Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Sozialrechtliche Abteilung, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten 8C.203/2016
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Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal

[8frIR2ALAGK1]          
8C_203/2016 {T 0/2}     

Urteil vom 12. August 2016

I. sozialrechtliche Abteilung

Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Gerichtsschreiber Lanz.

Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

 A.A.________,
handelnd durch A.B.________, und diese vertreten durch Spital B._________,
Kinderorthopädie,
Dr. med. C.________,
Beschwerdegegnerin.

Gegenstand
Invalidenversicherung (Medizinische Massnahmen),

Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 26. Januar 2016.

Sachverhalt:

A. 
Die 1999 geborene A.A.________ war vom 2. bis 9. November 2011 im Spital
B._________ hospitalisiert, wo am 4. November 2011 eine Epiphyseolysis capitis
femoris acuta links operativ mit einem Hansson-Pin versorgt und eine
prophylaktische Hüftkopf-Verschraubung rechts, ebenfalls mit einem Hansson-Pin,
vorgenommen wurde. Am 16. November 2011 stürzte A.A.________ und musste erneut
das Spital B._________ aufsuchen. Dort wurde gleichentags eine proximale
Femurfraktur rechts diagnostiziert, der Hansson-Pin entfernt und eine
Osteosynthese mit einer Winkelplatte durchgeführt. Am 21. November 2011 stellte
das Spital B._________ bei der Invalidenversicherung (IV) ein Gesuch um
Kostengutsprache für einen Rehabilitationsaufenthalt. Im November 2011 erfolgte
sodann eine Anmeldung für medizinische Massnahmen der IV. Die IV-Stelle des
Kantons Aargau erteilte am 19. April 2012 Gutsprache für die Kosten der
Epiphyseolysis capitis femoris acuta mit Schraubenosteosynthese beidseits und
postoperativer Physiotherapie vom 2. November 2011 bis 31. Mai 2012. Sie
übernehme aber keine Kosten im Zusammenhang mit der Behandlung der Femurfraktur
und einem allfälligen Reha-Aufenthalt. Mit Verfügung vom 30. Oktober 2013 wies
die IV-Stelle das Gesuch um Kostengutsprache ab 16. November 2011 mit der
Begründung ab, die Behandlung der Femurfraktur inkl. Nachbehandlung könne nicht
als medizinische Massnahme von der IV übernommen werden.

B. 
A.A.________ erhob hiegegen Beschwerde. Das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen hiess diese gut, hob die Verwaltungsverfügung vom 30. Oktober 2013
auf und verpflichtete die IV-Stelle, die mit der Femurfraktur rechts im
Zusammenhang stehenden Kosten vollumfänglich zu übernehmen (Entscheid vom 26.
Januar 2016).

C. 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die
IV-Stelle, in Aufhebung des Entscheids vom 26. Januar 2016 sei ihre Verfügung
vom 30. Oktober 2013 zu bestätigen.

A.A.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde, das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) auf deren Gutheissung.

Erwägungen:

1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen
Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht
wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter
Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1
und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere
rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 138 I 274 E. 1.6 S.
280; vgl. auch BGE 141 V 234 E. 1 S. 236; 140 V 136 E. 1.1 S. 137 f.).

Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die
Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren
Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich
unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht
(Art. 105 Abs. 2 BGG).

2. 
Gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr
Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens
an sich, sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben oder in den
Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit oder die
Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, dauernd und wesentlich zu
verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Nach der
Rechtsprechung sind demnach nur solche Vorkehren von der IV zu übernehmen, die
"nicht auf die Behandlung des Leidens an sich", also nicht auf die Heilung oder
Linderung labilen pathologischen Geschehens gerichtet sind (SVR 2009 IV Nr. 40
S. 116, 9C_729/2008 E. 2.2 mit Hinweisen). Während dies bei Erwachsenen ohne
weiteres gilt, sind nach der Rechtsprechung bei Jugendlichen medizinische
Vorkehren trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der IV zu
übernehmen, wenn ohne diese in absehbarer Zeit eine Heilung mit Defekt oder ein
sonst wie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die
Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt würden (BGE 140 V 246 E. 7.5.1 S.
258; erwähntes Urteil 9C_729/2008 E. 2.2; je mit Hinweisen).

Nach Art. 12 Abs. 2 IVG ist der Bundesrat befugt, die Massnahmen gemäss Absatz
1 von jenen, die auf die Behandlung des Leidens an sich gerichtet sind,
abzugrenzen. Er kann zu diesem Zweck insbesondere die von der Versicherung zu
gewährenden Massnahmen nach Art und Umfang näher umschreiben und Beginn und
Dauer des Anspruchs regeln. Von dieser Befugnis hat der Bundesrat in Art. 2 IVV
Gebrauch gemacht. Weitere Konkretisierungen enthält das Kreisschreiben des BSV
über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung
(KSME).

