescheidverfahren betrachtete die
Vorinstanz mit Entscheid vom 17. Februar 2016 als geheilt, indem sich der
Beschwerdeführer vorinstanzlich umfassend zu den medizinischen
Abklärungsergebnissen habe äussern können. Das kantonale Gericht nahm weiter
an, es bestehe kein Grund, der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die
Beschwerdegegnerin im Kostenpunkt Rechnung zu tragen.

2.2. Vorweg ist in formell-rechtlicher Hinsicht festzuhalten, dass der
Beschwerdeführer sämtliche erhobenen Einwände vor dem unbestritten mit voller
Kognition entscheidenden kantonalen Gericht vortragen konnte, weshalb dieses
praxisgemäss auf die Heilung einer allfälligen, nicht besonders schwerwiegenden
Gehörsverletzung (BGE 132 I 201 E. 2.2 S. 204 mit Hinweis) schliessen durfte.
Die Einwendungen in der Beschwerde lassen die angenommene Heilung der
Gehörsverletzung nicht als bundesrechtswidrig erscheinen. Wenn der Versicherte
weiter anführt, die Gehörsverletzung hätte bei einer allenfalls zulässigen
Heilung zumindest bei der Kostenverteilung berücksichtigt werden müssen, was
die Vorinstanz in willkürlicher Weise unterlassen habe, kann ihm ebenfalls
nicht gefolgt werden. So legt er nicht dar, dass er vor allem aufgrund des
nicht zugestellten RAD-Berichts des Dr. med. D.________ (vom 30. April 2015)
Beschwerde führte und dass es, wie er einwendet, somit keiner Beschwerde
bedurft hätte, wenn ihm der RAD-Bericht zur Stellungnahme im Rahmen des
Vorbescheidverfahrens zugestellt worden wäre. Mit Blick auf die vor Vorinstanz
und letztinstanzlich vorgebrachten Rügen ist nicht erstellt, dass die
Verletzung des rechtlichen Gehörs die Beschwerdeerhebung wesentlich beeinflusst
und erhebliche (zusätzliche) Kosten verursacht hat. Unter den gegebenen
Umständen hat die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, wenn sie dem
unterliegenden Beschwerdeführer die angefallenen Gerichtskosten in der Höhe von
Fr. 800.- überband.

2.3. Materiell-rechtlich wird geltend gemacht, die psychischen Probleme seien
zumindest teilweise auf das erlittene Schädel-Hirntrauma zurückzuführen,
weshalb diese ein somatisches Substrat hätten und daher die neue
bundesgerichtliche Rechtsprechung zu den psychosomatischen Leiden nicht
anwendbar sei. Die Schlussfolgerung, es liege kein invalidisierender
Gesundheitsschaden vor, sei nicht zulässig, wobei es bundesrechtswidrig sei,
auf die Durchführung eines strukturierten Beweisverfahrens anhand der
Standardindikatoren gemäss BGE 141 V 281 E. 4 S. 296 ff. zu verzichten. Sodann
gehe es nicht an, das psychiatrische Gutachten als schlüssig und beweiskräftig
anzusehen, jedoch die vom Experten attestierte Arbeitsunfähigkeit von 50 %
nicht zu übernehmen. Insgesamt würden sowohl psychische wie auch somatische
Beschwerden vorliegen, weshalb ein Einkommensvergleich vorzunehmen sei.
Schliesslich sei ihm zu Unrecht aufgrund der zumindest in somatischer Hinsicht
erlittenen Verletzungen zwischen dem 1. Juni 2008 (Ablauf des Wartejahres) und
dem 30. März 2009 eine ganz Invalidenrente zugesprochen worden.

3.

3.1. Ausweislich der Akten lag kein Schädel-Hirntrauma mit organischem Substrat
vor, was vor kantonaler Instanz auch nicht vorgetragen wurde. Ebenfalls erst
vor Bundesgericht wird geltend gemacht, dass neben den psychischen auch
somatische Leiden bestünden. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen nur soweit
vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt
(Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 135 V 194). Der vorinstanzliche Verfahrensausgang
allein bildet noch keinen hinreichenden Anlass im Sinne von Art. 99 Abs. 1 BGG
für die Zulässigkeit von unechten Noven, die bereits im kantonalen Verfahren
ohne Weiteres hätten vorgebracht werden können, weshalb sich Weiterungen zu
somatisch bedingten Beschwerden erübrigen. Mit Blick auf das Vorbringen, das
kantonale Gericht hätte aufgrund der somatischen Leiden eine befristete ganze
Rente nach Ablauf des Wartejahres zusprechen müssen, ist einzig festzuhalten,
dass die Vorinstanz bereits in ihrem Entscheid vom 18. März 2014 in
Übereinstimmung mit der IV-Stelle in ihrer Verfügung vom 24. April 2013 hierzu
Feststellungen traf. So hielt sie fest, insbesondere gestützt auf die Angaben
des SUVA-Kreisarztes Dr. med. E.________, Facharzt FMH für Chirurgie vom 11.
Dezember 2007, wonach die erlittenen Frakturen klinisch verheilt seien und
einzig Restbeschwerden bestünden, sei bereits zu diesem Zeitpunkt aus
somatischer Hinsicht in einer leidensangepassten Tätigkeit die Arbeitsfähigkeit
nicht eingeschränkt gewesen. Die Vorinstanz brauchte sich damit im
angefochtenen Entscheid nicht mehr auseinanderzusetzen, zumal dies, wie
dargelegt, vom Beschwerdeführer nicht moniert wurde.

3.2. Die Vorinstanz stützte ihre Würdigung zu Recht auf das Gutachten des Dr.
med. C.________ vom 23. Juni 2014, was auch nicht bestritten ist. Darin wurden
die Diagnosen einer chronifizierten depressiven Entwicklung mit aktuell
leichter bis knapp mittelgradiger depressiver Symptomatik (ICD-10 F32.0/1) und
eine Persönlichkeitsänderung nach Lebensveränderung (ICD-10 F62.8) gestellt
sowie eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % attestiert. Das kantonale Gericht
verneinte rechtsprechungsgemäss eine invalidisierende Wirkung der depressiven
Störung. Leichte bis mittelgradige depressive Störungen fallen - ob
rezidivierend oder episodisch - zum Vornherein nur dann als invalidisierende
Krankheiten in Betracht, wenn sie erwiesenermassen therapieresistent sind
(Urteil 9C_13/2016 vom 14. April 2016 mit Hinweis auf BGE 140 V 193 E. 3.3 S.
197). Von einer Therapieresistenz kann nicht ausgegangen werden, nachdem Dr.
med. C.________ die therapeutischen Möglichkeiten als nicht ausgeschöpft
bezeichnet und ebenfalls - wie bereits Dr. med. F.________, Psychiatrie und
Psychotherapie FMH, in seiner Expertise vom 2. März 2012 - eine Psychotherapie
empfahl.
Die Diagnose der Persönlichkeitsänderung subsumierte die Vorinstanz unter die
Rechtsprechung von BGE 141 V 281 und überprüfte die Einschränkung aus
rechtlicher Sicht. Sie verneinte, ohne Durchführung eines strukturierten
Beweisverfahrens, einen invalidenversicherungsrechtlich relevanten
Gesundheitsschaden. Als Begründung wurde im Wesentlichen auf das hohe
Aktivitätsniveau des Beschwerdeführers verwiesen. Ob damit die
Ausschlusskriterien nach BGE 141 V 281 E. 2.2 erfüllt sind, wie die Vorinstanz
annimmt, kann vorliegend offenbleiben. Denn deutlich wird, dass, gemäss
detaillierten Ausführungen der kantonalen Instanz, keine Einschränkungen auf
das alltägliche Verhalten des Beschwerdeführers auszumachen sind. Zudem
verneinte der Gutachter ganz bzw. teilweise die diagnostischen Kriterien einer
andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, weshalb er lediglich
eine Persönlichkeitsänderung nach Lebensveränderung diagnostizierte, der ein
Bezug zum diagnoseinhärenten Schweregrad eines psychischen Leidens fehlt (vgl.
BGE 142 V 106 E. 4.2 und E. 4.4 S. 109 ff., Urteil 8C_617/2015 vom 20. Mai 2016
E. 4.3.2). Eine rentenbegründende Invalidität setzt auch nach der neuen
Rechtsprechung ein stimmiges Gesamtbild voraus, das auf eine nicht angehbare
funktionelle Behinderung schliessen lässt (BGE 141 V 281 E. 4.4 S. 303), was
sich vorliegend aus den medizinischen Akten nicht ableiten lässt. Das kantonale
Gericht hat ferner zu Recht berücksichtigt, dass der regelmässige Tagesablauf
(vgl. Gutachten vom 23. Juni 2014, S. 9 f.) und das Alltagsverhalten des
Versicherten, das keine schweren invalidisierenden Einschränkungen erkennen
lässt, nicht mit der von Dr. med. C.________ attestierten (50%igen)
Arbeitsunfähigkeit zu vereinbaren sind. Die Arbeitsfähigkeit ist somit -
gestützt auf die gestellten Diagnosen ohne Bezug zum Schweregrad sowie auf das
Aktivitätsniveau des Versicherten - mit dem kantonalen Gericht als nicht
eingeschränkt zu beurteilen, weshalb es korrekterweise dem Versicherten die
Ausübung einer dem Leistungsprofil entsprechenden Tätigkeit vollumfänglich
zumutete. Die Vorinstanz durfte daher, ohne Bundesrecht zu verletzen, auf die
Prüfung der rechtserheblichen Standardindikatoren gemäss BGE 141 V 281 E. 4.1.3
S. 297 f. verzichten. Die Folgen der Beweislosigkeit hat die materiell
beweisbelastete versicherte Person zu tragen (BGE 141 V 281 E. 6 S. 308). Im
Ergebnis hat das kantonale Gericht demnach zu Recht bestätigt, dass der
Beschwerdeführer keinen Rentenanspruch hat.

4. 
Dem Beschwerdeführer werden als unterliegende Partei die Gerichtskosten
auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).

 Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.

3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 8. August 2016
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Die Gerichtsschreiberin: Polla

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