3. 
Die IV hat die Kosten für die Behandlung der Epiphyseolysis capitis femoris
acuta mit Schraubenosteosynthese beidseits und postoperativer Physiotherapie
vom 2. November 2011 bis 31. Mai 2012 als medizinische Massnahme im Sinne von
Art. 12 IVG übernommen. Streitig und zu prüfen ist, ob sie auch die
Behandlungskosten der am 16. November 2011 erlittenen Femurfraktur als solche
Massnahme zu tragen hat.

Das kantonale Gericht hat dies unter Hinweis auf Rz. 54 KSME bejaht. Die
Beschwerde führende IV-Stelle und das BSV verneinen die Voraussetzungen einer
medizinischen Massnahme. Die Femurfraktur sei Unfallfolge und bei ihrer
Behandlung handle es sich einzig um eine   Behandlung des Leidens ohne
Eingliederungscharakter. Ein Anspruch auf medizinische Massnahmen ergebe sich
auch nicht aus Rz. 54 KSME. Die Versicherte äussert sich dahingehend, die
erlittene Femurfraktur sei Folge der operativen Versorgung der Epiphyseolyse
und ihre Behandlung daher ebenfalls als medizinische Massnahme nach Art. 12 IVG
zu übernehmen.

4.

4.1. Art. 12 IVG bezweckt namentlich, die Aufgabenbereiche der IV, der
Krankenversicherung und der Unfallversicherung gegeneinander abzugrenzen.
Grundsätzlich fällt die Behandlung der Folgen eines Unfalls in erster Linie,
ungeachtet der Dauer des Leidens, in die Zuständigkeit der Unfallversicherung (
BGE 140 V 246 E. 7.5.1 S. 258 mit Hinweis auf Art. 2 Abs. 4 IVV). Unfallfolgen,
die (relativ) stabilisiert sind, können aber Anlass zu medizinischen Massnahmen
im Sinne von Art. 12 IVG geben, sofern kein enger sachlicher und zeitlicher
Zusammenhang mit der Behandlung der Unfallfolgen besteht (BGE 140 V 246 E.
7.5.1 S. 258 mit Hinweisen).

4.2. Die hier zur Diskussion stehende Femurfraktur stellt eine Unfallfolge dar.
Die erfolgte Behandlung steht zweifellos in einem engen sachlichen und
zeitlichen Zusammenhang mit dieser Unfallfolge. Es bestehen keine Anhaltspunkte
dafür, dass die Behandlung der Femurfraktur unmittelbar auf die Eingliederung
gerichtet gewesen wäre. Damit besteht kein Anspruch auf medizinische Massnahmen
nach Art. 12 IVG. Aus Rz. 54 KSME ergibt sich entgegen der vorinstanzlichen
Beurteilung nichts anderes. Namentlich wird weder vom kantonalen Gericht
nachvollziehbar dargelegt noch ist sonstwie ersichtlich, dass die Behandlung
der Femurfraktur im Sinne des KSME erwarten liess, einem später drohenden
stabilen, nur schwer korrigierbaren Defekt vorzubeugen, der sich wesentlich auf
die Erwerbstätigkeit oder Berufsbildung auswirken würde. Würde der Auffassung
der Vorinstanz gefolgt und hier eine medizinische Massnahme zugesprochen,
müsste dies letztlich bei jedem Knochenbruch, den eine versicherte Person vor
der Vollendung des 20. Altersjahrs erleidet, geschehen. Das widerspricht Sinn
und Zweck des Gesetzes, wonach die Eingliederungswirksamkeit einer Behandlung
massgeblich sein soll. Auch was die Versicherte vorbringt, rechtfertigt keine
andere Betrachtungsweise. Ob die Femurfraktur wegen der vorangegangenen
Operation des Grundleidens eingetreten ist und ob sich daraus grundsätzlich ein
Anspruch auf Kostenübernahme aus medizinischer Massnahme ergeben könnte, kann
offen bleiben. Denn hiefür müsste die Femurfraktur resp. ihre Behandlung die
Eingliederungsproblematik aus dem Grundleiden Epiphyseolysis erheblich im Sinne
von Art. 12 IVG beeinflusst haben. Dafür bestehen keine Anhaltspunkte. Die
Beschwerde ist somit gutzuheissen.

5. 
Die Kosten des Verfahrens sind von der unterliegenden Beschwerdegegnerin zu
tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des
Kantons St. Gallen vom 26. Januar 2016 wird aufgehoben und die Verfügung der
IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 30. Oktober 2013 bestätigt.

2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.

3. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an
das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.

4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.

Luzern, 12. August 2016

Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident: Maillard

Der Gerichtsschreiber: Lanz

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